Jazz: Fragen und Empfehlungen

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  • #8043589  | PERMALINK

    bullschuetz

    Registriert seit: 16.12.2008

    Beiträge: 2,216

    gypsy tail windUnd überdies würde ich mich freuen, wenn auch andere Fori sich etwas stärker beteiligen würden – gerne auch mal mit kontroversen Aussagen.

    Okay, wird gemacht, da gewünscht (auch wenn es mir schwer fällt, hier irgendwas Neues einzubringen).

    1. Angeregt von der schon seit längerem hier schwelenden Marsalis-Debatte, habe ich das Interview-Buch „Der Marsalis-Faktor“ gelesen. Was Marsalis und seine Theorie-Gurus Murray und Crouch da absondern, ist dermaßen bizarr, dass ich zunächst mal eher darüber lachen musste, als mich darüber aufregen zu können. Ich hatte bei der Lektüre das Gefühl, dass Marsalis dem HipHop in zumindest einer Hinsicht näher steht, als er zugeben will: Das rhetorische Genre des „Dissens“ hat er ja zu einer echten Kunstform gebracht. Besonders irr: Lester Bowie sei ein derart mieser Trompeter, dass er „nicht einmal in James Browns Band spielen“ könnte. Die Mischung aus Ignoranz und Arroganz, die Marsalis & Co. da an den Tag legen, ist derart comichaft überdreht, dass man es zunächst mal gar nicht ernst nehmen kann. Dass diese Jazzdenkschule in den USA aber phasenweise quasi die Deutungshoheit und exklusiven Zugang zu Fördertöpfen erobert hat, macht das Ganze schon ziemlich bitter. Ich kann die Feindseligkeit von gypsy gegenüber Marsalis‘ kruden Theorien deshalb ausgesprochen gut verstehen.

    2. Über Marsalis‘ Musik habe ich mich hiermit nicht geäußert. Ich kenne mich da nicht aus. Es gibt noch so vieles im Jazz, das ich nicht kenne und entdecken möchte, da muss ich nicht unbedingt mit einem anfangen, der mir unsympathisch ist.

    3. Natürlich ist es schändlich, auf das ß zu verzichten. Das ist aber so ziemlich das Einzige, was ich gegen Deine Beiträge einzuwenden habe, gypsytailwind. Überheblichkeit wäre das allerletzte gewesen, was ich aus Deinen bisherigen Forumsbeiträgen rausgelesen hätte. Ich bitte um viele weitere Inspirationen von Dir. Dass ich mittlerweile recht tief in die Jazzerkundung geraten bin, hat mit Deinem ansteckenden Enthusiasmus zu tun.

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    #8043591  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
    Moderator
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    Registriert seit: 25.01.2010

    Beiträge: 68,119

    Lustig, diese Aussage zu Lester Bowie – ich hab sie noch nie gehört!
    Dass Bowie auch Funk konnte, hat er z.B. mit „Tatas Matoes“ (auf einer frühen Nessa-LP) in etwas über zwei Minuten bewiesen.

    Was Marsalis zu Brown sagt irritiert mich sowieso. Einerseits sagt er dauernd, das sei kein Jazz, und nur Jazzmusiker seien richtige Musiker, alles andere Amateure (die Klassik bestimmt ausgenommen, aber um die geht’s hier ja nicht). Dann sagt er aber auch, wie gut Browns Band war (ist ja klar, sag ich ja auch… aber ich sag nicht, das seien Amateure). Egal, sehr kruder Standpunkt jedenfalls.

    Zum Scharf-S: ich wiederhole: ich bin Schweizer, ich kenne den Buchstaben nicht, habe ihn nicht auf der Tastatur etc. etc. etc. Bitte glaubt mir das doch endlich… ich dachte mit meiner Ortsangabe hätte ich da einen klar-genugen Hinweis gegeben. Bin diese Diskussion jedenfalls leid und sage dazu nichts mehr.

