Re: Jazz: Fragen und Empfehlungen

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gypsy-tail-wind
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Ich sehe zwar Deinen Standpunkt und kann fast alle Deine Aussagen nachvollziehen, Fef, aber ich bin dennoch – wenig überraschend – in den meisten Punkten ganz anderer Meinung.

Ich will versuchen, mich kurz zu fassen:

FefIch mag diese Wendigkeit, Brillanz und den Swing von Marsalis. So etwas ist einfach super. Aber sonst interessiert mich seine Musik nicht, auch nicht die ganze irgendwie „klassisch“ angehauchte Art seiner Jazz-Darbietung. Ich bin in vielem nicht seiner Meinung und sein Jazz-Verständnis schließt auch das aus, was ich an „modernem“ Jazz besonders mag.

Wenn ich Wendigkeit, Brillanz und Swing hören will, dann gibt’s Dutzende wenn nicht gar Hunderte Musiker, die das verkörpern, und zwar von den 20er Jahren bis in die 50er oder 60er Jahre.

FefDoch ich schätze Marsalis wegen seines Engagements, seiner scharfen Zunge, seinem Witz, Charme … Er ist authentisch, verkörpert seine Linie überzeugend und meisterhaft und ist ein ausgezeichneter Kommunikator für den Jazz, der eine enorme Sache auf die Beine gestellt hat: Er hat den Jazz in den USA für eine breite bürgerliche Schicht zu einer attraktiven Sache gemacht, vermittelt eine Menge Kenntnis und Verständnis an viele Leute, denen Jazz sonst unbekannt geblieben wäre oder die ihn für ungenießbares Zeug hielten. Ich finde es wichtig, dass der Jazz eine breite Basis hat, dass ein Bewusstsein für die Meister der Tradition aufrechterhalten wird und Jazz als afro-amerikanische Kultur mit Stolz gepflegt wird.

Wie gesagt: ich kann Deine Haltung nachvollziehen, teile sie aber überhaupt nicht.
Mein ganz Einwand grundlegender Einwand ist: Der Preis dafür ist schlicht zu hoch. Es ist mir egal, ob „eine breite bürgerliche Schicht“ Jazz hört oder nicht, wenn Jazz dafür erst totzuschlagen ist.

FefDen Ken-Burns-Film finde ich ausgezeichnet. Er hat in den USA einer riesigen Menge von Fernsehern den Jazz auf wirklich ansprechende und durchaus niveauvolle Weise nahe gebracht. Es ist notwendig und angemessen, dass der Film die avantgardistischen Jazz-Bereiche weglässt, denn so etwas vergrault die Fernseher nur. Das muss man doch seit mindestens einem halben Jahrhundert wissen. Und das Weglassen schadet auch niemandem: Wer sich so weit mit Jazz beschäftigt hat, dass er sich für Cecil Taylor interessieren könnte, wird ihn finden. Er braucht dazu keinen Ken-Burns-Film. Das ist doch ein Witz: Was immer Marsalis auch über so genannte „Free Jazzer“ gesagt hat: Das nimmt doch keinem von ihnen auch nur einen Hörer weg. Und hindert niemanden, sich für „Free Jazz“ zu interessieren. Würde von Avantgarde überhaupt noch wer reden, wenn es Marsalis nicht täte? ;-)

Ich sehe den Smiley, finde die rhetorische Frage aber nicht lustig, denn es gibt nach wie vor Leute, die sehr engagiert für ihren… nun ja, Minoritäten-Jazz einstehen. Gewisse – darunter übrigens auch ein Wuppertaler Urgestein mit Karl-Marx-Bart – auch mit grossem Humor, verschrobenem Charme und viel Mut zu pointierten Aussagen.
Den Film von Burns habe ich nie gesehen, nur zufällig mal ein paar Ausschnitte. Was Deine Aussagen zum Free Jazz betrifft: Doch, Marsalis trägt zur weiteren Marginalisierung sehr wohl bei. Er nimmt der Avantgarde vielleicht keine Hörer weg, die sich bereits mit ihr befassen, aber er macht den anderen gewiss keinen Mut, auch mal ausserhalb ihres Gärtchens etwas neues zu hören (was übrigens durchaus gut gelingen kann, wenn man das behutsam vermittelt… ich habe einen Bekannten, der vor ein paar Jahren mit Jazz begann, v.a. auf Ellington, Basie, Lester Young und ähnliches stand, der aber mittlerweile z.B. ein riesiger Fan von Andrew Hill ist, an Sachen wie Coltranes „One Down, One Up“, frühen Cecil Taylor Aufnahmen oder auch Albert Aylers „Spiritual Unity“ mittlerweile grossen Gefallen findet – und ich hätte das nie gedacht, ich habe ihm nur hin und wieder etwas erzählt über diese Musiker, habe ihn nie übermässig draufhin bearbeitet, er solle doch mal was von ihnen hören, das hat sich im Gegenteil aus seiner geweckten Neugierde ganz von selbst und ganz ohne aktive Mithilfe meinerseits ergeben).

