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AutorBeiträge
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Sonic JuiceNehme aber, an dass diese im Gegenteil das einzig Gute am Buch sein soll und der Rest Dich peinlich berührt?
So sieht es aus. Dass Kehlmann gut schreiben kann, steht außer Frage. Nur ein Konglomerat aus Kurzgeschichten Roman zu nennen, ist vermessen.
@Declan: Wo siehst du Interpretationsbedarf, der seitens des Autors nicht erklärt wird?
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WerbungDominick BirdseySo sieht es aus. Dass Kehlmann gut schreiben kann, steht außer Frage. Nur ein Konglomerat aus Kurzgeschichten Roman zu nennen, ist vermessen.
Ob „Ruhm“ sich an der Definition der Textsorte Roman messen kann, ist sicherlich diskutabel. Aber ich sehe das durchaus auch als Spielerei des Autors. „Ein Roman in neun Geschichten“ klingt zunächst paradox, aber er nähert sich diesem Anspruch, indem er die Geschichten miteinander verknüpft – auf eine Art und Weise, wie ich das noch nirgendwo gelesen habe (Kennt jemand Beispiele aus der Literatur?). Kehlmanns Vorbild scheinen eher Filme wie „Short Cuts“ zu sein. Oder sieht jemand das anders?
Dominick Birdsey@Declan: Wo siehst du Interpretationsbedarf, der seitens des Autors nicht erklärt wird?
Sind für dich alle Fragen beantwortet? Ich hatte nach dem Lesen einige Fragen oder zumindest Überlegungen / Anregungen im Kopf: Was etwa das Spiel mit den verschiedenen Ebenen von Realität und Fiktion angeht, ist doch längst nicht alles beantwortet.
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Lately I've been seeing things / They look like they float at the back of my head room[/B] [/SIZE][/FONT]@Declan: „Short Cuts“ stand in der ursprünglichen Version des Artikels auch als Referenz, musste ich aber kürzen und dann fiel das raus. In dem Zusammenhang fällt mir Murakamis „Nach dem Beben“ ein – sicherlich ohne Verknüpfung der Figuren. Allerdings halte ich gerade das bei Kehlmann für bemüht und missraten. Wie ein Künstler, der noch einen Roman beim Verlag abgeben muss, um aus seinem Vertrag zu kommen. Weil er aber nur ein paar Kurzgeschichten hat, werden diese bemüht und rasch verknüpft und als Roman verkauft.
Zum anderen Punkt: Es geht nicht darum, dass ein paar Fragen offenbleiben. Es geht darum, dass Kehlmann zu viele beantwortet. Und leider oft mit dem Holzhammer. Das mag ich nicht. Das letzte Mal, dass mich etwas derart geärgert hat, war bei Khaled Hosseinis „Drachenläufer“: Trivialliteratur.
Wer es deutlich besser macht:
Thomas Bernhard – Meine Preise
Plötzlich ist alles wieder da. Die langen Sätze, die absatzlos aneinandergereiht werden. Die zusammengesetzten Wörter, das Granteln und Übertreiben: Der „völlig durchinstrumentierte Wahnsinn“.
Thomas Bernhard, einer der berühmtesten österreichischen Schriftsteller, hat in seinem Testament verfügt, dass nach seinem Tod 1989 weder Stücke von ihm aufgeführt noch publiziert werden dürfen. 20 Jahre lang ist kein Werk veröffentlicht worden. Seinem Halbbruder Dr. Peter Fabjan gelang es durch die Gründung einer Privatstiftung, das Testament zu umgehen.
Nun ist also mit „Meine Preise“ das erste Buch aus dem Nachlass erschienen. Entstanden sind die neun Prosa-Texte 1980. Ergänzt wurden sie um drei Reden, die der in den Niederlanden geborene österreichische Schriftsteller anlässlich der Preisverleihungen gehalten hat.
