Ich höre gerade: Disco

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  • #11930017  | PERMALINK

    friedrich

    Registriert seit: 28.06.2008

    Beiträge: 4,879

    Ich tu das mal hier hin:

    @zoji

    friedrichDisco habe ich selbst nur nebenbei in der Kindheit und frühen Jugend miterlebt. (…)Ich habe Disco eigentlich erst im Nachhinein besser kennengelernt. In den 80ern habe ich z.B. eine billige George McCrae Best Of gekauft, auf der die hypnotische 6:00-Version von Rock Your Baby drauf war. Das war auf Partys der Knaller! Und dann war da auch noch diese trashige 3-LP-Box. Da war auch noch Dancing Machine von den Jacksons, Rock The Boat, You Sexy Thing und einiges anderes drauf (…) Anita Ward mit Ring My Bell hatte ich mal als 2nd-Hand Single. Vielleicht liegt die sogar noch irgendwo im Schrank.

    Na ja, ich selbst wünsche mir doch eine schön gemachte Disco-Compi. Eine trashige Verpackung lässt auch den Inhalt trashig erscheinen. Dabei ist Disco doch glitzernd und glamourös! (…) Ich habe noch einen funky Disco-Track anzubieten. Kenne ich von dem amüsanten Soundtrack des haarsträubenden P. T. Anderson-Films Boogie Nights. Der Titel Boogie Nights ist mindestens zweideutig. Commodores – Machine Gun (1974)(…)

    Oje, so groß wollte ich das Thema gar nicht aufziehen. Freue mich aber natürlich, dazu noch einmal etwas von Dir zu lesen.

    Linguistisch vielleicht nicht korrekt, aber gerade „glitzernd und glamourös“ verbinde ich mit Vordergründig- bis Trashigkeit, jedenfalls nicht mit gehobenen Stilempfinden und Eleganz. Und auch, wenn ich das nicht live erlebt habe, ging es vermutlich in den Dorfdiscos bei mir alles andere als glitzernd und glamourös zu. Da passt für mich so eine, bzw. zwei, Billig-Compis dann gerade wieder gut. Tatsächlich ist mir die Darreichungsform nicht einmal bei Musik, die mir mehr bedeutet sonderlich wichtig, hochwertige und -preisige Boxen habe ich praktisch gar nicht, bin sehr auf die Musik selbst fixiert, ausgerechnet bei Disco damit zu beginnen wäre in meinem Fall schon ziemlich ironisch.

    Du dürftest ein paar wenige Jahre älter sein als ich, das prägt vermutlich gerade in diesem speziellem Fall auch den Blick darauf. Als Musik für mich identitätsstiftend wurde war die Discowelle weitgehend ausgeschwappt. Trotzdem habe auch ich dann in den ersten Jahren keine Gelegenheit der Verächtlichmachung ausgelassen, das gehörte halt dazu, sich in der selbst gewählten und als relevant erachteten peergroup eine Reputation aufzubauen. Ganz aufrichtig war ich dabei nicht, vor allem habe ich das abgelehnt, wofür Disco stand, also meine jugendliche, mittlerweile überarbeitete Interpretation davon, während mir die Musik weiterhin ganz gut gefiel. (…) Ich war zu jung und auch zu desinteressiert, um mir Gedanken darüber zu machen, dass es auch etwas anderes geben könnte. Eigentlich war das nicht einmal der Soundtrack, sondern eben einfach nur die Hintergrundmusik meiner Kindheit, angenehm, aber nicht relevant. (…) Dass und warum ein nostalgischer, sentimentaler Zugang gar, zu Kunst von Musik-, bzw., ich würde erweitern, Kultur-Nerds abgelehnt wird ist mir bewusst, z.T. auch verständlich, wird von mir aber auch mit nonchalanten Schulterzucken quittiert. (…)