FefDie allermeisten „Klassik“-Fans stehen auf Beethoven, Mozart, Bach usw. und mögen keine „Moderne“. Die „Moderne“ ist ein kleiner Bereich mit einem speziellen Publikum. Der „klassische“ Bereich und die „Moderne“ bestehen nebeneinander und haben am Rande gewisse Überschneidungen, die für den „modernen“ Bereich förderlich sind. – Was sollte es für einen Sinn machen, Besuchern der Bregenzer Festspiele einreden zu wollen, sie sollten gefälligst „modern“, „zeitgemäß“, „progressiv“ sein und Stockhausen hören?

Im Jazz hat man eine Menge Leute damit vergrault und damit die ökonomische Basis und die Akzeptanz des Jazz verschlechtert. Die meisten Leute glauben, modernen Jazz zu hören, sei eine Qual. Marsalis machte genau das Richtige: Er distanzierte sich konsequent von allem, was für das breite Publikum ungenießbar ist und bereitet den Leuten ein Jazz-Erlebnis, das sie genießen können. Amiri Baracke, der vielleicht bedeutendste Fürsprecher der Avantgarde in den USA der 1960er und 70er Jahre, sagte schließlich, er gehe lieber in ein Marsalis-Konzert. Ist so!

Erstens: Was Du hier vertrittst sind sehr populistische Meinungen (die sind auch oben im Absatz zu Burns schon da). So weit so gut, aber Du erwartest bestimmt nicht, dass Dir hier alle folgen! Hier wieder: von einem grossen Kommunikator und Vermittler (als den Du Marsalis darstellst) erwarte ich nicht, dass er Bekanntes (Avantgarde vergrault Euch, hört Mainstream) runterleiert, sondern eben auch mal einen Aufruf, abseits bekannter Pfade zu gehen (das kann auch heissen: „Hört Jimmie Lunceford!“ – es muss nicht nur um die Avantgarde gehen, aber was den zeitgenössischen Jazz betrifft und auch die letzten vier Jahrzehnte, kommt man um den Free Jazz einfach nicht herum).
Zweitens: Die ökonomische Basis des Jazz haben bestimmt nicht die Avantgarde-Musiker verschlechtert! Das war der Wandel der Zeiten, die Tatsache, dass Jazz als Pop-Musik seit dem Bebop am Absinken war, nach der British invasion ging das erst recht los… Jazzclubs wurden geschlossen oder in Rockclubs umgewandelt etc. etc. Die Avantgarde hat daran wirklich keinen Anteil, sie spielte mit wenigen Ausnahmen (das Half Note etwa) von Anbeginn nur an randständigen Spielorten und in zwielichtigen Clubs (wie etwa das Slug’s, in dem auch Leute wie Kenny Dorham oder Lee Morgan auftraten, und wo letztgenannter erschossen wurde).
Drittens: Amiri Baraka, bitte!

FefDer Ärger über Marsalis kommt von einer Realität, die anzuerkennen man sich zu lange geweigert hat: Die echt schwierigen Bereiche des Jazz sind kaum lebensfähig. „Free Jazz“ kann auf Unis und Konservatorien überleben – sonst nur unter deprimierenden Umständen, mit denen sich kaum jemand abfinden kann. Neuere Strömungen, die nicht „free“ sind, aber komplex, kommen auch kaum über die Runden. Man kann allen Leute, die nicht die Musik mögen, zu der man selbst gefunden hat, vorwerfen, sie seien ungebildet, dumm, ignorant, konsumsüchtig, rückständig, verständnislos, seelenlos … Es macht die Dinge nicht besser! Es gab schon lange, bevor laut Jazz-Literatur die große Unübersichtlichkeit ausbrach, sehr unterschiedliche Linien, eine Menge Konkurrenz, viel zu wenige Hörer für viel zu viele Musiker, viel Streit … Es ist ein reichhaltiger Markt mit prächtigen Wahlmöglichkeiten!

