Andrew Hill

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  • #7893677  | PERMALINK

    thelonica

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    Ja, bitte weitermachen.
    Ich bin jetzt schon sehr gespannt, was es zu „Andrew!!!“ und „Compulsion“ zu sagen gibt, vor allem wegen der Mitwirkung von John Gilmore.
    Die Hintergründe dazu würden mich sehr interessieren (s. auch Pat Patrick).

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    #7893679  | PERMALINK

    redbeansandrice

    Registriert seit: 14.08.2009

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    clasjaz
    Das Ganze ist noch sehr linear gespielt, später scheint mir Hill viel mehr und immer „aufschichten“ zu wollen, also vertikal zu spielen, zu komponieren.

    ja, das lag mir auch sehr auf der Zunge, so vage es ist, dass hier noch Sachen nebeneinanderstehen, die später, naja, nicht mehr nebeneinanderstehen sollten…

    bin jetzt auch im zweiten Durchgang von Black Fire… auch mir fällt Joe Hendersons Rolle sehr auf, schwer das an irgendwas festzumachen, er wirkt tatsächlich ziemlich eingeschränkt, schon wenn er die Themen vorstellt… stärker im Hintergrund als das auf so einem Tenor-Quartett-Album üblich ist… und ich seh erst mal nicht, wo dabei das Problem sein soll, ist ja auch so genug los… und ich wüsst auch nicht, welcher Tenorist jender Jahre für diese Rolle wirklich besser geeignet gewesen wäre, er hat ja enorm breites Spektrum von Coltrane-artiger Intensität zu Spielweisen, die eine klassische Ausbildung durchscheinen lassen (ob er die wirklich hat, weiß ich nicht (glaub schon), ist ja auch egal hierfür) und ich tendier ja stark dazu, das intendiert zu finden – dass es geplant war, einen Teil der Freiheit von Henderson rüber zu Haynes zu schieben…

    hier ist eine ganz gute Rezension von Charles Fox für Gramophone, ist eigentlich das meiste schon drin…

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    #7893681  | PERMALINK

    nail75

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    Beiträge: 45,052

    redbeansandrice
    bin jetzt auch im zweiten Durchgang von Black Fire… auch mir fällt Joe Hendersons Rolle sehr auf, schwer das an irgendwas festzumachen, er wirkt tatsächlich ziemlich eingeschränkt, schon wenn er die Themen vorstellt… stärker im Hintergrund als das auf so einem Tenor-Quartett-Album üblich ist… und ich seh erst mal nicht, wo dabei das Problem sein soll, ist ja auch so genug los…

    Ja, allerdings! Es ist genug los!

    und ich wüsst auch nicht, welcher Tenorist jender Jahre für diese Rolle wirklich besser geeignet gewesen wäre, er hat ja enorm breites Spektrum von Coltrane-artiger Intensität zu Spielweisen, die eine klassische Ausbildung durchscheinen lassen (ob er die wirklich hat, weiß ich nicht (glaub schon), ist ja auch egal hierfür) und ich tendier ja stark dazu, das intendiert zu finden – dass es geplant war, einen Teil der Freiheit von Henderson rüber zu Haynes zu schieben…

    Vielleicht Coltrane?

    gypsy tail wind
    Die Session wirkt auf mich insgesamt zwingender, geschlossener als das Debut-Album. Zugleich ist die Musik sperriger, komplexer, an der Oberfläche weniger abwechslungsreich und weniger direkt ansprechend was den Klang der Gruppe betrifft, wenn man aber davon absieht und sich in die Musik versenkt, eintaucht in diese so eigene Klangwelt, dann gehört sie für mich zu den schönsten von Hills Aufnahmen, es gibt sehr viel zu entdecken, die Musik ist facettenreich und enorm atmosphärisch.

    Die Beschreibung erhält viel Wahres, aber dennoch empfinde ich das Album als sein schwächstes Werk. Es erscheint mir abwechselnd unfokussiert und anstrengend zu sein, ist klanglich wenig interessant (im Gegensatz zu Black Fire, wo es Hendersons Rolle war, für etwas Leben zu sorgen) und der Einsatz des gestrichenen Basses ist – wie immer im Jazz – ein riesiger Fehler, weil die flächigen Klänge alle übrigen Differenzierungen unter einer Wolldecke verbergen. Außerdem bezeichnet das Album den Punkt, wo Hill mir wirklich zu akademisch wird und die Balance zwischen Hirn und Herz (;-)) nicht gegeben ist.

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    Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.
    #7893683  | PERMALINK

    redbeansandrice

    Registriert seit: 14.08.2009

    Beiträge: 13,940

    nail75
    Vielleicht Coltrane?

    wenn schon in die vollen, dann glaub ich ja fast, dass Sonny Rollins das noch besser gemacht hätte…

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    #7893685  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Registriert seit: 25.01.2010

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    nail75Die Beschreibung erhält viel Wahres, aber dennoch empfinde ich das Album als sein schwächstes Werk. Es erscheint mir abwechselnd unfokussiert und anstrengend zu sein, ist klanglich wenig interessant (im Gegensatz zu Black Fire, wo es Hendersons Rolle war, für etwas Leben zu sorgen) und der Einsatz des gestrichenen Basses ist – wie immer im Jazz – ein riesiger Fehler, weil die flächigen Klänge alle übrigen Differenzierungen unter einer Wolldecke verbergen. Außerdem bezeichnet das Album den Punkt, wo Hill mir wirklich zu akademisch wird und die Balance zwischen Hirn und Herz (;-)) nicht gegeben ist.

