Re: Andrew Hill

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gypsy-tail-wind
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Hills sechste Blue Note Session blieb viel zu lange im Kasten – erst 1975 erschien die Session auf der einen Hälfte des Doppel-Albums „One for One“ (BN-LA 459-2).
Im Februar 1965 fanden sich mit Hill wieder Richard Davis und Joe Chambers in Rudy Van Gelders Studio ein, dazu stiess bereits zum dritten Mal Joe Henderson sowie ein Neuling in Hills Umkreis, Freddie Hubbard. Das Zusammenspiel von Hill, Davis und Chambers ist noch verblüffender, dichter, freier, wilder, telepathischer als auf der vorangegangenen Session, Henderson bringt zwar weniger Gewicht in den Sound der Gruppe, mit Hubbard ist aber eine neue Klangfarbe dabei (die sich auch von Kenny Dorhams Beiträgen auf „Point of Departure“ ziemlich unterscheidet). Die Session als gesamtes ist manchmal etwas rauh, aber doch unbedingt hörenswert, schon nur wegen des grossartigen Zusammenspiels von Hill, Davis und Chambers! Ich dachte zuerst, mir gefalle „Andrew!!!“ ein wenig besser – wegen dem dunkleren Sound der Gruppe und wegen Gilmore, aber am Ende ist „Pax“ eben doch die bessere Session – Henderson ist zwar weniger gewichtig aber um ein vieles agiler, und die Band wirkt irgendwie leichter, flexibler, so, dass man jeden Moment mit einem kompletten Richtungswechsel rechnen muss – und das gefällt mir sehr!

Das erste Stück „Euterpe“ ist in zwei Takes zu hören. Die Komposition besteht aus einem 14-taktigen A-Teil im schnellen 4/4, gefolgt von einer 10-taktigen Bridge im Latin 12/8, worauf die ersten 7 Takte von A wiederholt werden. Der sogenannte Master Take (der längere der beiden) wurde damals 1975 von Cuscuna gewählt, später hat er aus Lions Notizen herausgefunden, dass dieser den kürzeren Alternate Take ausgewählt hatte. Hubbard und Henderson klingen aber auf dem früheren Take besser. Hubbard bläst ein wunderbares erstes Solo, dann folgt Hill. Hills Solo auf dem Alternate Take ist zwar kürzer aber grossartig, wohingegen Hubbard viel verhaltener spielt und Henderson scheinbar keine Ideen mehr hat im zweiten Durchgang… in den Latin-Teilen streut er übrigens beide Male einige seiner Lieblingslicks ein.
„Calliope“ ist ein mittelschneller Swinger in 4/4 mit einer recht gradlinigen Melodie aber ungewöhnlichen Harmonien. Das Stück besteht aus A (8 Takte), das zweimal gespielt wird, dann B (8 Takte). Schon in Hills öffnendem Solo wird die eigenartige harmonische Basis des Stückes klar. Er lotet die Musik richtiggehend aus, auch der Beat wird gedehnt und verkürzt, Davis/Chambers begleiten äusserst aktiv, die drei spielen in dieser völligen Offenheit völlig sicher zusammen – sehr eindrücklich! Henderson folgt mit einem swingenden Solo, gegen Ende setzt Chambers fast aus, Davis scheint den Beat zu verlangsamen… aber unterschwellig ist er sets spürbar. Dann folgt Hubbard und die Rhythmusgruppe ist wieder voll da, treibt sein Solo, bietet einen wunderbaren Kontrapunkt zu seinen manchmal etwas allzu ring aus dem Ärmel geschüttelten Läufen – insgesamt ist das aber ein ganz schönes Solo, das er hier spielt. Dann folgt ein ausführliches, tolles Solo von Davis – die Begleitung ist auch hier abwechslungsreich, Hill kommt kurz rein, Chambers macht sich mal mehr, mal weniger bemerkbar. Mit der Repetition des Themas kommt das tolle Stück zum Abschluss.
Das für die CD vor ein paar Jahren zum Titelstück auserkorene „Pax“ hat mal wieder eine typische Hill-Struktur: 21 Takte, die in A (10), B (8) und C (3) eingeteilt sind. Henderson, Hubbard und Hill solieren je einmal über dieser Form. Die Atmosphäre ist gedämpft, nachdenklich, das Tempo langsam. Henderson klingt im Thema zu Beginn eine Spur kerniger als sonst, dann übernimmt aber Hubbard den Lead. Hendersons Solo ist getragen, Hubbard spielt schnell aber ohne die lyrische Grundstimmung zu durchbrechen – sein Spiel erinnert manchmal ein wenig an seine Beiträge auf Herbie Hancocks „Empyrean Isles“ (auch dort spielte er, wie auf dieser Hill Session, ausschliesslich Kornett). In Hills Solo wird die Begleitung der Rhythmusgruppe beinahe Rubato-haft.
„Eris“ (woher kommen all diese seltsamen Titel? Schon klar, dass nur „Pax“ albumtitelkonsensfähig war! Griechische Mythologie?) ist ein schneller, 24-taktiger Blues, die Soli sind lang und gehen an die Grenzen, die Begleitung ist unkonventionell aber der tolle Groove wird nie aufgegeben. Ein schöner Moment findet sich in Hubbards letztem Chorus, als er eine typische „down home“-Phrase spielt und Chambers sofort in einen Backbeat fällt, gefolgt von Hill (der ja schliesslich auch „Rumproller“ komponiert hat). Hier wird offensichtlich, dass die fünf mit grosser Freude bei der Sache sind!
Die letzten beiden Stücke der Session wurden im Trio eingespielt. „Erato“ ist eine Ballade, die zwischen 7/4 und 3/4 hin- und herwechselt. Hill ist der einzige Solist und er blüht richtiggehend auf, das Stück wird von einer Atmosphäre durchweht, die ähnlich den frühen Hill-Alben ohne Bläser ist.
Zum Abschluss folgt mit „Roots ’n Herbs“ eine eigenwillige kurze Groove-Nummer, die mit einem raschen 8/8 Puls beginnt, dann in 2/4 wechselt, kurz frei wird und dann in eine Art Rock’n’Roll Backbeat fällt… wie die kleine Passage während Hubbards Solo in „Eris“ ist auch das hier eine Erinnerung an Hills Wurzeln und zugleich ein seltsamer kleiner Vorbote von „Grass Roots“. Dieses Stück fehlte übrigens auf „One for One“, Cuscuna kann sich gemäss den Liner Notes im Mosaic-Set allerdings nicht mehr an den Grund dafür erinnern.

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