Startseite › Foren › Kulturgut › Das musikalische Philosophicum › "Handgemachte Musik" – Sinnvoller Begriff oder überholte Vorstellung?
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AnonymInaktivRegistriert seit: 01.01.1970
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Stormy Monday…Obwohl, anders als Hal das weiter oben schreibt, nicht Mitte/Ende der 70-er „handgemacht“ erstmals auftauchte. Ich kenne das eher viel später, mit dem Aufkommen von Elektronika. „Ruck Zuck“ von Kraftwerk wäre nicht so belabelt worden.
Nun ja, Satiriker Scheibner schrieb schon Mitte der 70er für das Geiger-Piano Duo Lonzo & Gottfried einen visionären Text („Hamburg 75“), in dem die beiden Sänger – in die Zukunft versetzt – als Bewohner eines Altenheims die gute alte Zeit der 70er abfeiern:
[INDENT]Hamburg ’75, Jungs war das gemütlich
Da schien noch ein richtiger Mond in der Nacht
Die Musik haben wir noch mit der Hand gemacht
So was gibt es heute nicht mehrReinhard Mey machte in den 80ern Ernst und setzte der „Steckdosenmusik“ der „wilden Rock’n’Roller“ die reine Lehre eines Liedermachers entgegen:
[INDENT]Da lob‘ ich mir ein Stück Musik von Hand gemacht,
Noch von einem richt‘gen Menschen mit dem Kopf erdacht,
‘ne Gitarre, die nur so wie ‘ne Gitarre klingt,
Und ‘ne Stimme, die sich anhört, als ob da jemand singt.
Halt ein Stück Musik aus Fleisch und Blut,
Meinetwegen auch mal mit ‘nem kleinen Fehler, das tut gut,
Das geht los und funktioniert immer und überall,
Auch am Ende der Welt, bei Nacht und Stromausfall!Hier wie da wird „von Hand gemacht“ – wie fast immer – wertend benutzt. Warum auch nicht, wenn derjenige es genauso meint? Solange ich nach Kontext oder Gesprächspartner weiß, was gemeint sein könnte, hänge ich mich nicht lange an Begriffen auf, sondern an den vorhandenen oder nicht vorhandenen Argumenten oder Vorurteilen dahinter.
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WerbunggollumHier wie da wird „von Hand gemacht“ – wie fast immer – wertend benutzt. Warum auch nicht, wenn derjenige es genauso meint?
Tja, warum? Vielleicht, weil es Kommunikation unterbindet? Weil es abtörnend ist, mit Leuten über Musik zu reden, die auf dem hohen Ross zu sitzen glauben und entsprechend von oben herab reden? Weil das das Gegenteil dessen ist, worum es in einem Musikforum eigentlich geht?
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=ferryIch kann es ja auch mal laut sagen: Technomusik ist kacke !
Damit wirst du dem Niveau dieser Diskussion nicht gerecht. Man muß da schon persönlich werden: Alle Leute, die Technomusik mögen, sind hirnlose Ignoranten.
ClauWarum sagt die „Handgemacht“-Gang nicht einfach, dass sie auf Hardrock und Bluesrock steht? Wir könnten uns dann die ganze Diskussion um vermeintliche Definitionen des Wortes „handgemacht“ sparen.
Genau ist das auch von Reinhard Mey gemeint.
Und auch wenn das die meisten hier anders sehen: Ich finde den Begriff „handgemacht“ beim Spielen von Instrumenten, die eine hohe Fingerfertigkeit verlangen (z.B. Geige, wo man erst nach drei Jahren Üben dem Instrument den ersten sauberen Ton entlocken kann) wesentlich angebrachter als bei technischen Kunststücken wie etwa Brian Wilsons Bastelarbeiten auf „Smile“, so toll das auch klingen mag (und die mitwirkenden Studiomusiker sind ja auch Könner ihres Fachs) oder (und das dann auf eher bescheidenem Niveau) dem Auftritt eines Alleinunterhalters am computerunterstützten Keyboard, wo bei Stromausfall nicht nur das Konzert entfallen muss, sondern auch die ungefilterten Gesamskünste des Interpreten einen wehmütig an die hohe Tontreffsicherheit eines Slatko zurückdenken läßt.
Im übrigen finde ich auch André Rieu und sein Orchester wesentlich handgemachter als einen Keyboard-Virtuosen, der das live aus seinem Synthy zaubern kann.