    Da werden wir uns wohl nicht einig – erst recht nicht, was den gestrichenen Bass betrifft! Ist bestimmt nicht etwas, was ich dauernd und in jeder Band würde hören wollen – aber ganz drauf zu verzichten fände.

    redbeansandricewenn schon in die vollen, dann glaub ich ja fast, dass Sonny Rollins das noch besser gemacht hätte…

    Das ist ein interessantes Gedankenspiel!
    Allerdings war Rollins ja in dieser Zeit am Besitzstandwaren (The Bridge) und machte dann seine eigenen, nur innerhalb der Improvisationen strukturierten Ausflüge in avantgardistische Gefilde… Der Rollins von 1955-57 hätte allerdings perfekt in die Hill’sche Welt passen können!

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #158 – Piano Jazz 2024 - 19.12.2024 – 20:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #7893687  | PERMALINK

    bicho

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    nail75Die Beschreibung erhält viel Wahres, aber dennoch empfinde ich das Album als sein schwächstes Werk. Es erscheint mir abwechselnd unfokussiert und anstrengend zu sein, ist klanglich wenig interessant (im Gegensatz zu Black Fire, wo es Hendersons Rolle war, für etwas Leben zu sorgen) und der Einsatz des gestrichenen Basses ist – wie immer im Jazz – ein riesiger Fehler, weil die flächigen Klänge alle übrigen Differenzierungen unter einer Wolldecke verbergen. Außerdem bezeichnet das Album den Punkt, wo Hill mir wirklich zu akademisch wird und die Balance zwischen Hirn und Herz (;-)) nicht gegeben ist.

    gypsy tail windDa werden wir uns wohl nicht einig – erst recht nicht, was den gestrichenen Bass betrifft! Ist bestimmt nicht etwas, was ich dauernd und in jeder Band würde hören wollen – aber ganz drauf zu verzichten fände.

    Ich kenne bisher noch zu wenig, um „Smokestack“ insgesamt einordnen zu können, aber von seinen ersten 5 Alben (ohne „So in love…“) gefällt es mir auch am wenigsten, obwohl mich sperrige Musik ansonsten eher anzieht, als abstößt.
    Werde es mir heute mal wieder anhören…
    Was den gestrichenen Bass angeht, bin jedoch wieder gypsys Meinung.

    Ich bin mal gespannt auf das Review zu „Blue Black“, das Album steht derzeit ganz oben auf meiner Hill-Wishlist.

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    #7893689  | PERMALINK

    redbeansandrice

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    entschuldigt, falls gypsy (oder redbeans) den link schon gepostet hat, aber dieses Hill Interview ist einfach zu schön… Hill über seine jungen Jahre in Chicago (link), „I was brilliant and kind of eccentric, even then.“

    bis zu einem gewissen Grad, erklärt das ja auch, dass Gilmore und Patrick bei Hill mitspielen durften, Sun Ra hatte offenbar immer etwas den Daumen drauf, was Sideman-Auftritte oder Soloalben seiner Leute betraf (ein Wiedertreffen auf Platte von Clifford Jordan und John Gilmore hat er wohl verhindert – gab mal einen langen Thread auf organissimo, aber der wurde am Ende recht hässlich und ist evtl nicht mehr da…), aber hier handelte es sich um einen alten Klassenkameraden (von Gilmore und vielen, Captain Dyer’s DuSable High School Band, link), und auch Hill und Ra kannten sich schon seit den 50ern in Chicago…

    [Korrektur: Hill war nicht auf DuSable, aber er kannte die Leute seit der Schulzeit, bleibt eine beeindruckende Schülerliste… Richard Davis dürften sie als auch schon damals gekannt haben…]

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    #7893691  | PERMALINK

    katharsis

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    Andrew Hill hat sich mir bislang immer noch nicht in seiner vollen Größe erschlossen. „Judgement“ ist eines meiner liebsten BN-Alben und hat mich von Beginn an fasziniert, was einerseits am Vibraphon als zusätzliches, „helleres“ Melodieinstrument liegt. Andererseits finde ich, dass dort die emotionalsten Kompositionen zu finden sind.
    „Point of Departure“ dagegen war ein hartes Stück Arbeit, da ich Dorham immer noch etwas deplaziert finde und Dolphy klingt wie ein losgelassener Hund, der sich zuweilen aus Übereifer selbst in den Schwanz beißt. „Black Fire“ höre ich dann wiederum eher aus der Perspektive Henderson‘, weswegen Vergleiche mit seinen anderen Alben dasjenige etwas herabsetzen. Die Band ist aber toll und ich werde den Rat mal befolgen, auf Haynes zu achten, den ich ja sehr schätze.
    „Smokestack“ ist vielleicht die schwierigste Platte, lebt aber wirklich durch das Duett der beiden Bässe. Allerdings habe ich sie schon länger nicht mehr gehört. „Andrew!!!“ sowie „Compulsion“ habe ich als spannend und gut in Erinnerung und werde mal in eine der beiden heute reinhören – ich glaube, „Andrew!!!“ habe ich hier.

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    "There is a wealth of musical richness in the air if we will only pay attention." Grachan Moncur III
    #7893693  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Danke für das Interview – kannte es nicht!
    Interessant die Kommentare zu Haynes, Elvin und Tony Williams!

    Und ich stehe wohl alleine da mit dieser Meinung, aber ich halte „Smokestack“ nicht für verkopfter/akademischer als die anderen Hill-Alben. Es brauchte vielleicht etwas länger, bis es sich mir erschlossen hatte, aber das war’s dann auch schon… für micht gehört es gerade wegen der eingeschränkten Klang-Palette und der daraus resultierenden „Strenge“ zu den schönsten unter Hills Alben!