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #157: Benny Golson & Curtis Fuller – 12.11.2024 – 22:00 / #158 – 19.12.2024 – 20:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #8043593  | PERMALINK

    bullschuetz

    Registriert seit: 16.12.2008

    Beiträge: 2,216

    Marsalis empfiehlt Bowie an dieser Stelle noch, „Trompetenunterricht am St. Louis Conservatory zu nehmen“. Und David Murray „bräuchte unbedingt etwas Ausbildung auf seinem Instrument und Unterricht in Harmonik, unbedingt“. Die heutige Avantgarde-Musik habe „kaum das Niveau von Zirkusmusik“. Und dann folgt die Bemerkung, Bowies Brass Fantasy sei „nette Unterhaltung von der ganz leichten Sorte“ und sein Trompetenspiel reiche nichtmal für James Brown.
    All das kann man entweder ernst nehmen (und dann wäre diese Mischung aus Kunst-kommt-von-Können-Muckerleistungsethik, elitaristischer Ausbildungs-Schnöseligkeit, arroganter Ignoranz gegenüber der Avantgarde, herablassendem Unverständnis für die Leistungen James Browns und Respektlosigkeit gegenüber Kollegen kaum auszuhalten) oder man kann drüber lachen und das Ganze als Rhetorik-Battle betrachten, bei der es darum geht, möglichst deftige Punchlines rauszuhauen. Ich neige wie gesagt dazu, darüber zu lachen – aber wirkungsgeschichtlich muss man es wohl ernst nehmen.

    Nachtrag zum scharfen S: Tschuldigung, war bloss ein blöder Witz. Ich habe übrigens deshalb als Versöhnungsangebot an Dich diesen Post komplett ohne den umstrittenen Buchstaben verfasst!

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    #8043595  | PERMALINK

    thelonica

    Registriert seit: 09.12.2007

    Beiträge: 4,157

    bullschuetz
    …Das rhetorische Genre des „Dissens“ hat er ja zu einer echten Kunstform gebracht. Besonders irr: Lester Bowie sei ein derart mieser Trompeter, dass er „nicht einmal in James Browns Band spielen“ könnte. Die Mischung aus Ignoranz und Arroganz, die Marsalis & Co. da an den Tag legen, ist derart comichaft überdreht, dass man es zunächst mal gar nicht ernst nehmen kann.

    Das sollte man auch nicht zu ernst nehmen. Möglicherweise war das nur eine Retourkutsche auf Bowie’s „brain dead“ und diverse andere Sachen die abgelaufen sind. Das Ganze hat so einen bitteren Beigeschmack, weil sich beide Seiten nicht mal im Ansatz kompromissbereit dargestellt haben. Lester Bowie lebt nicht mehr, Marsalis machte Karriere, und eigentlich hatten die beiden mehr Gemeinsamkeiten als mancher vielleicht wahrhaben will. Bowie mit der Brass Fantasy und Wurzeln im R&B auf der einen Seite, Marsalis mit New Orleans-Hintergrund ebenfalls dem R&B/Funk nicht abgeneigt auf der anderen. Das hat wohl einfach nicht gereicht.

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    #8043597  | PERMALINK

    fef

    Registriert seit: 05.04.2010

    Beiträge: 127

    Mein Gott, das sind Dirty Dozens, die medial ausgetragen wurden. Darüber braucht man nicht Jahrzehnte lang nachdenken. Marsalis hat eine Virtuosität und theoretische Kenntnisse, die Bowie nicht hatte. Bowie machte mehr „ländliches Arschtreten“, wie er sagte, aber mit hinreißendem Soul, oft echt kreativ, was Marsalis nicht so hat. Als Bowie irgendwie als Trompetenking dargestellt wurde, musste Marsalis für seine Meisterschaft, die ja gern als altmodisch abgetan wurde, Aufmerksamkeit schaffen. Das tat er mit Provokationen, die heute Vergangenheit sind. – Außerdem: Bei James Brown zu spielen, war gewiss nicht ohne. Weil einer Jazzer ist, macht er so etwas noch lange nicht besser. Und David Murray ist kein Sonny Stitt oder so was. Die alten Meister konnten Dinge, die ihnen nicht so schnell wer nachmacht. Ein paar scharfe Töne ersetzen sowas nicht. – Ich finde Marsalis‘ Art cool und dieses WIE sagt mehr als all das Analysieren von irgendwas provokant Dahergeredetem.