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Noch mehr Comics für alle! Jetzt PDF herunterladen!Andererseits habe ich auch schon erlebt, dass Musiker bei Stromausfall schnell mal ein Akkustik- Set probiert haben. Die Halle war mucksmäuschenstill und man konnte weit hören, bis das Ding dann wieder gepluggt war.
Ich habe bei den Stones einmal einen einminütigen Stromausfall erlebt, das war nicht lustig. Vor allem, weil die Band das nicht schnallte irgendwie und lustig zunächst weitermachte mit voller Show.
@gollum: nice one
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Well, he puts his cigar out in your face just for kicks Contre la guerrewahrSoweit ich es mitbekommen habe, hat die Diskussion irgendwann das Thema „handgemacht“ um seine Verbindung mit „ehrlich“ erweitert. Denn was jemand als „handgemacht“ betrachtet, ist eigentlich wirklich schnuppe. Die Verbindung mit „ehrlich“ ist das eigentliche Problem. Weil es eben impliziert, dass „nicht handgemachte“ Musik ‚unehrlicher‘ sei. Und das ist allerdings wirklich ziemlicher Quatsch. Ist aber im Laufe der Diskussion auch alles schon von anderen Usern benannt worden.
Nun, die Unehrlichkeit fängt ja da an, wenn man einen Knopf/eine Taste drückt und mehr als ein Ton zu hören ist.
Und nochmal: „Unehrlich“ in dem Maße, wie jeder Mensch statistisch 300 Mal am Tag lügt.
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Noch mehr Comics für alle! Jetzt PDF herunterladen!ReinoNun, die Unehrlichkeit fängt ja da an, wenn man einen Knopf/eine Taste drückt und mehr als ein Ton zu hören ist.
Nik Tyndall soll sich das bei einem „Live-Konzert“ in Berlin tatsächlich mal getraut haben. Zu der Zeit, als es noch keine polyphonen Synthesizer gab… :lol:
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Software ist die ultimative Bürokratie.wahrSoweit ich es mitbekommen habe, hat die Diskussion irgendwann das Thema „handgemacht“ um seine Verbindung mit „ehrlich“ erweitert.
Nein, das war überhaupt der Ausgangspunkt der Diskussion, wie man ganz vorne im Thread nachlesen kann. An und für sich ist das Attribut „handgemacht“ keine Diskussion wert, sondern allein die Verknüpfung mit Begriffen wie „ehrlich“, „authentisch“ und „Handwerk“, die implizieren, dass eine nicht (bzw. nicht ausschließlich) „handgemachte“ Musik eben per se „unehrlich“, „unauthentisch“ und ohne technisches/musikalisches Können gefertigt sei.
ReinoNun, die Unehrlichkeit fängt ja da an, wenn man einen Knopf/eine Taste drückt und mehr als ein Ton zu hören ist.
„Unehrlich“ kann doch nur der Versuch sein, dem Hörer etwas vorzutäuschen. Aber die Hörer von Musik, die mit elektronischen Klängen, Samples usw. arbeitet, wissen doch, was sie hören. Und der Konzertbesucher sieht, wer auf der Bühne steht und wer nicht. Wenn dort nur jemand mit Turntables oder Laptop steht oder nur Sänger und Tänzer agieren, dann grübelt doch niemand ernsthaft, wo sie denn wohl das Orchester versteckt haben …
Und dieses „wenn man denen den Strom ausschaltet, können die nichts mehr“, was weiter oben wieder kam, ist doch auch unsinnig. Es gibt Musik, die funktioniert allein beispielsweise mit akustischer Gitarre und Stimme. Wer das für das einzig Wahre hält, bitte schön. Aber Musikaufführungen sind eben je nach Genre wesentlich komplexer und an bestimmte Örtlichkeiten und technische Voraussetzungen gebunden, selbst bei so altehrwürdigen Kunstformen wie dem Orgelspiel in der Kirche, der Symphonie oder der Oper. Auch die vermeintlichen „Knöpfchendrücker“ haben musikalisches Rüstzeug und werden auch mit der Situation „akustische Gitarre plus Stimme“ nicht überfordert sein (solche Momente können auch durchaus zur geplanten Bühnenshow gehören), aber es ist eben nicht das, was sie spielen wollen.