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    #7893695  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Anfang Januar 1964, genau zwei Monate nach seiner ersten Session für Blue Note, nahm Hill mit Judgment bereits das dritte Album fürs Label auf – und vielleicht das schönste!
    Es erschien im September 1964 als zweites („Smokestack“ wurde ja wie erwähnt erst 1966 veröffentlicht) und präsentiert Hill erneut in einer Quartett-Formation, allerdings sind dieses Mal neben Richard Davis Bobby Hutcherson und Elvin Jones mit dabei.
    Die Session beginnt mit einem ersten (alternate) Take des Titelstückes, das auf einer komplizierten Form beruht: zweimal A (10 Takte, in 4-4-2 unterteilt), dann ein 12-taktiger B-Teil – insgesamt also Standarlänge von 32 Takten, aber wie Bob Belden mal gesagt haben soll: „32 bars the hard way“. Elvin swingt von Beginn an, die Musik ist für Hills Verhältnisse recht hell und unbeschwert, was sich allerdings in seinem Solo dann stellenweise ändert. Auf sein langes Solo folgen kurze Soli von Jones und Hutcherson, wobei Jones von Davis begleitet wird. Der folgende Master Take klingt sehr viel lebendiger, gerade was Elvin Jones‘ Spiel betrifft – er taut richtig auf (soliert auch ohne Davis‘ Leitlinien) und lässt die Trommeln wirbeln, sein dichtes Spiel trifft genau den richtigen Nerv.
    „Flea Flop“ besteht aus 18 Takten, in zwei Teile zu 9 Takten unterteilt. Davis‘ Solo mit Doppelgriffen ist besonders schön, die Atmosphäre insgesamt etwas düsterer als im ersten Stück.
    „Siete Ocho“ ist vielleicht der grosse Klassiker des Albums, wie der Name schon sagt in schnellem 7/8 gespielt (Cuscuna schlägt als Zählhilfe 1-2-3-1-2-3-4 vor, ich würde eher sagen 1-2-3-1-2-3-1, weil das Stück über weite Strecken wie ein 6/8 mit einer angehängten Verschnaufpause funktioniert – zumindest empfinde ich Davis‘ Bass-Ostinato so. Hill und Hutcherson verschmelzen im Thema zu einem einzigen, enorm dichten Gewebe, das Jones auf eindrückliche Weise fortspinnt und ergänzt, während Davis den Boden liefert und die Musik verankert. Hutcherson spielt ein wunderbares Solo, gefolgt von Jones, Hill (mit Begleitung von Hutcherson) und Davis. Wohl das Highlight des Albums! Die Struktur des Stückes ist für einmal übrigens einfacher (dafür ist der Rhythmus schwierig genug!): A und B sind je 8 Takte lang, dann folgt ein 4-taktiger C-Teil.
    Weiter geht’s mit einer Widmung an den Produzenten: „Alfred“. Der A-Teil besteht aus einem 4- und einem 2-taktigen Statement in Bb-Moll, der B-Teil repetiert die ersten vier in B-Moll und dann nochmal wieder in Bb-Moll und hängt dann eine 1-taktige Endung an. Das Thema ist sehr stimmungsvoll, Hill soliert über einen feinen Puls, mit Davis‘ freien Basslinien klingt das oft nach Rubato. Hutcherson begleitet einfühlsam, umspielt Hills langsame Linien. In seinem Solo nimmt Hill dann das Thema auseinander und setzt es wieder zusammen. Es folgt zum Ende Davis – aber in diesem Stück scheinen Solo und Begleitung zu verfliessen und das trägt ganz enorm zum besonderen Zauber bei – eine wunderschöne Einspielung!
    Von „Yokada, Yokada“ wurden zwei Takes fertiggestellt – der Titel ist Hills Bezeichnung für sinnloses Gelaber… ein geschäftiges, dissonantes Thema in 12 Takten mit einem Drum-Break in Takten 8-10, letzten Endes aber – oh Überraschung! – ein konventioneller 12-taktiger Blues in Bb. Hills Soli sind faszinierend, wechseln zwischen rastanten Powell-ähnlichen Läufen und repetitiven, einfachen Motiven. Jones ist der einezige Solist neben Hill.
    Auf „Reconciliation“ ist Hutcherson wieder prominent vertreten. Unisono präsentieren Hill und er das Thema, das aus 30 Takten besteht – der A-Teil ist 6-taktig, B 3-taktig, die Struktur AB/ABB/AB. Davis soliert als erster, von Hutcherson begleitet, derweil Jones mit den Besen swingt. Hill soliert als zweiter und am ausführlichsten, nach seinen drei eindrücklichen Durchgängen folgen Hutcherson und Jones (stets mit den Besen) mit je einem Chorus. Das Stück endet abrupt – die letze Note des Themas bleibt ungespielt.
    Und mit diesem fehldenden Ende geht auch diese wunderbare Session zu Ende, die zu meinen allerliebsten Hill-, Hutcherson- und Blue Note-Aufnahem zählt!