    (…) Ring My Bell geht mir mehr auf die Nerven. Rock Your Baby finde ich super, erinnere mich, dass ich das in einer Derrick-Folge gehört habe und das in Zusammenhang mit den Bildern ziemlich beeindruckend und cool fand, was man eben so als ungefähr Siebenjähriger für ein Coolness-Verständnis hat. Und wenn man das Video sieht finde ich das schon witzig und charmant, ein bisschen Glitzer, ein wenig Glamour, aber eben auch ein bisschen schmierig. Insofern schließt sich da für mich der Kreis. Die Billig-Compis bleiben für mich adäquat. (…)

    Sicher war Disco mehr Strass als Diamant und mehr Operette als Oper – und das ist auch gut so! Wir sprechen von Hedonismus und dem Rausch des Augenblicks, vielleicht einer ganzen Samstagnacht. Aber gerade darum muss es ja umso stärker strahlen und glitzern!

    Ich selbst finde eine gegenseitig befruchtende Verbindung von Musik und Bild , eine schöne Rahmung sehr reizvoll. Aber das sieht / hört wohl jeder anders.

    Disco habe ich wie gesagt auch erst im Nachhinein näher kennengelernt bzw. lerne es noch kennen. Zu Beginn der Discowelle – Mitte der 70er – war ich noch zu jung, Saturday Night Fever fiel vielleicht noch in die Phase, wo ich anfing mich „ernsthaft“ für Musk zu interessieren. Aber da waren wir viel zu verkopft, steif und snobistisch, um uns auf Disco einzulassen.

    Ich frage mich, ob damals überhaupt irgendjemand Disco als relevant empfunden und darüber reflektiert hat? Dafür war diese Musik nicht gemacht. Aber das heißt ja nicht, dass man sie nicht aus der Distanz von einigen Jahren oder Jahrzehnten bewusst wertschätzen und darüber philosophieren kann. Hat in den 50ern jemand über Elvis philosophiert? Da galt R’n’R als Trash, Wegwerfware für Teenager. Später bezeichnete Leonard Bernstein Elvis als die stärkste kulturelle Kraft des 20. Jahrhunderts. Aber ich schweife ab … Ist doch oft so, dass der Schund der Gegenwart in der Zukunft als große Kunst erkannt wird. Was einen aber nicht daran hindern sollte, mit diesem Schund im Hier und Jetzt seinen Spaß zu haben. Vielleicht gehört zum Spaß auch mal ein bisschen billiger Glitzer und Zuckerguss, meinetwegen auch Schmiere dazu.

    In diesem Sinne: Genug geschwätzt! Das hier hatte (vielleicht habe ich sogar noch) als gebrauchte Single für 50 Pfennig im Pattenregal stehen:

    Tina Charles – I Love To Love (1976)

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    „Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)
    Highlights von Rolling-Stone.de
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    #11930059  | PERMALINK

    soulpope
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    Interessante Gedanken …. die Relevanz war damals für Disco kein Thema, eher die Urgenz für das Hier und Jetzt (zumindest aus Sicht der „dance crowd“) …. und aus Sicht der Produzenten und Musiker Quelle von Geschäft und (Tages)brotwerb ….

    Trotz dieser wenig ambitioniert erscheinenden Ausgangsposition haben überraschend viele Disco Hymnen den „test of time“ bestanden …. wahrscheinlich weil diese Musik nicht mehr sein wollte als sie war ….

    Und Tina Charles …. Liebe in Bewegung ….

    Btw scheen, falls wir den Thread a bissl beleben könnten ….

    --

      "Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit" (K. Valentin)
    #11930095  | PERMALINK

    soulpope
    "Ever Since The World Ended, I Don`t Get Out As Much"

    Registriert seit: 02.12.2013

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    Zum Thema unbekannte(re) Disco Hymnen …. :

    Arnie Love & The Lovettes „We`ve Had Enough“ (TAP Records)       1981 …. btw schon der knackige Einstieg bringt „a lof of fun(k)“ ….