Wieviel Prozent unehrlich ist denn z. B. Theresa Anderson, wenn sie ihre Solo-Performance mit vorproduzierten Sounds und Backgroundgesang verstärkt und neben Gitarre, Geige usw. auch elektronisches Spielzeug und einen Turntable mit auf die Bühne bringt? Dass sie zum Knöpfchendrücken auch noch statt der ehrlichen Hände ihre Füße benutzt, macht sie wahrscheinlich zu einem besonders infamen Exemplar ihrer Gattung.;-)
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Herzlichen Dank für den Hinweis auf das Mey-Lied! Man muss aber glaube ich den ganzen Liedtext anschauen, und dann haben wir womöglich wahrhaftig sowas beieinander wie eine lyrische Definition des Weltbildes, des Lebensgefühls und des Emotionenbündels, das sich in dem Begriff „handgemachte Musik“ verdichtet: „Handgemacht“ drückt eine nostalgische Sehnsucht aus und Zweifel am Entwicklungsweg, den unsere Zivilisation nimmt, einen Verlustschmerz beim Rückblick auf eine Zeit, in der es noch „menschlich“, nicht so schnell und nicht so kompliziert zuging.
Was ich toll an dem Lied finde: Man kann es problemlos wörtlich nehmen, dann ist es eine recht populistische Ranschmeiße an verbreitete „Früher war alles besser“-Sehnsüchte, zum Teil mit ziemlich reaktionärem Polemik-Vokabular austapeziert („Steckdosenmusik“, „Plastikgefühle“) – es schwingt darin aber auch eine deutlich ironische Brechung mit nach dem Motto: Wenn ich alter Sack mal wieder merke, dass ich in der modernen Zeit einfach nicht mehr recht mitkomme, wie weit ich mittlerweile schon abgehängt bin, wie tölpelhaft ich mich jetzt oft schon anstelle (ich kann ja noch nichtmal sowas Strunzeinfaches wie einen Entwerterautomaten im Bus bedienen, geschweigedenn den Einschaltknopf bei meiner Hifi-Anlage finden), dann hilft mir der nostalgische Trost durch gute alte Handmusik. Vielleicht ist das sogar Rollen-Lyrik – Mey versetzt sich in ein Ich, das altert, das nicht mehr Schritt hält mit der Dynamik der modernen Zeit und der permanenten technischen Weiterentwicklung und sich deshalb flüchtet in wütend-wehmütige „Handgemacht“-Träumereien. Aber selbst, wenn Mey das persönlich genau so meint, ist der Text jedenfalls ein beredtes Zeugnis für die Gefühle, die sich an das Ideal der „Handgemachtheit“ anschmiegen.
Zur Blütezeit der Fast-Food-Zivilisation,
Der Einheitsmeinung, der Geschmacksautomation,
Der Plastikgefühle und der High-Tech-Lust,
Der Wegwerfbeziehung mit dem Einweg-Frust,
Zur Zeit der Fertigträume aus der Traumfabrik,
Der Micky-Maus-Kultur und der Steckdosenmusik,Da lob‘ ich mir ein Stück Musik von Hand gemacht,
Noch von einem richt‘gen Menschen mit dem Kopf erdacht,
‘ne Gitarre, die nur so wie ‘ne Gitarre klingt,
Und ‘ne Stimme, die sich anhört, als ob da jemand singt.
Halt ein Stück Musik aus Fleisch und Blut,
Meinetwegen auch mal mit ‘nem kleinen Fehler, das tut gut,
Das geht los und funktioniert immer und überall,
Auch am Ende der Welt, bei Nacht und Stromausfall!Wenn der große, wilde Rock‘n Roller rockt und rollt,
Mit der Wahnsinnslasershow über die Bühne tollt,
Wenn die Lautsprecher dröhnen und das Hallendach schwingt,
Daß mir der Bruch raustritt und die Brille springt,
Dann denk‘ ich d‘ran, daß, wenn jetzt jemand an der Sich‘rung dreht,
Der Rockstar mucksmäuschenstill, lammfromm und im Dustern steht.Da lob ich mir ein Stück Musik von Hand gemacht,
noch von einem richt’gen Menschen mit dem Kopf erdacht.
’ne Gitarre die noch wie eine Gitarre klingt
und ’ne Stimme die sich anhört als ob da einer singt.
Halt ein Stück Musik aus Fleisch und Blut,
meinetwegen auch mal mit ’nem kleinen Fehler, das tut gut.