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #158 – Piano Jazz 2024 - 19.12.2024 – 20:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #7893697  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Hills anerkanntestes Meisterwerk überhaupt ist wohl sein Blue Note Album #4 – veröffentlicht als #3 im April 1965. Besonders erwähnenswert ist die Anwesenheit von Eric Dolphy – er war wie Hill einer der grossen Suchenden der 60er Jahre, bewegte sich irgendwo zwischen Hardbop und der Avantgarde, mit Einflüssen von Mingus bis George Russell (mit beiden hat er auch gespielt). Das Rhythmusgespann von Richard Davis/Tony Williams hatte übrigens einen Monat zuvor gemeinsam mit Bobby Hutcherson (und Freddie Hubbard, der später auch noch bei Hill auftauchen sollte) auf Dolphys meisterhaftem „Out to Lunch“ mitgewirkt.

    Hill über Dolphy:

    „Eric was so important because, while a lot of people are becoming individuals, he’d already developed his individuality. He’s another one, like Kenny [Dorham – gtw], who maybe didn’t get all the attention he deserved because he was such a sweet, beautiful person. People tend to take kindness for weakness because they don’t know that an artist – a real artist – can afford to be kind because he can’t be bothered with petty thoughts.“

    ~ Andrew Hill, zit. nach Nat Hentoffs Liner Notes zu BST 84167

    Hentoff hat Hill in seinen Notes ausführlich zitiert:

    „I selected the men because of the particular strengths each has. I also selected them because I think they feel as I do that there’s no point in being different for the sake of being different. Difference has to come out of musical reasons; and also, anything ’new‘ has to evolve out of the old. Now Tony was important because of his extremely free sense of time. Kenny, I consider the most underrated player in the business. His problem is that he’s so nice, and people seem to associate greatness with meanness or bitterness. In this business, you have to create some kind of angry or tough image of yourself to be accepted, and therefore, too many people take Kenny for granted. he told me he liked this date so much because it made him think and play in new directions and in the process he proved again how musical and flexible a trumpet player he is.
    „Joe Henderson is going to be one of the greatest tenors our there. You see, he not only has the imagination to make it in the avant-garde camp, but he has so much emotion too. And that’s what music is – emotion, feeling. Joe doesn’t get into that trap of being so technical that emotions don’t come through.
    „As for Richard Davis, he is the greatest bass player in existence. Most good bass players have one thing going for them. A man may walk a good line, but his intonation may leave something to be desired. A very good bass player may have two things going. he may have good intonation and walk well, but if you ask for octaves and double stops, technical limitations show up. Another bass player may read real good, but have no imagination. But Richard, he can do anything you demand of him. He has a lot of technique, but his technique does not overpower his imagination. So what I often do with him is to write out what amounts to a piano part and let him pick the notes he wants to use.“

    ~ Andrew Hill, zit. nach Nat Hentoffs Liner Notes zu BST 84167

    Sehr interessant ist auch, was Hill zu Tony Williams‘ Rolle in dieser einmaligen Gruppe zu sagen hatte:

    „Because of Tony Williams being on the date, I was certainly freer rhythmically. And the way I set up the tunes, it was more possible for the musicians to get away from chord patterns and to work around tonal centers. So harmonically too, the set is freer.“

    ~ Andrew Hill, zit. nach Nat Hentoffs Liner Notes zu BST 84167

    Ich habe diese Zitate nicht nur deshalb abgetippt, weil ich Hills Kommentare zu Davis oder Dorham sehr interessant finde, sondern auch deswegen, weil sie sehr viel über Hills eigenes Verständnis von Musik aussagen – dass eben Technik nie VOR die Emotionen und Gefühle, vor die Vorstellungskraft treten soll zum einen, zum anderen finde ich den Zusammenhang zwischen Rhythmik und Harmonik sehr spannend, den Hill um Williams‘ herum festmacht.