Prosa von Thomas Bernhard zu lesen, ist für Bernhard-Liebhaber wie nach Hause kommen: Alles ist bekannt und hat seinen richtigen Platz. Die Themen haben sich nie geändert. Der Staat und seine Minister sind ihm verhasst. Preise und deren Verleihungen sind ihm zuwider: Wäre nicht das Preisgeld, nähme er sie gar nicht erst entgegen. Soviel Selbstkritik muss sein. „Wir wissen nicht, handelt es sich um die Tragödie um der Komödie willen, oder um die Komödie um der Tragödie willen“: Die Balance aus Humor und Ernsthaftigkeit, aus Fiktion und Biografie, aus Parodie und Dialektik ist es einmal mehr, die der „Übertreibungskünstler“ Bernhard meisterhaft und virtuos beherrscht.
Der Österreicher schafft es, anzuecken und „vor den Kopf zu stoßen“, aber auch zu unterhalten. Wenn bereits Filmschauspieler wie Heath Ledger posthum geehrt werden, dann sollte das Nobelpreis-Komitee darüber nachdenken, Thomas Bernhard für sein Lebenswerk zu ehren. Auch wenn wir nicht in den Genuss einer gewiss skandalträchtigen Preisrede kämen: Verdient wäre es allemal. Naturgemäß.
Thomas Bernhard: Meine Preise. Eine Bilanz. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. 2009, 144 Seiten, 15.80 Euro.
Nachzulesen auch hier.
Ebenfalls dazu ein Artikelchen über Bernhard zum 20. Todestag.--
Declan MacManusKehlmanns Vorbild scheinen eher Filme wie „Short Cuts“ zu sein. Oder sieht jemand das anders?
ja, hat was. erinnert mich auch, wie ich das kürzlich igendwo gehört habe, an bunuels „das gespenst der freiheit.“ wer zuvor nur eine nebenfigur war, wird plötzlich zum hauptprotagonisten und umgekehrt.
trotzdem, das buch hat mich nicht vollständig überzeugt. das mag vielleicht auch an meiner hohen erwartungshaltung liegen, die ich an das buch hatte. von den neun geschichten haben mich aber nur 2 1/2 so richtig überzeugt. die über kehlmanns alter ego leo richter und die andere mit dem titel „osten.“ die beiden geschichten hängen ja auch eng miteinander zusammen. beide haben mich gut unterhalten (wie eigentlich das ganze buch), amüsiert und auch sprachlich überzeugt. hinzu kommt die geschichte um rosalie, die in die schweiz kommt um zu sterben. diese geschichte gefällt mir allerdings auch nur zur hälfte. einerseits hat sie mich sehr berührt, andererseits hat sie, wie fast alle anderen geschichten, einfach für meinen geschmack etwas, ich sags mal so: wenig fleisch am knochen. obwohl ich oft die ausgangssituationen von kehlmanns geschichten interessant finde (speziell auch bei der ersten geschichte mit der telefonverwechslung), verpasst es kehlmann finde ich, daraus mehr zu machen als nur einen guten ansatz. häufig bricht er die geschichten auch an der interessantesten stelle einfach ab, wie etwas bei der geschichte des fremdgehers. meiner meinung nach völlig unnötig. er könnte doch auch mal etwas zu ende führen und den leser nicht jedesmal im unklaren lassen. hinzukommt, dass ich dieses konzept von kurzgeschichten, die irgendwie ineinander verwoben sind und ein grosses ganzes bilden, schon in der anderer form (z.b. eben auch in filmen) schon wesentlich besser präsentiert bekommen habe.
trotzdem war das buch für zwei tage eine ganz nette unterhaltung. mir wurde es jedenfalls nie langweilig beim lesen. ich würd jetzt mal 75-78 von 100 punkten vergeben.:-)--
TRINKEN WIE GEORGE BEST UND FUSSBALL SPIELEN WIE MARADONAPhilip Roth ⋅ Empörung
Anfangs führt der Autor seine Leser in die Irre. Dann lässt er sie knapp 200 Seiten lang zappeln. Philip Roth bedient sich bei Thornton Wilders „Unsere kleine Stadt“: Er lässt seinen Ich-Erzähler zwar nicht aus der Perspektive eines Toten berichten, aber aus der eines jungen Studenten, der unter Morphium im Lazarett liegt.
Der Korea-Krieg geht in sein zweites Jahr, als der jüdische Student Marcus Messner sein Studium im entlegenen Ohio aufnimmt. Messner ist ehrgeizig, seine erste sexuelle Erfahrung verwirrt ihn, er legt sich mit seinen Zimmergenossen an. Als Einzelkämpfer gegen die Normen des Colleges lebt er mit der Angst, von der Hochschule zu fliegen und in den Koreakrieg eingezogen zu werden.