Das geht los und funktioniert immer und überall,
auch am Ende der Welt, bei Nacht und Stromausfall.Wenn ich den Selbstentwerter im Omnibus
Nicht bedienen kann und wieder schwarzfahr‘n muß,
Wenn die Wasserwerke mir den Hahn zudreh‘n,
Weil ich‘s nicht lerne, die Computerrechnung zu versteh‘n,
Wenn ich einseh‘n muß, ich krieg‘ den HiFi-Turm nicht an,
Weil ich die Einschaltautomatik nun mal nicht einschalten kann,Da lob ich mir ein Stück Musik von Hand gemacht,
noch von einem richt’gen Menschen mit dem Kopf erdacht.
’ne Gitarre die noch wie eine Gitarre klingt
und ’ne Stimme die sich anhört als ob da einer singt.
Halt ein Stück Musik aus Fleisch und Blut,
meinetwegen auch mal mit ’nem kleinen Fehler, das tut gut.
Das geht los und funktioniert immer und überall,
auch am Ende der Welt, bei Nacht und Stromausfall.Bis zum Tag, an dem man mich wegrationalisiert,
Oder als nicht programmierbar einfach aussortiert,
Wenn der große Rechner kommt und alles überwacht,
Meine Vorlieben und Macken voll erfaßbar macht,
Auch wenn ich schon ganz und gar maschinenlesbar bin
Mit ‘nem Balkencode am Schniedel und ‘ner Prüfziffer am Kinn.Da lob ich mir ein Stück Musik von Hand gemacht,
noch von einem richt’gen Menschen mit dem Kopf erdacht.
’ne Gitarre die noch wie eine Gitarre klingt
und ’ne Stimme die sich anhört als ob da einer singt.
Halt ein Stück Musik aus Fleisch und Blut,
meinetwegen auch mal mit ’nem kleinen Fehler, das tut gut.
Das geht los und funktioniert immer und überall,
auch am Ende der Welt, bei Nacht und Stromausfall.--
Ganz, ganz schlimm.
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I hunt alonegenosse schulzGanz, ganz schlimm.
Ja, ich sehe nicht, wie Mey sich da mit Ironie rausreden kann.
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If you talk bad about country music, it's like saying bad things about my momma. Them's fightin' words.MarBeckDie Diskussion erinnerte mich (Wessi) an das von der Bundeszentrale für politische Bildung (!) herausgegebene Buch von Michael Rauhut „Rock in der DDR. 1964 bis 1989, das ich vor einigen Jahren gelesen habe.
Ich habe in der Schnelle etwas darin geblättert. Er schreibt darin (S. 74 ff.) über die Szene der „Kunden“, „Tramper“ und „Blueser“ (wohl synonym gebrauchte Selbstbezeichnungen) unter der Überschrift „Rock in rechtsfreien Raum“ u.a. Folgendes:
„Letztendlich konnten aber weder Verbot noch Unterwanderung die Macht des Faktischen brechen. Im Gegenteil: Der Druck des Staates wertete das Ereignis „Rockkonzert“ in den Augen vieler Nomkonformisten zur autonomen Zone, zur Enklave auf.“ Die Szene erlebte ihre Hochzeit in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre. Verbreitung: insb. „dörflicher Süden der DDR“.
„Und die Musik hielt das eigenwillige Happening wie eine Klammer zusammen. Analog zu Kleidung wurden solche Richtungen bevorzugt, die den Nimbus des ‚Handgemachte‚, ‚Authentischen‘ trugen. Hoch im Kurs standen Folk und Southern Rock. … Als Krone der Inbrunst aber galt der Blues. Er wurde geradezu kultisch verehrt.“
Soviel bis jetzt. Ich werde mal weiterlesen und ggf. Fundstellen posten.
Der DDR-Bezug scheint ja schon wieder aus dem Fokus der Diskussion zu sein, aber ich möchte noch eine regionale Verortung der „Blueser“-Szene nachtragen. Aus dem o.g. Buch:
„Anders verhielt es sich mit den Protagonisten des Blues. Sie konzentrierten ihre Auftritte im ländlichen Süden der Republik, unterhalb einer imaginären Szene-Grenze, die etwa zwischen Leipzig und Cottbus verlief.“
Ich weiß nicht, wo pumafreddy, sorbistan u.a. aufgewachsen sind, aber vielleicht können die dazu mehr sagen.