    In der Tat klingt diese Gruppe loser, freier, weniger stark organisiert und an Formen gebunden als jene auf den drei vorangegangenen Blue Note Sessions.
    Das erste Stück, „Refuge“, besteht aus zwei 12-taktigen Teilen und wird über einen schnellen 12/8-Beat gespielt. Williams‘ fliessender Swing ist sofort zu spüren. Die Bläser sind wunderbar gesetzt, mit kleinen Verschiebungen… Dolphys Alt trägt mit Hills rechter Hand die Melodie, Dorham umspielt, Henderson legt tiefere Linien darunter, die manchmal fast nach Bassklarinette klingen. Alle sechs Musiker sind als Solisten zu hören, Hill eröffnet mit einem lyrischen, luftigen Solo, gefolgt von Dolphys quirligem Alt, das hier aussergewöhnlich schwer klingt und immer wieder ans untere Ende des Instruments zurückkehrt – ein wunderbares Solo! Williams und Davis brechen die Begleitung auf, lassen den Rhythmus zucken und stottern… Es folgt Kenny Dorham mit einem sehr lyrischen Solo. Ohne laut zu werden steigt er auch mal in die hohen Lagen auf, hängt rasante Linien an langsame Passagen an, moduliert… ein sehr „sprechendes“ Solo. Davis folgt mit einem kurzen Solo, dann hebt Joe Henderson ab, während Hill streckenweise ganz aussetzt und Davis/Williams wieder intensiv mit dem Rhythmus spielen. Williams‘ abschliessendes Solo schliesslich wird von Davis begleitet.
    Es folgt der Alternate Take von „Dedication“, einer 14-taktigen Ballade in drei Teilen: A (6 Takte), B (6 Takte), C (2 Takte). Das Stück sollte ursprünglich „Cadaver“ heissen, eine Art „death march“ zu schreiben sei seine Absicht gewesen, so Hill gemäss Hentoffs Notes: „At one point, Kenny, after playing that wah-wah section of his part, said it brought tears to his eyes. Well, that was what I was writing about. I wanted something that would fit a death march.“ Dorham trägt die Melodie vor, Henderson spielt eine zweite Stimme, während Dolphys Bassklarinette in wilden Linien umherspringt. Dolphy bläst dann auch das erste Solo – wie er seine Virtuosität mit einer balladesken Stimmung verbinden kann ist immer wieder eindrücklich zu hören. Hills Piano-Solo wird teilweise von den Bläsern begleitet, Davis‘ hohe Pedal Points schaffen eine sehr spezielle Atmosphäre. Alfred Lions Notizen in den Session Logs weisen darauf hin, dass er daran dachte, Henderson Solo aus dem Alternate Take in den Master hereinzukopieren – was er aber nicht gemacht hat. Hendersons Solo ist in der Tat hervorragend!
    Der folgende Master Take ist ein wenig schneller, läuft nach dem gleichen Modell ab, aber Dolphys Solo ist völlig anders – und viel weniger bewegt und toll als das auf dem Alternate Take. Henderson spielt zwar auch hier ein schönes Solo, aber ich schliesse mich Michael Cuscunas Bemerkung in den Notes zum Mosaic-Set an, dass der Alternate Take zu bevorzugen ist.
    Es folgt „New Monastery“, auch das in zwei Takes, dieses Mal zuerst der Master, dann der Alternate Take. Das Stück besteht aus 22 Takten in zwei Teilen: A (9 Takte) und B (9 + 4 Takte). Dorham bläst das erste Solo, suchend, lyrisch bläst er sich durch die ungewohnte Musik, mit toller Begleitung von Hill, Davis und Williams. Dann folgt Dolphy mit einem süffigen Altsolo, weniger kantig und sprunghaft, über weite Teile fast linear – zumindest für seine Verhältnisse. Williams bricht unter ihm den Rhythmus auf. Hill folgt – seine Soli sind zu diesem Zeitpunkt zwar immer noch mit dem einen oder anderen Lauf gefüllt, unterscheiden sich aber oft gar nicht so sehr von dem, was er als Begleiter unter den anderen Solisten spielt – er lebt in seiner Musik, flicht das Thema in sein Solo ein, spielt mit den Rhythmen, den Motiven, setzt Akkorde, und streut zwischendurch eben auch mal perlende Läufe ein. Sehr toll, wie Davis auf sein Solo reagiert, seinen Walking Bass leicht abgehackt phrasiert. Das zieht sich in den Anfang von Hendersons Solo weiter, das verspielt ist aber auch etwas düster, aus kurzen Motiven konstruiert wird, mit Wiederholungen und Trillern gespickt. Davis folgt mit einem kurzen Walking Solo, zum grossen Teil unbegleitet, dann übernimmt Williams, auch für ein kurzes unbegleitetes Solo. Dann folgt das Thema, geprägt vom Sound Dolphys.
    Der folgende Alternate Take wird etwas schneller gespielt – zu schnell wohl. Dolphy bläst aber ein grossartiges, bewegtes und abenteuerliches Altsolo, das diesen Take sehr wohl hörenswert macht!
    „Flight 19“ folgt, wieder in zwei Takes. Das kurze Stück besteht aus 16 Takten, gruppiert in 4 schnelle, 2 langsame, 8 schnelle und 2 langsame. Zuerst hören wir den etwas kürzeren, schnelleren Alternate Take. Dolphys Bassklarinette prägt den Gruppensound, Dorhams spitze Trompete präsentiert das Thema. Hill übernimmt das erste Solo, mit dichten Bläser-Begleitung – Riffs in den schnellen Teilen, frei improvisierte Passagen in den langsamen – und der fortlaufenden Tempo-Struktur, die zu einer Art Stop-and-Go wird. Der zweite Solist ist Davis, die Begleitung ist dieselbe mit den Bläsern, Hill hält sich allerdings fast ganz raus und Williams spielt eine sehr leise und feine Begleitung.
    Im Master, dem 19. Take (daher der Titel „Flight 19“) improvisieren die Bläser über den Soli nur noch in den langsamen Teilen und setzten während den schnellen Teilen aus – das verstärkt den Stop-and-Go Effekt und lässt zugleich mehr Raum für Hill und Davis.
    Das letzte Stück der Session ist „Spectrum“, eine Suite, die ursprünglich mal „Kaleidoscope“ hiess. Hill kommentierte es in Hentoffs Notes wie folgt: „In terms of structure, every solo is based one way or another on elements in my eight bar piano solo. And that breaks down into four bars of 4/4, one bar of 5/4, two bars of 3/4 and one bar of 4/4. As for the different emotions, to give you some examples, Kenny’s solo indicates searching, Eric’s alto solo might be considered peaceful – but with a shadow of a doubt. And the 5/4 section in which Eric, Kenny and Joe play has such anguish in it.“ Wir hören im ersten Teil das Thema und Hills Solo, dann künden Williams‘ Drums den 5/4-Teil an, in dem Dolphy (Bassklarinette), Dorham und Henderson alle solieren und sich gegenseitig dabei begleiten, gefolgt von einem Bass-Solo, das in einen freien dritten Teil überleitet, in dem Dolphy am Altsax und Hill zu hören sind. Dann künden Dolphy und Henderson beide an der Flöte das Trompetensolo an, für das sich der Beat wieder verfestigt. Nach einem Schlagzeugsolo folgt nochmal das Thema.