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    #8043599  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
    Moderator
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    Registriert seit: 25.01.2010

    Beiträge: 68,119

    Ich sehe zwar Deinen Standpunkt und kann fast alle Deine Aussagen nachvollziehen, Fef, aber ich bin dennoch – wenig überraschend – in den meisten Punkten ganz anderer Meinung.

    Ich will versuchen, mich kurz zu fassen:

    FefIch mag diese Wendigkeit, Brillanz und den Swing von Marsalis. So etwas ist einfach super. Aber sonst interessiert mich seine Musik nicht, auch nicht die ganze irgendwie „klassisch“ angehauchte Art seiner Jazz-Darbietung. Ich bin in vielem nicht seiner Meinung und sein Jazz-Verständnis schließt auch das aus, was ich an „modernem“ Jazz besonders mag.

    Wenn ich Wendigkeit, Brillanz und Swing hören will, dann gibt’s Dutzende wenn nicht gar Hunderte Musiker, die das verkörpern, und zwar von den 20er Jahren bis in die 50er oder 60er Jahre.

    FefDoch ich schätze Marsalis wegen seines Engagements, seiner scharfen Zunge, seinem Witz, Charme … Er ist authentisch, verkörpert seine Linie überzeugend und meisterhaft und ist ein ausgezeichneter Kommunikator für den Jazz, der eine enorme Sache auf die Beine gestellt hat: Er hat den Jazz in den USA für eine breite bürgerliche Schicht zu einer attraktiven Sache gemacht, vermittelt eine Menge Kenntnis und Verständnis an viele Leute, denen Jazz sonst unbekannt geblieben wäre oder die ihn für ungenießbares Zeug hielten. Ich finde es wichtig, dass der Jazz eine breite Basis hat, dass ein Bewusstsein für die Meister der Tradition aufrechterhalten wird und Jazz als afro-amerikanische Kultur mit Stolz gepflegt wird.

    Wie gesagt: ich kann Deine Haltung nachvollziehen, teile sie aber überhaupt nicht.
    Mein ganz Einwand grundlegender Einwand ist: Der Preis dafür ist schlicht zu hoch. Es ist mir egal, ob „eine breite bürgerliche Schicht“ Jazz hört oder nicht, wenn Jazz dafür erst totzuschlagen ist.

    FefDen Ken-Burns-Film finde ich ausgezeichnet. Er hat in den USA einer riesigen Menge von Fernsehern den Jazz auf wirklich ansprechende und durchaus niveauvolle Weise nahe gebracht. Es ist notwendig und angemessen, dass der Film die avantgardistischen Jazz-Bereiche weglässt, denn so etwas vergrault die Fernseher nur. Das muss man doch seit mindestens einem halben Jahrhundert wissen. Und das Weglassen schadet auch niemandem: Wer sich so weit mit Jazz beschäftigt hat, dass er sich für Cecil Taylor interessieren könnte, wird ihn finden. Er braucht dazu keinen Ken-Burns-Film. Das ist doch ein Witz: Was immer Marsalis auch über so genannte „Free Jazzer“ gesagt hat: Das nimmt doch keinem von ihnen auch nur einen Hörer weg. Und hindert niemanden, sich für „Free Jazz“ zu interessieren. Würde von Avantgarde überhaupt noch wer reden, wenn es Marsalis nicht täte? ;-)