Nachdem seine letzten Romane vom Altern und den damit einhergehenden Problemen handelten, kehrt Roth zurück zu den Themen Kindheit und Krieg. Roth hält Amerika den Spiegel vor: Messner ist dabei pars pro toto der amerikanischen Gesellschaft. Trotz der Einbettung in die 50er Jahre ist der Roman Kritik an der repressiven Politik des George W. Bush. Geschichte wiederholt sich.
Kaum einem anderen Autor gelingt es, auf wenigen Seiten so viele Themen zu verdichten und mit einem doppelten Boden zu versehen. Bereits der Titel deutet es an: Er vereint sowohl die persönliche Entwürdigung des Helden als auch die Entrüstung der Gesellschaft gegenüber der Kriegs-Heuchelei. Leider trübt die Rede des College-Direktors Lentz wie einst die Friedensrede des jüdischen Friseurs am Ende von Chaplins „Der große Dikator“ den Gesamteindruck: Auch ohne diesen moralinsaueren Holzhammer steht die Geschichte für sich. Dennoch ist Philip Roth wieder ein zeitloses Meisterwerk gelungen.
Rezension wie immer auch hier.
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Wenn der Frieden flucht
Shalom Auslander: Eine Vorhaut klagt an. Erinnerungen. Berlin Verlag, 2008, 352 Seiten, 19,90 EuroAls Shalom Auslander mit acht Jahren erfährt, dass Gott auch „Vater im Himmel“ genannt wird, erschaudert er: „Es gibt noch einen? Im Himmel? Ist er in Unterhosen rumgeschlurft? Wie groß war seine Faust?“ Shalom Auslander ist ein ultraorthodox erzogener Jude. Er glaubt an Gott, und das wird ihm zum Problem.
Die Erziehung durch seine Eltern und durch die Schule lehrt ihn einen aufbrausenden und rachsüchtigen Gott. Ohne Barmherzigkeit straft dieser Gott alle Sünden rigoros ab und treibt seine persönlichen Spiele mit dem jungen Juden.
So entsteht eine nicht chronologische Sammlung an Schilderungen, die die Adoleszenz Auslanders als zusammenhängende Erzählung skizziert. Das Infragestellen von Autoritäten beginnt früh: Bei einem Segenswettbewerb schwört er einen Konflikt herauf, um auf die Ungerechtigkeit hinzuweisen, dass sein Kontrahent mit leichten Fragen bevorzugt wird.
Aber auch während der College-Zeit kommt Auslander immer in Versuchung, nichtkoscher zu leben, und wird zur Festigung seines Glaubens nach Jerusalem geschickt. Letztlich wird er vor die Frage gestellt, wann, wie und vor allem von wem sein Sohn beschnitten werden soll.
Autor und Figur tragen den gleichen Namen. Daraus zu schließen, dass sie auch identisch sind, wäre falsch. Vielmehr handelt es sich um ein alter Ego, das der Autor als Allzweckwaffe gebraucht, um seine Anekdoten zu veranschaulichen. Sowohl seine Sprache als auch der Inhalt sind überspitzt und provokant. Die Dialoge sind pointiert wie in guten Woody-Allen-Filmen. Nicht umsonst schreibt Auslander Kolumnen für das New York Times Magazine.
Der Autor setzt bewusst auf Effekthascherei, um die Absurdität und die Komik der jeweiligen Situationen zu verdeutlichen. Dennoch bleibt ein tragischer Unterton: Neben dem nicht immer politisch korrekten Humor ist es der innere Konflikt zwischen der Abkehr von Familie und Gesellschaft, der sich Auslander nicht mehr zugehörig fühlt, und dem Aufrechterhalten seines Glaubens, der das Buch lesenswert macht.
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Taumelnd wie eine Wespe
Wilhelm Genazino: Das Glück in glücksfernen Zeiten. Hanser, 2009, 160 Seiten, 17,90 EuroGerhard Warlich ist 41 Jahre alt. Er hat Philosophie studiert. Etwas antriebsarm arbeitet er als Organisationsleiter einer Großwäscherei und gibt sich damit zufrieden. Als „stiller Kommunikator“ lebt er in den Tag und träumt davon, ein Konzeptkünstler zu sein.