    Dieses Album wird wohl zu Recht als ein Meilenstein gefeiert. Wir hören hier den grossen Eric Dolphy auf der Höhe seines Könnens, kurz vor seinem viel zu frühen Tod, und wir hören vor allem Hills grosses Können als Komponist, seine tollen Arrangements für drei Bläser. Eine weitere Sextett-Sessions mit drei Bläsern von 1970 sind im Mosaic Select #16 zu finden, ebenda ist auch eine 1967er Septett-Session zu finden, 1969 entstand zudem die als „Passing Ships“ veröffentlichte Session mit einem Nonett – mit dem Erscheinen dieser Aufnahmen wurden Hills diesbezügliche Fähigkeiten dokumentiert, damals war jedoch „Point of Departure“ das einzige Beispiel.

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    gypsy-tail-wind
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    Im Juni 1964 nahm Hill zum fünften Mal für Blue Note auf. Das Album erhielt die Katalog-Nummer 84203, was darauf hinweist, dass es irgendwann Anfang 1966 hätte veröffentlicht werden sollen – es erschien aber erst zwei Jahre später.
    Mit Joe Chambers war ein neuer Drummer dabei, der auch auf den beiden nächsten Sessions mit Hill spielen sollte – ein Schlagwerker, der selber auch Komponist war, der sehr strukturiert und musikalisch begleitet, auf eine viel feinere Weise als die Schlagzeuger auf den vorangegangenen vier Sessions. Die Musik kriegt dadurch – und durch die Rückkehr von Bobby Hutcherson – eine ganz andere Prägung, sie wird klarer, heller. Dagegen spielt allerdings John Gilmore mit seinem kantigen und etwas dunklen Tenorsax an, ebenso natürlich Hill selbst. Richard Davis ist nach wie vor am Bass, und schon in den ersten Takten dieser Session wird wieder einmal deutlich, wie prägend er für die frühe Musik Hills gewirkt hat mit seinem unglaublich flexiblen und dennoch erdigen Spiel.
    „Black Monday“ heisst die Ballade, mit der die Session öffnet, sie wird über einen einigermassen festen Beat gespielt, aber Hill und Chambers spielen dauernd mit dem Beat. Die Komposition besteht aus 23 Takten: A (5 Takte), B (6 Takte), A (5 Takte) und B1 (7 Takte). Hutcherson und Gilmore solieren über einen Durchgang, Hill kriegt zwei. Gilmores Solo ist expressiv aber fragmentiert, Cuscuna meint in den Mosaic-Notes, „as if not yet sure how to deal with Andrew’s style of writing“. Auf mich klingt sein Solo hier auch ein wenig unsicher – als ginge ihm auf halbem Weg die Puste aus, worauf er sein vorhin stringentes Solo abbricht und es mit repetitierten Motiven und Trillern beendet – keineswegs schlecht, allerdings, allein sein robuster Ton bringt eine neue Qualität in Hills Musik.
    „Symmetry“ ist das zweite Stück, wir hören es in zwei Takes, zuerst im Master, dann im kürzeren Alternate Take. Es wird im 4/4-Takt gespielt, aber die rhythmischen Akzente verschieben sich fortwährend, was dem Stück trotz dem mittelschnellen Tempo eine Nervosität verleiht. Hill, Chambers, Hutcherson .und Gilmore solieren. Hills Solo im Master ist von einer grossen Klarheit, Chambers spielt, wie man sich einen „denkenden“ Drummer vorstellt, äusserst musikalisch und ohne das Geschehen je übermässig zu dominieren. Gilmore scheint sich besser in die Musik einzufühlen, sein Solo passt jedenfalls hier perfekt ins Geschehen! Der Alternate Take bringt nicht viel neues, ausser dass Hill im Schlagzeugsolo stärker präsent ist. Das Tempo ist etwas schneller, was dem Stück nicht wirklich entgegenkommt.
    Weiter geht’s mit einem tollen Quartett-Stück (ohne Gilmore) in zwei Takes, „Griots“. Hill und Davis sind die Solisten und wieder hören wir zuerst den Master Take. Der Alternate Take ist schneller und eine Minute kürzer. Auf beiden Takes glänzt Joe Chambers mit seiner einfühlsamen und enorm gekonnten Begleitung, deren Facettenreichtum man oft erst beim mehrfachen Hinhören erkennen kann (das gilt ja generell für alles, was ich von Andrew Hill kenne – ich höre auch all die Aufnahmen, über die ich hier schreibe, mindestens vier bis fünf mal, bevor ich dann was schreibe).
    Im 13-taktigen Thema „Duplicity“ ist Gilmore von anfang an sehr präsent, das Stück besteht aus einem A-Teil (6 Takte) und einem B-Teil (7 Takte), der zweimal gespielt wird. Gilmore übernimmt das erste Solo und sein Mix aus Linien, kurzen Motiven, scheinbar endlosen Repetitionen und Ausbrüchen passt wunderbar, bis dahin sein stärkstes Solo! Auch Chambers‘ Begleitung hilft, dass die Musik hier so zerklüftet klingt wie selten zuvor. Davis spielt das zweite Solo, zurückhaltend von Hill und Chambers begleitet. Hills eigenes Solo bewegt sich wieder zwischen Linien und Brüchen, ist von einer zarten Bitterkeit.
    „Le serpent qui danse“ ist ein auf den ersten Eindruck bizarres Stück, das aus zerklüfteten Phrasen über dem hin und herspringenden Bass Davis‘ besteht… sich dann aber als 12-taktiger Blues entpuppt. Hill soliert zum Auftakt und zum Ende und sprüht vor Ideen. Chambers‘ Begleitung ist auch hier wieder ausserordentlich, wie er mit dem Metrum umgeht, wie er sich mal aggressiv in die Musik einmischt, dann wieder sehr zurückhaltend und fein ziseliert spielt. Auf Hill folgt Hutcherson mit einem rasanten Solo, danach ein kerniges Solo von Gilmore, bei dem Chambers wieder richtig aufdreht. Gilmore bläst auch hier ein überzeugendes Solo, jedenfalls gefallen mir seine Beiträge insgesamt sehr gut! Chambers folgt mit einem kurzen Solo, bevor Hill sein zweites Solo spielt und dann ins abschliessende Thema überleitet.
    Die Session endet mit „No Doubt“, einer zarten Rubato-Ballade. Das Thema wird vom Quintett präsentiert, Gilmore bläst verhalten die melancholischen Linien, dann soliert Hill einmal durch die Form, nur vom sehr zurückhaltenden Chambers begleitet.