    Ich sehe den Smiley, finde die rhetorische Frage aber nicht lustig, denn es gibt nach wie vor Leute, die sehr engagiert für ihren… nun ja, Minoritäten-Jazz einstehen. Gewisse – darunter übrigens auch ein Wuppertaler Urgestein mit Karl-Marx-Bart – auch mit grossem Humor, verschrobenem Charme und viel Mut zu pointierten Aussagen.
    Den Film von Burns habe ich nie gesehen, nur zufällig mal ein paar Ausschnitte. Was Deine Aussagen zum Free Jazz betrifft: Doch, Marsalis trägt zur weiteren Marginalisierung sehr wohl bei. Er nimmt der Avantgarde vielleicht keine Hörer weg, die sich bereits mit ihr befassen, aber er macht den anderen gewiss keinen Mut, auch mal ausserhalb ihres Gärtchens etwas neues zu hören (was übrigens durchaus gut gelingen kann, wenn man das behutsam vermittelt… ich habe einen Bekannten, der vor ein paar Jahren mit Jazz begann, v.a. auf Ellington, Basie, Lester Young und ähnliches stand, der aber mittlerweile z.B. ein riesiger Fan von Andrew Hill ist, an Sachen wie Coltranes „One Down, One Up“, frühen Cecil Taylor Aufnahmen oder auch Albert Aylers „Spiritual Unity“ mittlerweile grossen Gefallen findet – und ich hätte das nie gedacht, ich habe ihm nur hin und wieder etwas erzählt über diese Musiker, habe ihn nie übermässig draufhin bearbeitet, er solle doch mal was von ihnen hören, das hat sich im Gegenteil aus seiner geweckten Neugierde ganz von selbst und ganz ohne aktive Mithilfe meinerseits ergeben).

    FefDie allermeisten „Klassik“-Fans stehen auf Beethoven, Mozart, Bach usw. und mögen keine „Moderne“. Die „Moderne“ ist ein kleiner Bereich mit einem speziellen Publikum. Der „klassische“ Bereich und die „Moderne“ bestehen nebeneinander und haben am Rande gewisse Überschneidungen, die für den „modernen“ Bereich förderlich sind. – Was sollte es für einen Sinn machen, Besuchern der Bregenzer Festspiele einreden zu wollen, sie sollten gefälligst „modern“, „zeitgemäß“, „progressiv“ sein und Stockhausen hören?

    Im Jazz hat man eine Menge Leute damit vergrault und damit die ökonomische Basis und die Akzeptanz des Jazz verschlechtert. Die meisten Leute glauben, modernen Jazz zu hören, sei eine Qual. Marsalis machte genau das Richtige: Er distanzierte sich konsequent von allem, was für das breite Publikum ungenießbar ist und bereitet den Leuten ein Jazz-Erlebnis, das sie genießen können. Amiri Baracke, der vielleicht bedeutendste Fürsprecher der Avantgarde in den USA der 1960er und 70er Jahre, sagte schließlich, er gehe lieber in ein Marsalis-Konzert. Ist so!

    Erstens: Was Du hier vertrittst sind sehr populistische Meinungen (die sind auch oben im Absatz zu Burns schon da). So weit so gut, aber Du erwartest bestimmt nicht, dass Dir hier alle folgen! Hier wieder: von einem grossen Kommunikator und Vermittler (als den Du Marsalis darstellst) erwarte ich nicht, dass er Bekanntes (Avantgarde vergrault Euch, hört Mainstream) runterleiert, sondern eben auch mal einen Aufruf, abseits bekannter Pfade zu gehen (das kann auch heissen: „Hört Jimmie Lunceford!“ – es muss nicht nur um die Avantgarde gehen, aber was den zeitgenössischen Jazz betrifft und auch die letzten vier Jahrzehnte, kommt man um den Free Jazz einfach nicht herum).
    Zweitens: Die ökonomische Basis des Jazz haben bestimmt nicht die Avantgarde-Musiker verschlechtert! Das war der Wandel der Zeiten, die Tatsache, dass Jazz als Pop-Musik seit dem Bebop am Absinken war, nach der British invasion ging das erst recht los… Jazzclubs wurden geschlossen oder in Rockclubs umgewandelt etc. etc. Die Avantgarde hat daran wirklich keinen Anteil, sie spielte mit wenigen Ausnahmen (das Half Note etwa) von Anbeginn nur an randständigen Spielorten und in zwielichtigen Clubs (wie etwa das Slug’s, in dem auch Leute wie Kenny Dorham oder Lee Morgan auftraten, und wo letztgenannter erschossen wurde).
    Drittens: Amiri Baraka, bitte!

