Re: "Handgemachte Musik" – Sinnvoller Begriff oder überholte Vorstellung?

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bullschuetz

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Beiträge: 2,238

genosse schulzGanz, ganz schlimm.

lathoJa, ich sehe nicht, wie Mey sich da mit Ironie rausreden kann.

motörwolfRichtig. Grauenvoller Song, der mir persönlich R. Mey für immer verleidet hat.

Mit Verlaub, ich glaube, dass Ihr da einen Anfängerfehler macht: Ihr setzt das „Ich“ im Lied mit „Ich, Reinhard Mey“ gleich. Aber es ist doch wirklich eine literaturwissenschaftliche Binse, dass man das nicht machen sollte. Sonst müsste man ja Randy Newman für einen Südstaaten-Serienmörder halten, der findet, dass dicke Leute kein Lebensrecht haben, man müsste den latent aggressiven Antisemitismus in „Rednecks“ ablehnen und die Menschenverachtung in „Short People“ ganz, ganz, GANZ schlimm finden.

Ich interpretiere Dich mal, Genosse schulz: Du findest die Haltung, die in diesem Text beschrieben wird, „ganz, ganz schlimm“ – die Tatsache, dass Dich das so sehr nervt, ist für mich ein klares Indiz, dass dieser Text „ganz, ganz gut“ gearbeitet ist: Er verdichtet eine gewisse, durchaus verbreitete Welthaltung derartig anschaulich und intensiv, dass Dir der Hut hochgeht. Mein Respekt vor dem Songschreiber Reinhard Mey wächst!

Im Übrigen: Keinem Songschreiber sollte jemals abverlangt werden, sich „auf Ironie rausreden zu müssen“ – die ist entweder im Text drin oder nicht. Und ich habe die Stelle markiert, an der die im Lied dargestellte Position offenkundig gebrochen wird: Das lyrische „Ich“ dieses Textes kommt nichtmal mit dem Entwerter im Bus klar! Ich meine, das hat nach gewissen Anlaufschwierigkeiten am Ende doch sogar Catweazle geschafft.

Für mich jedenfalls fügt der Mey-Text der ganzen „handgemacht“-Debatte eine interessante Dimension hinzu: Es geht hier offenkundig auch um Altersfragen, es geht um das Gefühl jeder alternden Generation, irgendwann nicht mehr mitzukommen, den Anschluss zu verlieren, aus dem Hamsterrad ausbrechen zu wollen, nicht immer diesen ständigen Weiterentwicklungsdogmen, Selbstoptimierungsnormen, wie sie zum Beispiel am Arbeitsplatz eingefordert werden, hinterherhecheln zu müssen. Du musst lebenslang lernen, Du musst jede Innovation im Job freudig begrüßen, Du musst super finden, dass Du jahrzehntelang eingespielte Arbeitsabläufe aufgeben darfst, Du musst mitmachen, mitmachen, mitmachen, sonst wirst Du abgehängt, abgehängt, abgehängt, Du musst die Logik des modernen Kapitalismus im Zeitalter der technologischen Veränderungs-Höchstbeschleunigung allzeit freudig begrüßen, und zwar bis zu Deinem 67. Lebensjahr! Mein Gott, es ist doch verständlich, wenn da jemand sagt: Ich verstehe diese Scheißmoderne einfach nicht mehr, mir reicht’s, und jetzt lege ich mir Bluesrock auf, da ist die Welt noch in Ordnung, wenigstens für die Dauer eines Duane-Allman-Solos.

Wenn Menschen über 50 von „handgemachter Musik“ schwärmen, kann ich das emotional total verstehen – wenn Menschen mit 20 oder 30 Jahren auf „handgemachte Musik“ schwören, wittere ich da eine ungute Gegenwartsverweigerung, eine reaktionäre Unlust, sich auf die ästhetischen Möglichkeiten der Jetztzeit einzulassen.

MarBeckDer DDR-Bezug scheint ja schon wieder aus dem Fokus der Diskussion zu sein, aber ich möchte noch eine regionale Verortung der „Blueser“-Szene nachtragen.

Weitermachen, ich bitte darum! Es ist unvermeidbar, dass hier manche Diskussionsstränge parallel laufen – aber die DDR-Linie bleibt hochinteressant.

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