Trotz seiner Freundin Traudel, der bodenständigen Leiterin einer Bankfiliale, beschleicht Warlich das Gefühl, der Einzige zu sein, der auf sich Rücksicht nimmt. Und obwohl er „nicht zu zweit allein sein“ will, bringt er nichts in die Beziehung ein. Und so gerät sein Leben komplett aus den Fugen, als Traudel ihm erklärt, dass es an der Zeit sei, langsam Kinder zu bekommen.
Wilhelm Genazino erzählt den schleichenden Prozess des Scheiterns anhand kleiner Skurrilitäten. Seiner tragischen Figur nähert er sich leise und lakonisch. Genazinos Sprache ist unaufgeregt und unprätentiös, dafür pointiert und präzise.
Wenn Warlich den taumelnden Flug eine Wespe beobachtet und darin ein vorweggenommenes Bild seiner Zukunft sieht, dann ist er ganz der pessimistische Phänomenologe, den alle Protagonisten in Genazinos Romanen verkörpern: Aus alltäglichen Erscheinungen ziehen sie ihren Erkenntnisgewinn. Nicht umsonst ließ der Autor seinen Helden diesmal über Heidegger promovieren.
Warlich ist ein Wiedergänger. Er ist ein „Beinahekünstler“ wie der Held der gleichnamigen Romantrilogie Abschaffel, dessen Tagträume die Realität verdrängen. Man ertappt ihn wie den freischaffenden Apolyptiker in „Die Liebesblödigkeit“ in Gedanken an die Eltern und bei Rückblicken auf seine Kindheit. Seine Wunschvorstellung, einmal eine „Schule der Besänftigung“ zu eröffnen, reiht sich in Genazinos absurde Berufsbezeichnungen ein.
Scheinbar nichts Neues im Mikrokosmos des Büchner-Preisträgers? Sicher: Die Balance von dezenter Tragik und feiner Komik ist wie immer austariert. Während aber noch im letzten Roman „Mittelmäßiges Heimweh“ die Surrealität das Geschehen betonte, vermengen sich das Reale und das Surreale aufgrund der Grenzüberschreitungen des Ich-Erzählers. Warlich gelingt es nicht mehr, sich den Malaisen des Alltags anzupassen.
Er schaut zu, wie seine Hose auf dem Balkon verwittert, und begrüßt eine alte Freundin mit einer Brotscheibe beim Handschlag. „Übergangspeinlichkeit“ oder „Peinlichkeitsverdichtung“ nennt das der Autor. Oder neudeutsch: Fremdschämen. Und was bei Sitcoms wie „Stromberg“ funktioniert, gelingt auf hohem literarischem Niveau auch dem „Glück in glücksfernen Zeiten“. Lesenswert.
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Judith Hermann: Alice. S. Fischer-Verlag, Frankfurt, 192 Seiten, 18.95 Euro.
Spinnennetze sind kleine Kunstwerke unterschiedlichster Formen und Funktionsweisen. Verwoben, versponnen und wunderschön anzusehen. In Judith Hermanns drittem Erzählband „Alice“ haben Spinnennetze in jeder der fünf Kurzgeschichten eine Funktion.
In der ersten erzählt Alice von ihrer Trennung von Micha. An ihrem letzten gemeinsamen Abend webt eine kleine Spinne zwischen zwei Bierflaschenhälsen ihr Netz. „Ihm tats leid, sagte Alice. Es tat ihm leid, ihr Werk zerstören zu müssen“. Andeutungen, Ambiguität, Ambivalenz: hintergründig mit Netz und doppeltem Boden.
„Alice“ ist der dritte Erzählband der Berlinerin Judith Hermann. Im Gegensatz zu „Sommerhaus, später“ und „Nichts als Gespenster“ hängen die Geschichten diesmal unmittelbar zusammen: Sie erzählen fünf Stationen aus dem Leben von Alice, einer Frau in den Vierzigern. Jede Episode ist mit einem Männernamen betitelt und handelt vom Tod dieser Person. Ob Selbstmord oder kurze Krankheit: Alice ist mit dem Sterben konfrontiert. Die Toten evozieren Erinnerungen an Alice eigenes Leben.