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      "Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit" (K. Valentin)
    #11931191  | PERMALINK

    friedrich

    Registriert seit: 28.06.2008

    Beiträge: 4,879

    soulpopeInteressante Gedanken …. die Relevanz war damals für Disco kein Thema, eher die Urgenz für das Hier und Jetzt (zumindest aus Sicht der „dance crowd“) …. und aus Sicht der Produzenten und Musiker Quelle von Geschäft und (Tages)brotwerb ….
    Trotz dieser wenig ambitioniert erscheinenden Ausgangsposition haben überraschend viele Disco Hymnen den „test of time“ bestanden …. wahrscheinlich weil diese Musik nicht mehr sein wollte als sie war ….
    Und Tina Charles …. Liebe in Bewegung ….
    Btw scheen, falls wir den Thread a bissl beleben könnten ….

    Nee, „Relevanz“ war auch bei Elvis kein Thema. Der sang, weil er singen wollte. Und er sang so, wie er singen wollte. Da gab es keinen Anspruch, aber Druck.

    Ob Disco aus einer wirtschaftlichen Motivation heraus entstanden ist? Sicher nicht in seiner frühen Form, als es ein subkulturelles Phänomen der black, latin und gay crowd war. Und ob bei späteren Disco-Sachen auch kommerzielle Erwägungen ausschlaggebend waren? Die Plattenfirmen haben sich sicher über jeden Hit gefreut, aber ich würde sogar den Bee Gees unterstellen, dass sie die Musik aus Freude an der Musik gemacht haben. Und selbst wenn: Eigentlich kann es uns doch nur recht sein, dass die professionelle Popmusik-Maschinerie solch großartige Disco-Tracks produzierte. Und wenn diese Ware den „test of time“ besteht – umso besser!

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    „Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)
    #11931443  | PERMALINK

    herr-rossi
    Moderator
    -

    Registriert seit: 15.05.2005

    Beiträge: 85,021

    In dem großen „Disco“-Topf wird halt vieles zusammengeworfen, was doch bei näherer Betrachtung recht unterschiedlich ist. Zwischen den hocheleganten und musikalisch innovativen Aufnahmen von Chic bzw. Rogers/Edwards und Novelty-Abstrusitäten wie Rick Dees berüchtigtem „Disco Duck“ lagen doch Welten. Erstere waren popkulturelle Statements, die über alle Genre-Grenzen hinaus einflussreich waren, und letzteres einfach ein Dranhängen an einen Trend. Ähnliches ist es mit der Disco-Kultur – auch zwischen dem Studio 54 und der Dorf-Disco in Schrobenhausen lagen Welten.

    Disco war von seinem Ursprung her tatsächlich Musik einer Subkultur, die so ganz anders war als die in den frühen 70ern kulturell dominierende Rock-Szene (vorrangig weiß, männlich, hetero, Ausnahmen bestätigten die Regel). Das gab dem „Disco Sucks“-Backlash und der berüchtigten Disco Demolition Night von 1979 einen unangenehmen Beigeschmack, auch wenn zu dem Zeitpunkt Disco tatsächlich alles beherrschte und der Markt übersättigt war.

    Disco hat natürlich auch viele Glücksritter weltweit angezogen. Nachdem er sich mit seinem Erfolgspartner Michael Holm zerstritten hatte (es ging um eine Frau), hat beispielsweise Giorgio Moroder das Schlager-Schiff, dessen Sinken abzusehen war, verlassen und auf dem Disco-Dampfer angeheuert (excuse the pun ;)). Da er aber Krautrock-Erfahrungen mit ins Spiel brachte und mit Donna Summer eine ganz große Sängerin entdeckte, wurde daraus etwas, was weltweit beeindruckte. Brian Eno hörte nicht umsonst den Sound der Zukunft, als er erstmals „I Feel Love“ hörte.

    Hinter „I Love To Love“ (das für mich eher disco-fizierter Girl Pop als ein „richtiger“ Disco-Track ist) steckte auch eine interessante Persönlichkeit, der Londoner Produzent Biddu, dem wir auch „Kung-Fu Fighting“ verdanken. Er stammte aus Indien und hat nach dem Ende der Disco-Ära viele indische und ostasiatische Künstler produziert.