    FefDer Ärger über Marsalis kommt von einer Realität, die anzuerkennen man sich zu lange geweigert hat: Die echt schwierigen Bereiche des Jazz sind kaum lebensfähig. „Free Jazz“ kann auf Unis und Konservatorien überleben – sonst nur unter deprimierenden Umständen, mit denen sich kaum jemand abfinden kann. Neuere Strömungen, die nicht „free“ sind, aber komplex, kommen auch kaum über die Runden. Man kann allen Leute, die nicht die Musik mögen, zu der man selbst gefunden hat, vorwerfen, sie seien ungebildet, dumm, ignorant, konsumsüchtig, rückständig, verständnislos, seelenlos … Es macht die Dinge nicht besser! Es gab schon lange, bevor laut Jazz-Literatur die große Unübersichtlichkeit ausbrach, sehr unterschiedliche Linien, eine Menge Konkurrenz, viel zu wenige Hörer für viel zu viele Musiker, viel Streit … Es ist ein reichhaltiger Markt mit prächtigen Wahlmöglichkeiten!

    Blödsinn. Die Free Jazzer wissen seit sie mit ihrer Musik begonnen haben, dass sie ökonomisch kaum lebensfähig und gesellschaftlich eine randständige Erscheinung sind. Auf Unis und Konservatorien findest Du wohl so wenig Free Jazz wie nirgends sonst… (nun gut, vielleicht befassen sich Musik-Ethnologen hie und da damit?)
    Um den Vorwurf der Dummheit geht es nicht. Es kann aber auch nicht sein, dass man im Vornherein alles, was „schwierig“ scheint, abschreibt. Das ist dann wieder die Marsalis-Ideologie, mit der das „Volk“ bewusst klein und dummgehalten werden soll. Das stösst mir auf und ich rufe daher mit dem Königsberger Professoren in die Runde: Sapere aude!

    FefÜbrigens: Marsalis‘ Buch „Jazz, mein Leben“ ist „das reinste Lesevergnügen, ein sehr persönliches und tiefgründiges Buch über Musik“ – das sagte Toni Morrison, eine wissende Frau! Man muss nicht das Buch durchchecken und bei allem, was nicht dem eigenen Jazz-Verständnis entspricht, laut aufheulen. Er hat seine Sicht und die ist in einem tiefgehenden und sehr positiven Spirit verwurzelt. – Als er jünger war, mag er zu provokant und verletzend gewesen sein. Aber das sind eben alles extreme Kämpfer. Und wenn man sich selbst gerne Gedanken macht, dann sind andere Meinungen nicht bedrohlich, sondern anregend. Und was die Logik anbelangt: Ich finde, Musiker-Aussagen muss man oft mehr gefühlsmäßig verstehen. Eine zu analytische Sicht verwirrt einen da oft nur.

    Nein, man muss in der Tat nicht bei jeder abweichenden Meinung laut aufheulen, aber bei Marsalis steht der Fall nun etwas anders (die Gründe dafür habe ich oben in Reaktion auf ferry schon kurz dargelegt).

    bullschuetzNachtrag zum scharfen S: Tschuldigung, war bloss ein blöder Witz. Ich habe übrigens deshalb als Versöhnungsangebot an Dich diesen Post komplett ohne den umstrittenen Buchstaben verfasst!

    Danke für die weiteren Zitate von Marsalis‘ Aussagen zu Bowie und Murray – sehr lustig!

    Ein Versöhnungsangebot war gar nicht notwendig! Und die Feinheit mit dem fehlenden scharfen S hab ich natürlich übersehen, weil ich das schlicht nicht anders als ein „ss“ wahrnehme und es mir nicht auffällt, entschuldige.