Blödsinn. Die Free Jazzer wissen seit sie mit ihrer Musik begonnen haben, dass sie ökonomisch kaum lebensfähig und gesellschaftlich eine randständige Erscheinung sind. Auf Unis und Konservatorien findest Du wohl so wenig Free Jazz wie nirgends sonst… (nun gut, vielleicht befassen sich Musik-Ethnologen hie und da damit?)
Um den Vorwurf der Dummheit geht es nicht. Es kann aber auch nicht sein, dass man im Vornherein alles, was „schwierig“ scheint, abschreibt. Das ist dann wieder die Marsalis-Ideologie, mit der das „Volk“ bewusst klein und dummgehalten werden soll. Das stösst mir auf und ich rufe daher mit dem Königsberger Professoren in die Runde: Sapere aude!

FefÜbrigens: Marsalis‘ Buch „Jazz, mein Leben“ ist „das reinste Lesevergnügen, ein sehr persönliches und tiefgründiges Buch über Musik“ – das sagte Toni Morrison, eine wissende Frau! Man muss nicht das Buch durchchecken und bei allem, was nicht dem eigenen Jazz-Verständnis entspricht, laut aufheulen. Er hat seine Sicht und die ist in einem tiefgehenden und sehr positiven Spirit verwurzelt. – Als er jünger war, mag er zu provokant und verletzend gewesen sein. Aber das sind eben alles extreme Kämpfer. Und wenn man sich selbst gerne Gedanken macht, dann sind andere Meinungen nicht bedrohlich, sondern anregend. Und was die Logik anbelangt: Ich finde, Musiker-Aussagen muss man oft mehr gefühlsmäßig verstehen. Eine zu analytische Sicht verwirrt einen da oft nur.

Nein, man muss in der Tat nicht bei jeder abweichenden Meinung laut aufheulen, aber bei Marsalis steht der Fall nun etwas anders (die Gründe dafür habe ich oben in Reaktion auf ferry schon kurz dargelegt).

bullschuetzNachtrag zum scharfen S: Tschuldigung, war bloss ein blöder Witz. Ich habe übrigens deshalb als Versöhnungsangebot an Dich diesen Post komplett ohne den umstrittenen Buchstaben verfasst!

Danke für die weiteren Zitate von Marsalis‘ Aussagen zu Bowie und Murray – sehr lustig!

Ein Versöhnungsangebot war gar nicht notwendig! Und die Feinheit mit dem fehlenden scharfen S hab ich natürlich übersehen, weil ich das schlicht nicht anders als ein „ss“ wahrnehme und es mir nicht auffällt, entschuldige.

@fef, nochmal: ich kann hier auch polemisch cool rumpupsen, aber dann kommt nur wieder jemand und zieht mir eins über… darum versuche ich, meinen Standpunkt zu erläutern, auch wenn das meist nicht so cool und pointiert geht, wie Marsalis, wenn er mit dem Zweihänder ausholt…

Aber die Stiche gegen Bowie und Murray sind eben doch interessant, denn sie beiden stehen ebenfalls für einen traditionalistischen Zugang zum Jazz und einen traditionsbewussten Umgang damit in ihrer eigenen Musik. Doch sie sind eben beide auch gute Beispiele dafür, wie man das tun kann und den Jazz dennoch am Leben erhalten, ihm neue Impulse geben kann.

Vergleiche wie jene von Stitt und Murray bringen nicht viel – auch wenn ich Deiner folgenden Aussage natürlich zustimme: „Die alten Meister konnten Dinge, die ihnen nicht so schnell wer nachmacht.“

Der Vergleich von Bowie, Marsalis und den James Brown Musikern führt noch weniger weit… die besten Musiker in Browns Band, jene, die Arrangements schrieben/erfanden, Impulse gaben, aufregende Soli beisteuerten, waren allerdings meist jene, die auch einen Background als Jazzer hatten: Nat Jones, Pee Wee Ellis, Maceo Parker, Fred Wesley. Aber unabhängig davon, wenn Du sagst: „Bowie [war] oft echt kreativ, was Marsalis nicht so hat.“ – dann ist das für mich eben der springende Punkt, denn am Ende geht’s im Jazz um Kreativität – ob man dahin findet über einen echten oder vermeintlich naiven Zugang (die Diskussion im Free Jazz-Thread läuft ja schon seit einiger Zeit ziemlich parallel zu jener hier) oder über ausführliche Analysen und Studien ist am Ende nebensächlich, ob man das Kreative in sich selbst findet oder über die Auseinandersetzung mit Vorangegangenem, auch das ist nicht zentral. Im Mittelpunkt steht immer das Ergebnis, die Musik. Und da hat Lester Bowie eben unendlich viel mehr zu bieten als es Marsalis je haben wird.

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