    1976 hörte man in Island auch erstmals eine Stimme im Radio, die quasi zum Markenzeichen des Landes wurden. Und was sang sie … ? :)

    --

    #11931463  | PERMALINK

    soulpope
    "Ever Since The World Ended, I Don`t Get Out As Much"

    Registriert seit: 02.12.2013

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    @ „herr-rossi“ : interessante Betrachtungen und Differenzierung …. aber immanent war de facto immer der Augenblick und die Bewegung …. wie meinte doch (bereits discobeeinflusst) Leo Sayer „You make me feel like dancing“ ….

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      "Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit" (K. Valentin)
    #11931471  | PERMALINK

    krautathaus

    Registriert seit: 18.09.2004

    Beiträge: 25,897

    @herr-rossi danke für die kleine Exkursion, immer ein Spaß zum lesen. Der Discostil wurde gegen Ende der 70s dann von der Rockmusik mit Erfolg adaptiert, z.B. Miss You der Rolling Stones oder später Kiss – I was made for loving you, zu dem ich nicht nur meine zweite Freundin kennenlernte, sondern damals ein echter Knaller in den hiesigen Discotheken war. Ein paar Beispiele von Rockinterpreten mit Disconummern.

    Erst kürzlich hab ich mich mit der Gitarre an der Hand mit dem eigentlich einfachen Riff von Bee Gees Stayin Alive gemacht um festzustellen, dass die meisten YouTuber / Erklärbären das um eine Note falsch spielen. Sagenhaft toll produzierte Nummer.

    --

    “It's much harder to be a liberal than a conservative. Why? Because it is easier to give someone the finger than a helping hand.” — Mike Royko
    #11931475  | PERMALINK

    august-ramone
    Ich habe fertig!

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    Beiträge: 62,204

    @herr-rossi, Danke schön für deine Beschreibung. Sehr interessant, insbesondere wenn man zu dem Thema nichts weiss weil man es ignoriert hat. Wie so vieles.

    --

    http://www.radiostonefm.de/ Wenn es um Menschenleben geht, ist es zweitrangig, dass der Dax einbricht und das Bruttoinlandsprodukt schrumpft.
    #11931485  | PERMALINK

    soulpope
    "Ever Since The World Ended, I Don`t Get Out As Much"

    Registriert seit: 02.12.2013

    Beiträge: 56,402

    Um hier im vielschichtigen Groove zu bleiben …. :

    Norman Connors feat Prince Phillip Mitchell „Once Ive Been There“ (Buddah)   1977 …. Norman Connors war in den frühen 70ern ein nachgefragter Free Jazz Drummer, welcher dann aber sukzessive in den Crossover Bereich kommerzieller Musik vexierte, ohne jedoch den Jazzbereich komplett zu verlassen …. während sich auf dem Vorgängeralbum schon der Hit „You`re My Starship“ (btw produziert/gesungen von Michal Henderson) befand, holte Norman Connors für das „Romantic Journey“ Album den sehr famosen Southern Soul Sänger und Songwriter Prince Phillip Mitchell „an Bord“ und dies resultierte in einem der besten Disco Tracks …. ever …. den aber nur wenige kennen …. und ja, es gilt „once Ive been there“ …

    --

      "Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit" (K. Valentin)
    #11931525  | PERMALINK

    friedrich

    Registriert seit: 28.06.2008

    Beiträge: 4,879

    Danke @herr-rossi!

    herr-rossi Brian Eno hörte nicht umsonst den Sound der Zukunft, als er erstmals „I Feel Love“ hörte.

    Hinter „I Love To Love“ (das für mich eher disco-fizierter Girl Pop als ein „richtiger“ Disco-Track ist) steckte auch eine interessante Persönlichkeit, der Londoner Produzent Biddu, dem wir auch „Kung-Fu Fighting“ verdanken.

    Und da war Synth Pop gerade mal am Horizont zu erkennen und Techno noch nicht mal zu erahnen.

    Stimmt, I Love To Love ist Girl Pop mit Disco Groove. Tina Charles tritt ja auch herzallerliebst mädchenhaft und unschuldig auf. Aber ist ein toller Hit!