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"I spent a lot of money on booze, birds and fast cars. The rest I just squandered." - George Best --- Dienstags und donnerstags, ab 20 Uhr, samstags ab 20.30 Uhr: Radio StoneFMlathoJa, ich sehe nicht, wie Mey sich da mit Ironie rausreden kann.
Richtig. Grauenvoller Song, der mir persönlich R. Mey für immer verleidet hat.
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And all the pigeons adore me and peck at my feet Oh the fame, the fame, the famegenosse schulzGanz, ganz schlimm.
lathoJa, ich sehe nicht, wie Mey sich da mit Ironie rausreden kann.
motörwolfRichtig. Grauenvoller Song, der mir persönlich R. Mey für immer verleidet hat.
Mit Verlaub, ich glaube, dass Ihr da einen Anfängerfehler macht: Ihr setzt das „Ich“ im Lied mit „Ich, Reinhard Mey“ gleich. Aber es ist doch wirklich eine literaturwissenschaftliche Binse, dass man das nicht machen sollte. Sonst müsste man ja Randy Newman für einen Südstaaten-Serienmörder halten, der findet, dass dicke Leute kein Lebensrecht haben, man müsste den latent aggressiven Antisemitismus in „Rednecks“ ablehnen und die Menschenverachtung in „Short People“ ganz, ganz, GANZ schlimm finden.
Ich interpretiere Dich mal, Genosse schulz: Du findest die Haltung, die in diesem Text beschrieben wird, „ganz, ganz schlimm“ – die Tatsache, dass Dich das so sehr nervt, ist für mich ein klares Indiz, dass dieser Text „ganz, ganz gut“ gearbeitet ist: Er verdichtet eine gewisse, durchaus verbreitete Welthaltung derartig anschaulich und intensiv, dass Dir der Hut hochgeht. Mein Respekt vor dem Songschreiber Reinhard Mey wächst!
Im Übrigen: Keinem Songschreiber sollte jemals abverlangt werden, sich „auf Ironie rausreden zu müssen“ – die ist entweder im Text drin oder nicht. Und ich habe die Stelle markiert, an der die im Lied dargestellte Position offenkundig gebrochen wird: Das lyrische „Ich“ dieses Textes kommt nichtmal mit dem Entwerter im Bus klar! Ich meine, das hat nach gewissen Anlaufschwierigkeiten am Ende doch sogar Catweazle geschafft.
Für mich jedenfalls fügt der Mey-Text der ganzen „handgemacht“-Debatte eine interessante Dimension hinzu: Es geht hier offenkundig auch um Altersfragen, es geht um das Gefühl jeder alternden Generation, irgendwann nicht mehr mitzukommen, den Anschluss zu verlieren, aus dem Hamsterrad ausbrechen zu wollen, nicht immer diesen ständigen Weiterentwicklungsdogmen, Selbstoptimierungsnormen, wie sie zum Beispiel am Arbeitsplatz eingefordert werden, hinterherhecheln zu müssen. Du musst lebenslang lernen, Du musst jede Innovation im Job freudig begrüßen, Du musst super finden, dass Du jahrzehntelang eingespielte Arbeitsabläufe aufgeben darfst, Du musst mitmachen, mitmachen, mitmachen, sonst wirst Du abgehängt, abgehängt, abgehängt, Du musst die Logik des modernen Kapitalismus im Zeitalter der technologischen Veränderungs-Höchstbeschleunigung allzeit freudig begrüßen, und zwar bis zu Deinem 67. Lebensjahr! Mein Gott, es ist doch verständlich, wenn da jemand sagt: Ich verstehe diese Scheißmoderne einfach nicht mehr, mir reicht’s, und jetzt lege ich mir Bluesrock auf, da ist die Welt noch in Ordnung, wenigstens für die Dauer eines Duane-Allman-Solos.
Wenn Menschen über 50 von „handgemachter Musik“ schwärmen, kann ich das emotional total verstehen – wenn Menschen mit 20 oder 30 Jahren auf „handgemachte Musik“ schwören, wittere ich da eine ungute Gegenwartsverweigerung, eine reaktionäre Unlust, sich auf die ästhetischen Möglichkeiten der Jetztzeit einzulassen.