    @fef, nochmal: ich kann hier auch polemisch cool rumpupsen, aber dann kommt nur wieder jemand und zieht mir eins über… darum versuche ich, meinen Standpunkt zu erläutern, auch wenn das meist nicht so cool und pointiert geht, wie Marsalis, wenn er mit dem Zweihänder ausholt…

    Aber die Stiche gegen Bowie und Murray sind eben doch interessant, denn sie beiden stehen ebenfalls für einen traditionalistischen Zugang zum Jazz und einen traditionsbewussten Umgang damit in ihrer eigenen Musik. Doch sie sind eben beide auch gute Beispiele dafür, wie man das tun kann und den Jazz dennoch am Leben erhalten, ihm neue Impulse geben kann.

    Vergleiche wie jene von Stitt und Murray bringen nicht viel – auch wenn ich Deiner folgenden Aussage natürlich zustimme: „Die alten Meister konnten Dinge, die ihnen nicht so schnell wer nachmacht.“

    Der Vergleich von Bowie, Marsalis und den James Brown Musikern führt noch weniger weit… die besten Musiker in Browns Band, jene, die Arrangements schrieben/erfanden, Impulse gaben, aufregende Soli beisteuerten, waren allerdings meist jene, die auch einen Background als Jazzer hatten: Nat Jones, Pee Wee Ellis, Maceo Parker, Fred Wesley. Aber unabhängig davon, wenn Du sagst: „Bowie [war] oft echt kreativ, was Marsalis nicht so hat.“ – dann ist das für mich eben der springende Punkt, denn am Ende geht’s im Jazz um Kreativität – ob man dahin findet über einen echten oder vermeintlich naiven Zugang (die Diskussion im Free Jazz-Thread läuft ja schon seit einiger Zeit ziemlich parallel zu jener hier) oder über ausführliche Analysen und Studien ist am Ende nebensächlich, ob man das Kreative in sich selbst findet oder über die Auseinandersetzung mit Vorangegangenem, auch das ist nicht zentral. Im Mittelpunkt steht immer das Ergebnis, die Musik. Und da hat Lester Bowie eben unendlich viel mehr zu bieten als es Marsalis je haben wird.

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    #8043601  | PERMALINK

    fef

    Registriert seit: 05.04.2010

    Beiträge: 127

    gypsy tail wind… da hat Lester Bowie eben unendlich viel mehr zu bieten als es Marsalis je haben wird.

    Man tut sich als Hörer leicht mit Sounds: Wenn einer „lyrisch“ klingt, spüren wir es irgendwo zwischen Herz und Hoden; wenn einer scharf in die Knochen fährt, jubeln wir: wow. Darin liegt die starke Wirkung der Avantgarde, die nicht zuletzt sehr oft auch eine besondere Nähe zur Theatralik hat. – Aber dann gibt es noch eine andere, schwieriger zu hörende Sache: die Kunst der melodisch-rhythmischen Linien; und das ist eine schwache Seite der Avantgarde. Da gibst es etwa gegenüber der Kunst von Charlie Parker in DIESER Hinsicht viel Erbärmliches zu hören. Wenn jemand mit einem relativ neutralen, hübschen Ton spielt, denken Hörer oft: nichts Neues, altmodisch. Erst recht, wenn keine schrägen Harmonien gespielt werden. Was der Musiker dabei aber vielleicht an faszinierend gestalteten Linien mit wunderbaren rhythmischen Bewegungen spielt, das ist nicht so leicht mitzuvollziehen. Und das ist ein entscheidender Punkt, wo die Jazz-Entwicklung längst über das Stadium, in dem die Avantgarde als der Gipfel alles Bisherigen betrachtet wurde, hinausging und die Vorstellung von Fortschritt und damit auch von „Avantgarde“ (Vorausreiter) überholt hat. – Ich kenne 3, 4 Stücke, in denen ich Lester Bowies Spiel schätze. Ich hab nach mehr gesucht, aber nichts gefunden. Und wenn es um Linien geht, dann war Bowies Spiel stets absolut simpel – etwa im Vergleich zu Roy Hargrove im folgenden Video (da klingt nichts schräg, nichts besonders neu, aber man braucht nur das Strahlen in den Gesichtern der zusehenden Musiker wahrnehmen: die erkennen die große Kunst; und das ist kreativ, mit äußerster Leidenschaft gelebter Ausdruck, auch wenn es kein bisschen nach schwer erträglicher Kunst klingt. Ich höre Hargrove sehr selten, aber bei diesem Solo beginnt jedes Teil meines Körpers zu tanzen. Gegenüber diesem Gefühl von körperlicher und geistiger Beweglichkeit lass ich jedes Spiel mit eindrucksvollen Klängen stehen. Von diesen Dingen redet meines Erachtens Marsalis):
    http://www.youtube.com/watch?v=p8fIBUMvY0o