    Klar, Trittbrettfahrer und Rip Off gibt es immer. Und irgendwann endet alles im Ballermann.

    Diese Disco Demolition Night ist natürlich unsäglich. Die Übersättigung des Publikums ist zwar nachvollziehbar, die prinzipielle Ablehnung von Disco aber ziemlich doof. Und so eine Schallplattenverbrennung ist völlig tabu …

    --

    „Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)
    #11931853  | PERMALINK

    zoji

    Registriert seit: 04.10.2017

    Beiträge: 6,166

    Ach, es gibt einen Thread zum Thema …

    Sollte ich mit meiner Anmerkung „nicht relevant“ die Diskussion angestoßen haben, beruht das auf einem Missverständnis. Ich fühle mich auch heute in keiner Weise berufen, Disco Relevanz zu- oder abzusprechen. Gemeint hatte ich damit, dass Musik insgesamt für mich als Grundschüler nichts war, was mich beschäftigt hätte. Relevanz hatte für mich Lego, Carrera, Modellbau und Matchbox, Spielzeugknarren, FußballFußballFußball, auch wenn´s wehtut Dieter Hallervorden, und noch so dies und das. Darüber habe ich mir Gedanken gemacht, nicht über Musik, erst recht nicht über den Status von Disco im Verhältnis zu anderer Musik.

    „Hedonismus“ und „Spaß“ sind natürlich genau die Inhalte, die dann in meiner Jugend verpönt waren.  Da sollte Musik irgendeine darüber hinausweisende Bedeutung haben. Das meinte ich auch damit, dass sich meine Perspektive geändert hat. Es dauerte aber mindestens bis in meine Mittzwanziger, eher etwas länger, dass ich die Idee, Musik dürfe auch mal drei, vier Minuten oder auch eine ganze Nacht lang einfach nur Spaß machen, nicht nur als legitim, sondern gar wünschenswert anerkannte.

    Kommerzialisierung war natürlich ein weiterer wesentlicher Aspekt der Ablehnung. Die von friedrich und rossi skizzierte Herkunft ist mir bekannt, dennoch schwanke ich immer ein bisschen, Disco mal als natürliche Evolutions-, dann wieder eher als kommerzialisierte Schwundstufe von Soul, Funk und anderen Einflüssen wahrzunehmen. Vielleicht liegt das auch daran, dass ich die wirklich ersten Disconummern gar nicht kenne, weil sie noch keine großen Hits waren? Unabhängig davon, ob Disco in der Baumstruktur, in der ich mir Musikgeschichte vorstelle, ein Ast oder ein Zweig ist, ist mir aber nicht klar, inwiefern sich diesbezüglich hier überhaupt etwas besonders spezifisches abgespielt haben soll. Für mein Empfinden hat jede halbwegs erfolgreiche Musik der letzten 100 Jahre, selbst wenn der Erfolg auf Nischen beschränkt blieb, auch kommerzielle Triebe ausgebildet. Stört mich auch nicht mehr. Früher stellte ich mir Kommerz vs. lautere Kunst als dualistisches On/Off vor, inzwischen sehe ich darin eher einen gigantischen stufenlosen Dimmer. „Kommerz“ als Kampfbegriff zur pauschalen Negierung künstlerischer Qualität und Integrität nehme ich daher heute auch eher als formelhaften und ausgebrannten Reflex wahr.

    Tina Charles ist schon nett, weiß gar nicht, ob das auf meinen Trash-Samplern enthalten ist. Würde ich aber auch nicht sonderlich vermissen. Einerseits identifiziere ich das natürlich sofort als „irgendwie Disco“, andererseits fehlt es dann doch an Druck und Funky- und Sexyness, gelegentlich an der Grenze zur Pornösität, die ich damit verbinde. Im Funk-Thread verlinkte friedrich neulich zu „Boogie Nights“, das passt für mich perfekt. Charles fällt so in die Kategorie niedlich. Sie strahlt aus „ich kuschel gerne mit meinem Boyfriend“, im Vergleich gibt sich George McCrae zwar immer noch sanft, aber mit einem deutlichen Unterton von „ouh, ich habe heute noch Geschlechtsverkehr“. Jenseits des Nostalgiefaktors stehen die beiden von soulpope eingestellten Tracks für mich daher auch viel deutlicher für meine Vorstellung von Disco.