Jedes Kapitel dient als Baustein zur Charakterisierung der Hauptfigur. Alice hinterfragt: Wie sind sie gewesen, die Toten? Meistens aber bleibt die Erinnerung genauso blass wie die Protagonistin farblos. Fahl sind fast alle Charaktere und das hat bei Hermann Methode. In der Namensgebung wählt sie anonyme Varianten. Die Figuren heißen „der Rumäne“ oder bleiben wie das Kind von Maja und Micha ganz namenlos. Wie die Erzählerin sagt, sind ihre Figuren wie „Astronauten, es gibt nirgends einen Halt“. Sie bleiben schemenhaft und skizziert. Dazu passt Hermanns minimalistische Sprache.
Wenig Adjektive, dominierende Substantive. In den Kurzgeschichten ist viel Traurigkeit, viel Leere und viel Schweigen. Mitunter wirken sie kalt, karg, aber kunstvoll. Leider sind die Erzählungen von unterschiedlicher Dichte und Atmosphäre. Und gerade das letzte Kapitel missrät aufgrund seiner bemühten Konstruktion. Schlecht ist das Buch dennoch nicht. Denn in Judith Hermanns Erzählungen verfangen sich die Leser schnell. Wie in Spinnennetzen.
Nachzulesen wie immer auch hier.
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Martin Kluger: Der Vogel, der spazieren ging. Dumont: Köln, 2008, 318 Seiten, 19.90 Euro.
Samuel Leiser wohnt in Paris. Er lebt getrennt von Letitia, der Mutter seiner pubertierenden Tochter Ashley, und weit weg von seinem Vater, dem Schriftsteller Jonathan Still. Samuel übersetzt die Abenteuer des Detektivs Paul Perrone ins Deutsche, die Yehuda Leiser – so hieß sein Vater vor der Emigration – ersonnen hat.
Im Sommer Anfang der 70er Jahre flüchtet Sams Tochter zu ihm nach Paris. Sein Versuch, ein paar Wochen ungestört mit ihr zu verbringen, scheitert zum einen an dem seltsamen Kind, das im Traum alte Frauen umbringt. Zum anderen daran, dass sich die gesammelte „Mischpoke“, vom Mafia-Onkel Meyer über Letitia und ihren schauspielernden Freund, ihren Vater bis zu Samuels eigenen Vater samt neuer Freundin, in seiner Wohnung zusammenfindet.
Zu allem Überfluss verliebt sich Samuel auch noch in seine Spanischlehrerin. Oder kurz mit den Worten des Protagonisten zusammengefasst: „Meine Tochter macht mir Sorgen. Meine Geliebte versteht mich nicht. Mein Vater ist ein Sadist. Meine Mutter ist verschollen. Dafür ist die Mutter meiner Tochter in der Stadt und zeigt sich nicht. Habe ich was vergessen? Ach ja, ich hinke meiner Arbeit hinterher.“
Mit seinem vierten Roman gelingt Martin Kluger eine jüdische Familien-Farce im Stile von Woody-Allen-Komödien. Geschickt konstruiert der Autor eine Melange mit Motiven aus unterschiedlichen Genres: Kriminal- und Trivialliteratur sowie Filmelementen. Der gebürtige Berliner ist auch Drehbuchautor. Gerade die Dialoge gelingen ihm ausgesprochen gut. Ein weiteres Vergnügen bereitet Klugers bildreiche und präzise Sprache. Da wird der Himmel über Paris schon mal als „wehrmachtsgraue Felddecke“ bezeichnet.
Einziges Manko des Romans sind die mitunter zu intelligenten Einwürfe, Reminiszenzen und Zitate, die zwar nicht den Lesefluss stören, aber die Prosa unnötig aufplustern und etwas die Leichtigkeit nimmt. Dennoch hat Martin Kluger völlig zu Recht den Literaturpreis der Stadt Bremen bekommen. Empfehlenswert.
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Der Besprechung kann ich mich anschließen. Freut mich, dass das Buch Euch eine Kritik in den WN wert war!
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I like to move it, move it Ya like to (move it)Sonic JuiceFreut mich, dass das Buch Euch eine Kritik in den WN wert war!