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    #8043603  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Gut, Du magst Bowie nicht… bei Bowie geht es aber, wie Du ja sagst, auch um anderes als lyrische-melodische Linien, die sich besonders schön oder raffiniert in ihre musikalische Umgebung einfügen.

    Wenn ich sowas hören will, dann greife ich aber niemals zu Roy Hargrove sondern zu Dizzy Gillespie, Thad Jones, Kenny Dorham, Art Farmer, Fats Navarro, Clifford Brown, Miles Davis… oder auch zu Buck Clayton, Roy Eldridge, Harry Edison…

    Dass in diesem Punkt die Avantgarde „überholt“ ist, glaube ich nicht. Ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass die Young Lions und ihre Nachfahren in Sachen Bop viel Neues herausgefunden haben, was Parker, Gillespie, Bud Powell und all die anderen nicht auch schon gespielt haben. Der Vorteil bleibt dann, dass die Young Lions nicht tot sind… aber das reicht mir nicht.

    Ganz so polemisch ist das jetzt eigentlich nicht gemeint, auch ich kann mich hie und da an gut gemachtem Mainstream Jazz erfreuen, auch ich habe ein paar CDs von Leuten wie Javon Jackson, Mark Turner, Branford Marsalis, Sherman Irby und ja, auch von Joshua Redman. Aber ich greife sehr selten zu dieser Musik… und das ist auch der hauptsächliche Grund, weshalb ich wenig Verwendung für Wynton Marsalis‘ Musik habe.

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    #8043605  | PERMALINK

    fef

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    Beiträge: 127

    gypsy tail wind… ich greife sehr selten zu dieser Musik… und das ist auch der hauptsächliche Grund, weshalb ich wenig Verwendung für Wynton Marsalis‘ Musik habe.

    Ja, genau so geht es mir auch. – Ich sehe die Weiterentwicklung keineswegs beim Marsalis Kreis, allerdings sehr wohl bei viel mehr Struktur und bei Linien statt „Freiheit“ und Klangfarbe.

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    #8043607  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    FefJa, genau so geht es mir auch. – Ich sehe die Weiterentwicklung keineswegs beim Marsalis Kreis, allerdings sehr wohl bei viel mehr Struktur und bei Linien statt „Freiheit“ und Klangfarbe.

    Ach so, alles klar! :-)

    Allerdings sehe ich doch niemanden in der Gegenwart, der in Sachen Struktur und Linien den „alten Meistern“ überlegen wäre. Wen schätzt Du denn besonders?

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    #8043609  | PERMALINK

    newk

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    bullschuetzMarsalis empfiehlt Bowie an dieser Stelle noch, „Trompetenunterricht am St. Louis Conservatory zu nehmen“. Und David Murray „bräuchte unbedingt etwas Ausbildung auf seinem Instrument und Unterricht in Harmonik, unbedingt“.