    Aber nochmal, ich quatsche hier nur so rum auf Basis von Kindheitserinnerungen, Kenntnis der Smash Hits und zweier Billig-Compis.

    Ich schließe mal mit meinen beiden Lieblings-Quasi-Disco-Tracks eines der Herkunft nach Non-Disco-Acts. I love to love.

    --

    Und lieg´ich dereinst auf der Bahre, dann denkt an meine Guitahre, und gebt sie mir mit in mein Grab (Der rührselige Cowboy, D. Duck)
    #11931865  | PERMALINK

    soulpope
    "Ever Since The World Ended, I Don`t Get Out As Much"

    Registriert seit: 02.12.2013

    Beiträge: 56,402

    zoji …. Jenseits des Nostalgiefaktors stehen die beiden von soulpope eingestellten Tracks für mich daher auch viel deutlicher für meine Vorstellung von Disco ….

    Fein …. ich hätte mich natürlich auch an einer vertieften Diskussion eingestellter Tracks erfreut, denn da gibt’s schon Anknüpfungspunkte in diverse Richtungen …. aber vielleicht kommen wir ja noch später dazu, Hauptsache Disco lebt hier auf ….

    --

      "Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit" (K. Valentin)
    #11931917  | PERMALINK

    herr-rossi
    Moderator
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    Registriert seit: 15.05.2005

    Beiträge: 85,021

    soulpope@ „herr-rossi“ : interessante Betrachtungen und Differenzierung …. aber immanent war de facto immer der Augenblick und die Bewegung ….

    Das stimmt, aber war/ist das nur bei Disco so? Ich meine, es ist ein Kennzeichen lebendiger Popkultur, dass man im Hier und Jetzt Musik macht und nicht für die Geschichtsbücher. Die ganze R&B-/Soul-Szene war doch nach meinem Eindruck ein Tagesgeschäft, weswegen Singles auch noch lange die dominante Veröffentlichungsform waren. Es galt immer, dem Trend auf heißer Spur zu sein oder noch besser, Trends zu setzen. Man wollte Hits, Hits, Hits, mindestens für die R&B-Charts. Für die beteiligten Musiker, Produzenten, Songschreiber war es eben auch ein Business. Man denke doch nur an die Sessionmusiker wie die Wrecking Crew und die Stax-Hausband, die mussten liefern, Tag für Tag. Und genau aus diesem System ist Disco hervorgegangen, als man feststellte, dass die Clubs/Discos bestimmte Soul-/R&B-/Funk-Titel liebten, weil sie episch lang waren, hypnotisch und schwelgerisch, zugleich eskapistisch, aber auch selbstermächtigend, denn die Discos waren in den USA ein Safe Space für diejenigen, die nicht in den von weißen Heteros definierten kulturellen Rahmen passten. Die DJs machten die Hits, zunächst für die Club-Szene und dann sehr schnell auch für die Charts. Als die Produzenten und Künstler das verstanden hatten, gab es kein Halten mehr, da wolle so ziemlich jeder dabei sein.

    --

    #11931921  | PERMALINK

    herr-rossi
    Moderator
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    Registriert seit: 15.05.2005

    Beiträge: 85,021

    zojiFrüher stellte ich mir Kommerz vs. lautere Kunst als dualistisches On/Off vor, inzwischen sehe ich darin eher einen gigantischen stufenlosen Dimmer. „Kommerz“ als Kampfbegriff zur pauschalen Negierung künstlerischer Qualität und Integrität nehme ich daher heute auch eher als formelhaften und ausgebrannten Reflex wahr.

    Ja, schön beschrieben!

    Vielleicht liegt das auch daran, dass ich die wirklich ersten Disconummern gar nicht kenne, weil sie noch keine großen Hits waren?