    Bobby Hutcherson & John Gilmore (Photo: Francis Wolff)

    Über die Anwesenheit von Gilmore kann ich leider nichts sagen… es ist ja bekannt, dass Sun Ra sehr aufmerksam über die Tätigkeiten seiner Sidemen wachte und wohl vieles verhindert hat – was gerade im Fall von Gilmore enorm schade ist, da es sich bei ihm um eine der vielleicht zwei Dutzend individuellen Tenorstimmen handelte, die sich in der zweiten Hälfte der 50er neben und zwischen Coltrane und Rollins herausbildeten.

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    Vielen, vielen Dank für diese wunderbaren posts! Ich habe gleich noch einmal „Point of Departure“ aufgelegt – über „Refuge“ und den alternate take von „Dedication“, die ich noch einige Male hören werde heute, komme ich heute aber nicht mehr hinaus. Mir ist es endgültig schleierhaft, wie man bei Hill von „akademischer“ Musik sprechen kann. Und so fein sie da alle sind: Wie Dolphy in „Refuge“ reinkommt und Hill sofort umschaltet auf die richtige harmonische Freiheit – mit ein paar wenigen Tupfern -, ist wirklich anrührend, herb und tief. Dann auch diese ständigen Todesblinzeleien, der „Death march“, auch sonst so häufig bei Hill. Der lyrische Schluss von „Dedication“ ist mir eine freundliche Ironie -aber eine, die nicht auf sich aufmerksam macht. Kunst. Keine Akademie.

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    Hills sechste Blue Note Session blieb viel zu lange im Kasten – erst 1975 erschien die Session auf der einen Hälfte des Doppel-Albums „One for One“ (BN-LA 459-2).
    Im Februar 1965 fanden sich mit Hill wieder Richard Davis und Joe Chambers in Rudy Van Gelders Studio ein, dazu stiess bereits zum dritten Mal Joe Henderson sowie ein Neuling in Hills Umkreis, Freddie Hubbard. Das Zusammenspiel von Hill, Davis und Chambers ist noch verblüffender, dichter, freier, wilder, telepathischer als auf der vorangegangenen Session, Henderson bringt zwar weniger Gewicht in den Sound der Gruppe, mit Hubbard ist aber eine neue Klangfarbe dabei (die sich auch von Kenny Dorhams Beiträgen auf „Point of Departure“ ziemlich unterscheidet). Die Session als gesamtes ist manchmal etwas rauh, aber doch unbedingt hörenswert, schon nur wegen des grossartigen Zusammenspiels von Hill, Davis und Chambers! Ich dachte zuerst, mir gefalle „Andrew!!!“ ein wenig besser – wegen dem dunkleren Sound der Gruppe und wegen Gilmore, aber am Ende ist „Pax“ eben doch die bessere Session – Henderson ist zwar weniger gewichtig aber um ein vieles agiler, und die Band wirkt irgendwie leichter, flexibler, so, dass man jeden Moment mit einem kompletten Richtungswechsel rechnen muss – und das gefällt mir sehr!