Und sogar in der 20 Zeilen zu langen Fassung! Next to come: Verena Roßbacher.
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Verena Roßbacher: Verlangen nach Drachen.
Der Debütroman von Verena Roßbacher ist eine moderne Rittersaga: ohne Ritter, ohne Drachen, dafür aber mit Dinosaurierfossilien und dem Verlangen nach einem mythologischen Mischwesen. Und mit einer Prinzessin – im übertragenen Sinne.
Denn Klara ist eine leicht nymphomanische Studentin, die sich nach der großen Liebe sehnt und dabei Männer reihenweise verschleißt. Es ist eben keiner dabei, der für sie wie ein Ritter kämpft. Nicht der Gemüsehändler Kron, der Schläge von ihrem Vater einsteckt und nicht der Alchemist und Esoteriker Lenau, der Klara selbst verprügelt.
Der moderne Mann in Roßbachers Roman kämpft zwar nach wie vor um die Gunst seiner Angebeteten. Wer aber nicht in der Lage ist, sich zu ändern und Kompromisse einzugehen, der versagt und verliert. Denn: „Wer dem Drachen ins Auge schaut, sieht sich selbst ins Innere, wer den Drachen bezwingt, bezwingt auch sich selbst.“
Schwungvoll beginnt dieser Roman, der rein gar nichts mit dem Fantasy-Genre zu tun hat, auch wenn es der Umschlag suggeriert. Vielmehr handelt es sich um einen Porträt-Reigen, der in einem furiosen Screwball-Finale enttäuschter Figuren mündet.
Was zunächst mit viel Tempo und skurrilem Humor beginnt, flacht im Laufe der zu langen Erzählung ab. Sicherlich ist die Prosa für ein Erstlingswerk beachtlich: absurd, grotesk und surreal – gut konstruiert und an Doderers Drachenmotiv angelehnt. Aber in den zahlreichen Dialogen tritt die Handlung auf der Stelle, bleiben die Charaktere oberflächlich. Unterhaltsam ist der Roman dennoch.
Verena Roßbacher: Verlangen nach Drachen. Kiepenheuer & Witsch, Köln, 442 Seiten, 19.95 Euro.
Oder auch hier.
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Wolf Haas: Der Brenner und der liebe Gott.
Josef Hader ist die österreichische Antwort auf Bruce Willis. Wenn er in die Rolle des Simon Brenner schlüpft, sieht Hader nach kürzester Zeit aus, als habe er eine Schar von Schurken erlegt.
Während es Bruce Willis in der „Stirb langsam“-Reihe auf vier Teile gebracht hat, ist Brenner bereits in seinen siebten Fall verstrickt. Und weil drei Folgen erfolgreich verfilmt worden sind, hat der Leser Josef Hader als Brenner stets vor Augen. So gut passen seine Lakonie und Melancholie zur literarischen Vorlage.
Auch dieses Mal greift der Autor Wolfgang Haas zu dem bekannten Trick, einen nahezu allwissenden Erzähler über die Geschehnisse jovial berichten zu lassen. Dieser weiß vieles, aber nicht alles, und einiges gibt er nicht preis. Das macht den Reiz und die Spannung aus.
Dass der Leser direkt angesprochen und sogar geduzt wird, zieht ihn direkt in die Geschehnisse und verbrüdert ihn mit der knapp 50-jährigen Hauptperson Brenner. Der Ex-Polizist und Ex-Privatdetektiv ist seit zwei Jahren Chauffeur und kutschiert die Tochter eines Baulöwen. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie entführt wird: „Aber wenn du als Chauffeur ohne Auto im Regen stehst, ist das natürlich der Moment, wo du begreifst, dass du eine Krise hast.“
Was folgt, ist eine hanebüchen humorvolle Story über Abtreibung, Schmier*geld und insgesamt sieben Morde. Und einer Begegnung mit Gott an einem außergewöhnlichen Ort. Am Ende steht die Erkenntnis, dass der größte Fehler unserer Welt sei, „dass es nicht wenigstens ein paar Dinge gibt, die es nicht gibt“. Und ob du es glaubst oder nicht: Der neue Haas-Krimi ist dringend zu empfehlen. Aber auf die Verfilmung mit Josef Hader musst du noch warten.