    Weiß nicht, die meisten wegweisenden Disco-Tracks waren auch Mainstream-Erfolge, schon in der Anfangsphase. Natürlich gibt es Deep Cuts, aber wenn einem beispielsweise „The Love I Lost“, „Love’s Theme“, „Rock Your Baby“, „Don’t Leave Me This Way“, „Never Can Say Goodbye“, „I Feel Love“, „Disco Inferno“, „Boogie Nights“, „Stayin‘ Alive“, „You Make Me Feel Mighty Real“, „Le Freak“, „We Are Family“, „I’m Coming Out“, „Funky Town“ usw. usw. keine Glücksgefühle vermitteln, wird einem das vermutlich auch nicht weiterhelfen.:)

    Wichtiger ist, ein Gefühl dafür zu bekommen, was der real deal war, und was – oftmals durchaus sympathische – Aneignungen, wie Du das für Tina Charles ja zutreffend beschreibst. Tja, und „Trash“ – ich würde unterscheiden zwischen dem wirklichen Billigkram, der einfach nur versuchte, auf dem Trend mitzuschwimmen (das parodistisch gemeinte „Disco Duck“ ist das Paradebeispiel), und dem bewusst geschmacklosen, überkandidelten (Art) Trash a la Divine („Shoot Your Shot“).

    --

    #11931931  | PERMALINK

    soulpope
    "Ever Since The World Ended, I Don`t Get Out As Much"

    Registriert seit: 02.12.2013

    Beiträge: 56,402

    herr-rossi

    soulpope@ „herr-rossi“ : interessante Betrachtungen und Differenzierung …. aber immanent war de facto immer der Augenblick und die Bewegung ….

    Das stimmt, aber war/ist das nur bei Disco so? Ich meine, es ist ein Kennzeichen lebendiger Popkultur, dass man im Hier und Jetzt Musik macht und nicht für die Geschichtsbücher. Die ganze R&B-/Soul-Szene war doch nach meinem Eindruck ein Tagesgeschäft, weswegen Singles auch noch lange die dominante Veröffentlichungsform waren. Es galt immer, dem Trend auf heißer Spur zu sein oder noch besser, Trends zu setzen. Man wollte Hits, Hits, Hits, mindestens für die R&B-Charts. Für die beteiligten Musiker, Produzenten, Songschreiber war es eben auch ein Business. Man denke doch nur an die Sessionmusiker wie die Wrecking Crew und die Stax-Hausband, die mussten liefern, Tag für Tag. Und genau aus diesem System ist Disco hervorgegangen, als man feststellte, dass die Clubs/Discos bestimmte Soul-/R&B-/Funk-Titel liebten, weil sie episch lang waren, hypnotisch und schwelgerisch, zugleich eskapistisch, aber auch selbstermächtigend, denn die Discos waren in den USA ein Safe Space für diejenigen, die nicht in den von weißen Heteros definierten kulturellen Rahmen passten. Die DJs machten die Hits, zunächst für die Club-Szene und dann sehr schnell auch für die Charts. Als die Produzenten und Künstler das verstanden hatten, gab es kein Halten mehr, da wolle so ziemlich jeder dabei sein.

    Guten Morgen, fraglos wurde zumeist unterschiedlichste Musik für den Augenblick bar jedem Gedanken an Geschichtsbücher geschaffen …. aber seitens der Rezipienten wurde das Lebensgefühl des Augenblicks und (treffend ausgedrückt) des „sich in die Nacht wegtanzen aka in Bewegung auflösen wollens“ mit dieser Musik das erste Mal hervorgerufen …. nach dem Motto Sylvester „You Make Me Feel (Mighty Real)“ …. das bleibt für mich – in den 70ern @ einer Großstadt die zwar geographisch westlich aber von der „Freiheit“ her östlich des Eisernen Vorhanges lag aufwachsend – so in Erinnerung …. die Entwicklung von Disco dann so wie von Dir beschrieben ….

    --

      "Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit" (K. Valentin)
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