    Das erste Stück „Euterpe“ ist in zwei Takes zu hören. Die Komposition besteht aus einem 14-taktigen A-Teil im schnellen 4/4, gefolgt von einer 10-taktigen Bridge im Latin 12/8, worauf die ersten 7 Takte von A wiederholt werden. Der sogenannte Master Take (der längere der beiden) wurde damals 1975 von Cuscuna gewählt, später hat er aus Lions Notizen herausgefunden, dass dieser den kürzeren Alternate Take ausgewählt hatte. Hubbard und Henderson klingen aber auf dem früheren Take besser. Hubbard bläst ein wunderbares erstes Solo, dann folgt Hill. Hills Solo auf dem Alternate Take ist zwar kürzer aber grossartig, wohingegen Hubbard viel verhaltener spielt und Henderson scheinbar keine Ideen mehr hat im zweiten Durchgang… in den Latin-Teilen streut er übrigens beide Male einige seiner Lieblingslicks ein.
    „Calliope“ ist ein mittelschneller Swinger in 4/4 mit einer recht gradlinigen Melodie aber ungewöhnlichen Harmonien. Das Stück besteht aus A (8 Takte), das zweimal gespielt wird, dann B (8 Takte). Schon in Hills öffnendem Solo wird die eigenartige harmonische Basis des Stückes klar. Er lotet die Musik richtiggehend aus, auch der Beat wird gedehnt und verkürzt, Davis/Chambers begleiten äusserst aktiv, die drei spielen in dieser völligen Offenheit völlig sicher zusammen – sehr eindrücklich! Henderson folgt mit einem swingenden Solo, gegen Ende setzt Chambers fast aus, Davis scheint den Beat zu verlangsamen… aber unterschwellig ist er sets spürbar. Dann folgt Hubbard und die Rhythmusgruppe ist wieder voll da, treibt sein Solo, bietet einen wunderbaren Kontrapunkt zu seinen manchmal etwas allzu ring aus dem Ärmel geschüttelten Läufen – insgesamt ist das aber ein ganz schönes Solo, das er hier spielt. Dann folgt ein ausführliches, tolles Solo von Davis – die Begleitung ist auch hier abwechslungsreich, Hill kommt kurz rein, Chambers macht sich mal mehr, mal weniger bemerkbar. Mit der Repetition des Themas kommt das tolle Stück zum Abschluss.
    Das für die CD vor ein paar Jahren zum Titelstück auserkorene „Pax“ hat mal wieder eine typische Hill-Struktur: 21 Takte, die in A (10), B (8) und C (3) eingeteilt sind. Henderson, Hubbard und Hill solieren je einmal über dieser Form. Die Atmosphäre ist gedämpft, nachdenklich, das Tempo langsam. Henderson klingt im Thema zu Beginn eine Spur kerniger als sonst, dann übernimmt aber Hubbard den Lead. Hendersons Solo ist getragen, Hubbard spielt schnell aber ohne die lyrische Grundstimmung zu durchbrechen – sein Spiel erinnert manchmal ein wenig an seine Beiträge auf Herbie Hancocks „Empyrean Isles“ (auch dort spielte er, wie auf dieser Hill Session, ausschliesslich Kornett). In Hills Solo wird die Begleitung der Rhythmusgruppe beinahe Rubato-haft.
    „Eris“ (woher kommen all diese seltsamen Titel? Schon klar, dass nur „Pax“ albumtitelkonsensfähig war! Griechische Mythologie?) ist ein schneller, 24-taktiger Blues, die Soli sind lang und gehen an die Grenzen, die Begleitung ist unkonventionell aber der tolle Groove wird nie aufgegeben. Ein schöner Moment findet sich in Hubbards letztem Chorus, als er eine typische „down home“-Phrase spielt und Chambers sofort in einen Backbeat fällt, gefolgt von Hill (der ja schliesslich auch „Rumproller“ komponiert hat). Hier wird offensichtlich, dass die fünf mit grosser Freude bei der Sache sind!
    Die letzten beiden Stücke der Session wurden im Trio eingespielt. „Erato“ ist eine Ballade, die zwischen 7/4 und 3/4 hin- und herwechselt. Hill ist der einzige Solist und er blüht richtiggehend auf, das Stück wird von einer Atmosphäre durchweht, die ähnlich den frühen Hill-Alben ohne Bläser ist.
    Zum Abschluss folgt mit „Roots ’n Herbs“ eine eigenwillige kurze Groove-Nummer, die mit einem raschen 8/8 Puls beginnt, dann in 2/4 wechselt, kurz frei wird und dann in eine Art Rock’n’Roll Backbeat fällt… wie die kleine Passage während Hubbards Solo in „Eris“ ist auch das hier eine Erinnerung an Hills Wurzeln und zugleich ein seltsamer kleiner Vorbote von „Grass Roots“. Dieses Stück fehlte übrigens auf „One for One“, Cuscuna kann sich gemäss den Liner Notes im Mosaic-Set allerdings nicht mehr an den Grund dafür erinnern.

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    gypsy-tail-wind
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    clasjazVielen, vielen Dank für diese wunderbaren posts! Ich habe gleich noch einmal „Point of Departure“ aufgelegt – über „Refuge“ und den alternate take von „Dedication“, die ich noch einige Male hören werde heute, komme ich heute aber nicht mehr hinaus. Mir ist es endgültig schleierhaft, wie man bei Hill von „akademischer“ Musik sprechen kann. Und so fein sie da alle sind: Wie Dolphy in „Refuge“ reinkommt und Hill sofort umschaltet auf die richtige harmonische Freiheit – mit ein paar wenigen Tupfern -, ist wirklich anrührend, herb und tief. Dann auch diese ständigen Todesblinzeleien, der „Death march“, auch sonst so häufig bei Hill. Der lyrische Schluss von „Dedication“ ist mir eine freundliche Ironie -aber eine, die nicht auf sich aufmerksam macht. Kunst. Keine Akademie.

    Ja, bei „Point of Departure“ öffnet sich etwas in Hills Musik… und es öffnete sich für einen Moment lang – aufgrund der Hill-Zitate mutmasslich dank Williams? – etwas weiter als später… jedenfalls scheint für mich die gewonnene Freiheit auch bei „Andrew!!!“ und „Pax“ noch spürbar zu sein, aber doch weniger klar ausgekostet zu werden. Die lyrische Strenge der zweiten und dritten Session (also „Smokestack“ und „Judgment“) ist es wohl, die mich ursprünglich so zu Hill hinzog, und sie behält weiterhin eine enorme Faszination auf mich. Aber dieses Zusammenspiel von Lyrizismus und Freiheit, von Wildheit und Struktur, wie Dolphy sie ebenso wie Hill perfektioniert hat, die macht „Point of Departure“ zu einem ganz besonderen Album – und genau in dieses „Dazwischen“ (darf ich den „abîme“ einwerfen?) passt eben auch Kenny Dorham ganz wunderbar! Er war wohl eher als der damalige „partner in crime“ von Joe Henderson zur Session geholt worden, aber erwies sich als ein absolut genialer Glücksgriff!

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