    Was Marsalis hier über Murray sagt mag vielleicht etwas herablassend sein, stimmt aber doch im Kern. Im Grunde ist es ja noch schlimmer, auch rhythmisch spielt Murray ja eher ideenlos.
    Da Gypsy ihn eben als positives Beispiel erwähnte stelle ich mir sowieso die Frage was für „neue Impulse“ er gegegeben haben soll. Ist seine Musik nicht genau so konservativ, altbacken und leidenschaftlos wie die der Young Lions?
    Gut, bei Murray gibt es ein paar Anklänge an Ayler, für Marsalis stellt halt das zweite Miles Davis Quintett das Maximum an genehmigter „Freiheit“ dar.
    Ich verlange natürlich nicht von jedem Musiker die Kunst zu revolutionieren, aber dass man auch im 21. Jahrhundert noch als Avantgarde gilt wenn man ab und an ein bisschen in den hohen Lagen rumquietscht ist doch albern.

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    #8043611  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Registriert seit: 25.01.2010

    Beiträge: 68,119

    Murray ist bestimmt kein Revolutionär, und er hat gewisse technische Schwächen (wie Du sagst, am deutlichsten, was den Rhythmus betrifft) – aber leidenschaftslos ist sein Spiel nun wirklich nicht! Glatt und gepflegt (zwei Attribute, die ich den meisten Young Lions gerne zugestehe) ist bei Murray auch nichts, da gibt’s Ecken, Kanten, Kraft und Emotionen. Sein Oktett mag ich sehr gerne, ansonsten gehört er fraglos zu denjenigen Leuten, die massiv zu viel veröffentlicht haben… einen Überblick über sein Werk hab ich mit etwas über einem Dutzend CDs noch lange nicht, aber einiges gefällt mir sehr, sehr gut.

    Dass Murray unter Avantgarde läuft geht wohl auch eher auf Wyntons Kappe als auf meine… man müsste eh längst von „historischer Avantgarde“ reden. Vieles ist von denjenigen Leuten, die noch heute interessante Musik machen (ich liste sie nicht wieder auf, ich komme mir eh schon längst wie eine Gebetsmühle vor) absorbiert und mit anderem, „konventionellerem“ (also Strömungen, die auch in Wyntons enges Jazz-Bild passen) vermischt und zu neuem angerührt worden. Auch diesbezüglich mag Murray nicht besonders viel zu bieten haben… aber andere Leute wie der hier im Forum so verehrte David S. Ware höre ich da auch nicht wesentlich anders.

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    #8043613  | PERMALINK

    newk

    Registriert seit: 09.10.2008

    Beiträge: 428

    Ich wollte ja gerade fragen warum Du David S. Ware so kritisch siehst und Murray goutierst obwohl Du seine Schwächen zur Kenntnis nimmst (über Emotion und Leidenschaft kann man halt schlecht diskutieren, das sehe ich total anders). Was stört Dich denn konkret?

    Zur „Historischen Avantgarde“: Mich nervt es halt etwas, wenn alles was nicht im Nachtprogramm auf 3Sat laufen könnte als Avantgarde oder Free Jazz bezeichnet wird. „Scheinbar“ und „Anscheinend“ darf man aber ruhig verwechseln.;-)

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    #8043615  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Registriert seit: 25.01.2010

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    Ach, ich hab mich zu Ware schon genügend im betreffenden Thread geäussert und stosse hier bei vielen Fori auf ähnliches Unverständnis wie anderen das bei Marsalis und mir ergehen mag. :-)

    Auf 3sat läuft doch nie Avantgarde-Musik? Da läuft JazzBaltica und ähnliches… das avantgardistischste, was ich da bisher sah war wohl Dave Douglas mit einem Elektroniker in der Band oder so… Avantgarde ist das bestimmt nicht, aber immerhin jemand, der einigermassen versucht, seine eigene Stimme zu finden…

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    #8043617  | PERMALINK

    newk

    Registriert seit: 09.10.2008

    Beiträge: 428

    Ich möchte mich ja ungern selbst zitieren, aber ich habe doch geschrieben: „alles was nicht im Nachtprogramm auf 3Sat laufen könnte“.

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