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Judith Hermann: Alice. S. Fischer-Verlag, Frankfurt, 192 Seiten, 18.95 Euro.
Spinnennetze sind kleine Kunstwerke unterschiedlichster Formen und Funktionsweisen. Verwoben, versponnen und wunderschön anzusehen. In Judith Hermanns drittem Erzählband „Alice“ haben Spinnennetze in jeder der fünf Kurzgeschichten eine Funktion.
In der ersten erzählt Alice von ihrer Trennung von Micha. An ihrem letzten gemeinsamen Abend webt eine kleine Spinne zwischen zwei Bierflaschenhälsen ihr Netz. „Ihm tats leid, sagte Alice. Es tat ihm leid, ihr Werk zerstören zu müssen“. Andeutungen, Ambiguität, Ambivalenz: hintergründig mit Netz und doppeltem Boden.
„Alice“ ist der dritte Erzählband der Berlinerin Judith Hermann. Im Gegensatz zu „Sommerhaus, später“ und „Nichts als Gespenster“ hängen die Geschichten diesmal unmittelbar zusammen: Sie erzählen fünf Stationen aus dem Leben von Alice, einer Frau in den Vierzigern. Jede Episode ist mit einem Männernamen betitelt und handelt vom Tod dieser Person. Ob Selbstmord oder kurze Krankheit: Alice ist mit dem Sterben konfrontiert. Die Toten evozieren Erinnerungen an Alice eigenes Leben.
Jedes Kapitel dient als Baustein zur Charakterisierung der Hauptfigur. Alice hinterfragt: Wie sind sie gewesen, die Toten? Meistens aber bleibt die Erinnerung genauso blass wie die Protagonistin farblos. Fahl sind fast alle Charaktere und das hat bei Hermann Methode. In der Namensgebung wählt sie anonyme Varianten. Die Figuren heißen „der Rumäne“ oder bleiben wie das Kind von Maja und Micha ganz namenlos. Wie die Erzählerin sagt, sind ihre Figuren wie „Astronauten, es gibt nirgends einen Halt“. Sie bleiben schemenhaft und skizziert. Dazu passt Hermanns minimalistische Sprache.
Wenig Adjektive, dominierende Substantive. In den Kurzgeschichten ist viel Traurigkeit, viel Leere und viel Schweigen. Mitunter wirken sie kalt, karg, aber kunstvoll. Leider sind die Erzählungen von unterschiedlicher Dichte und Atmosphäre. Und gerade das letzte Kapitel missrät aufgrund seiner bemühten Konstruktion. Schlecht ist das Buch dennoch nicht. Denn in Judith Hermanns Erzählungen verfangen sich die Leser schnell. Wie in Spinnennetzen.
Nachzulesen wie immer auch hier.
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