Wolf Haas: Der Brenner und der liebe Gott. 224 Seiten, Hoffmann und Campe, Hamburg, 18.99 Euro.
Nachzulesen natürlich auch hier.
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Siegfried Lenz: Landesbühne
Clemens heißt der Ich-Erzähler des neuen Buches von Siegfried Lenz. „Der Sanftmütige“ ist Professor für Literatur und sitzt im Gefängnis, weil er seinen Studentinnen geholfen hat, ihre Prüfungen zu bestehen. Natürlich nicht ohne Gegenleistung. Mit ihm in der Zelle sitzt Hannes. Er hat sich als Polizist ausgegeben und auf diese Art Bußgelder kassiert. Leider irgendwann von der Polizei selbst.
Mit anderen Gaunern sitzen sie in Isenbüttel ein. Bis eines Tages ein Bus mit Schauspielern vorbeikommt. Die sogenannte „Landesbühne“. Während der Aufführung des Stückes „Labyrinth“ fliehen die Gefängnisinsassen mit dem Bus in das Örtchen Grünau, wo sie in kurzer Zeit sich als Personen des öffentlichen Lebens eine gewichtige Rolle erarbeiten.
Zwar gelingt die Lenz-Erzählung in einigen Punkten: Doppelbödigkeit, gekonnte literarische Anspielungen und schräger Humor. Die Flucht aus dem Gefängnis als Normenbruch und der resultierende Konflikt sind novellenspezifisch – genauso wie die kleinen Geschichten in der Geschichte.
Lenz kann mit wenigen Worten sein Figurenpersonal präzise umschreiben. Es ist schrullig, schräg und schelmisch. Wie überhaupt die ganze Novelle einer Posse gleicht. Plädoyer für den Ausbruch aus dem Alltag, für Verrücktheiten und Fantasien. Dabei erhebt Lenz niemals den Zeigefinger und erspart dem Leser jegliche Form von Moral.
Aber leider ist die Sprache des Autors konservativ, überraschungsarm und altbacken. Das Ende mit der Erkenntnis, dass „manchmal die Wahrheit nur erfunden werden kann“, ist bemüht und wirkt aufgesetzt. Letztlich ist die „Landesbühne“ nicht mehr als eine intelligente, aber leicht langweilige Fingerübung.
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Kazuo Ishiguro: Bei Anbruch der Nacht.
Es gibt Schriftsteller, die beherrschen die Kunst der Komprimierung meisterhaft. Andere breiten sich dagegen episch aus. Dann gibt es aber welche, die beherrschen beides. Kazuo Ishiguro wurde bekannt durch seinen Romanerfolg „Was vom Tage übrig blieb“. Dafür bekam er vor 20 Jahren den Booker-Preis. Sein neuestes Buch ist eine Sammlung von fünf Kurzgeschichten, die allesamt um das Thema Musik kreisen.
So lernen wir den berühmten Sänger kennen, der sich von seiner Frau trennen muss, weil er ein Comeback plant. Ob ihm das gelingt, bleibt der Fantasie des Lesers überlassen, wie vieles andere, was Ishiguro lediglich anreißt. Der Leser erfährt nicht, ob das ambitionierte Karrierepärchen zusammenbleibt.
Ob der junge Singer-Songwriter mit seiner Musik Erfolg hat, bleibt genauso nebulös wie die Zukunft des Saxofonisten, der sein Gesicht operieren lässt. Wer hässlich ist, hat im Musikbusiness keinen Erfolg. Das alles bleibt im Verborgenen, ist aber auch nicht relevant. Wichtig allein sind die Beziehungen, die aufgrund von Musik entstehen. Sie können jahrelang andauern, Eifersucht hervorrufen, flüchtig sein oder zu Trennungen führen: Musik ist ein großer Bestandteil menschlichen Lebens.
Geschickt lässt der britische Autor japanischer Herkunft seine Figuren in mehreren Geschichten auftreten (und sei es nur andeutungsweise). Seine Sprache ist geradlinig, simpel und unterliegt einer eigenen Melodik, der man sich nicht entziehen kann. Das einzige Manko des Buches liegt in seiner Kürze. Wenn das mal keine Ironie ist.
Gibts natürlich auch hier.
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Schlagwörter: Dominick Birdsey, Literatur, Rezensionen
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