MarBeckDer DDR-Bezug scheint ja schon wieder aus dem Fokus der Diskussion zu sein, aber ich möchte noch eine regionale Verortung der „Blueser“-Szene nachtragen.
Weitermachen, ich bitte darum! Es ist unvermeidbar, dass hier manche Diskussionsstränge parallel laufen – aber die DDR-Linie bleibt hochinteressant.
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MarBeckDer DDR-Bezug scheint ja schon wieder aus dem Fokus der Diskussion zu sein, aber ich möchte noch eine regionale Verortung der „Blueser“-Szene nachtragen. Aus dem o.g. Buch:
„Anders verhielt es sich mit den Protagonisten des Blues. Sie konzentrierten ihre Auftritte im ländlichen Süden der Republik, unterhalb einer imaginären Szene-Grenze, die etwa zwischen Leipzig und Cottbus verlief.“
Ich weiß nicht, wo pumafreddy, sorbistan u.a. aufgewachsen sind, aber vielleicht können die dazu mehr sagen.
Obwohl ich südlich dieser Linie (in der Nähe von Hoyerswerda) aufwuchs, kann ich wenig Erquickliches dazu beitragen, auch weil ich einen Tick zu jung für die in den späten 60ern einsetzende Entwicklung bin. Vom Vernehmen nach hatte die Blues-Szene ihre Zentren in Thüringen und im Leipziger Raum. Dass Konzerte hauptsächlich auf dem Dorf stattfanden, ist richtig. Schließlich gab es dort nur einen ABV, dem die von offizieller Seite verordnete 50/50-Regel völlig Apfel (im Westen: Banane) war. In meiner Gegend gab es solche Konzerte eher selten, kann mich nur an eins am Nachmittag von Stefan Diestelmann erinnern, der die geplante Abendveranstaltung wegen Trunkenheit absagen musste. Ein Problem war auch, dass in unserer Gegend kein Westfernsehen oder -radio möglich war, trotz aller abenteuerlichen Antennenkonstruktionen, die die Dächer der Plattenbauten in einen wirren Wald aus Metall kleideten. Das hat mit Sicherheit in dieser Region auch die Gründung von Bands behindert, da einfach die Vorbilder fehlten.
Ich war im letzten Jahr auf einer recht putzigen Veranstaltung hier in Greifswald. Da spielte eine in den 70ern gegründete Band ein Jubiläumskonzert in einer kleinen Kneipe vor ca. 80 Leuten. Die gleiche Setlist wie im letzten Jahrtausend, von Lords bis CCR, originalgetreu gespielt mit ziemlich schrägen Kostümen, die gleichen Gäste, der gleiche Dresscode wie damals. Sehr amüsant, sehr familiär, klasse Stimmung. Man kennt sich.Interessant vielleicht, dass jene Musik, die für uns zum Soundtrack der Wende wurde, deren Werdegang ich bei Bands wie Sandow, Feeling B oder Die Firma hoppingmäßig begleitete, ebenso auf den Dörfern im Rahmen kleiner Konzerte ihren Ursprung nahm. Erst gegen 1987/88, als die DDR-Führung dieser Entwicklung der offen oder versteckt an den Tag gelegten Systemkritik nichts mehr entgegenzusetzen hatte (wollte), Amiga eine erste Compilation veröffentlichte, sich Radiosendungen wie das fantastische „Parocktikum“ etablierten, fanden die in den Städten auch ein größeres Publikum. Vorher lief das ähnlich wie bei den Bluesern in den 70ern nur über Hören und Weitersagen.
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Life is what´s happening while you are busy making other plans www.brycke.debullschuetzMit Verlaub, ich glaube, dass Ihr da einen Anfängerfehler macht: Ihr setzt das „Ich“ im Lied mit „Ich, Reinhard Mey“ gleich. Aber es ist doch wirklich eine literaturwissenschaftliche Binse, dass man das nicht machen sollte. […]
Das ist so vereinfacht nicht richtig. Zumal es sich im Falle Meys ja um ehrliche, handgemachte Musik handelt. Wäre die Position des Sängers nicht deckungsgleich mit der des lyrischen Ichs, würde man dies deutlicher spüren. Sonst wäre das ganze ja nicht mehr ehrlich.
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And all the pigeons adore me and peck at my feet Oh the fame, the fame, the fame -
Schlagwörter: Deutsche Kulturarbeit, Ehrlich währt am längsten, entweder - oder, Handwerk, led zeppelin
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