Startseite › Foren › Kulturgut › Das musikalische Philosophicum › Retromania | ist Pop tot?
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tolomoquinkolomAuch wenn das so ist wie du schreibst, ist doch eine Beschleunigung vorhanden, selbst wenn sie nur eine gefühlte ist. Und die Geschwindigkeit technischer Erneuerungen und der (nicht nur) medialen Globalisierung haben ja stets kulturelle und gesellschaftliche Auswirkungen auf Konsum, Kultur und Musik. Möglicherweise führt ein derartiger subjektiver Beschleunigungseindruck auf Grund individueller Überforderung durch diese komplexe Globalität (die zum Teil auch aus Unübersichtlichkeit besteht) zu Fluchtreaktionen. Die Absetzbewegung der Retromanier im Zusammenhang mit Popkultur und Popmusik in einen bereits früher schon positiv besetzten Wohlfühlbereich aus der individuellen Vergangenheit ist nachvollziehbar..
Sicher kann die „gefühlte“ Beschleunigung die dialektische Kehrseite der realen Verlangsamung sein. Dann aber ist sie genau der Schleier, den der gesellschaftliche Stillstand braucht, um seine zähe Klebrigkeit im Alltag vergessen zu machen. Das viele Reden über die Schnelligkeit, mit der angeblich heute alles passiert, kommt m.M.n. eher aus den stillstehenden Gedanken und Gefühlen der wie auch immer Etablierten. Die Jugend etwa war immer schon schnell, und sie ist es heute nicht minder als vor 10, 20, 30, 40, 100 oder 1000 Jahren. Auch das Internet hebelt Naturgesetze der conditio humana nicht aus. Das Gefühl der Beschleunigung ergibt sich zwangsläufig für die, die stehen geblieben sind, sich in ihrer Nische eingerichtet haben und diese so lange wie möglich behaupten wollen.
In diesem Sinne kann Pop freilich notwendig eskapistisch sein (Züge davon trägt er wohl immer, diesem Generalverdacht steht er aber mit zuckenden Schultern gegenüber – Tanzen macht zuviel Spaß). Der in der „Retromanie“ aber (nur scheinbar paradoxerweise) vielmehr vermutbaren Simulation einer Beschleunigung bei realem Stillstand würde im Politischen die Diskussion über Kohlendioxid entsprechen, wo doch der Kern des Klimaproblems bei dem dafür weitaus wirksameren Methan liegt. Darüber zu sprechen, hieße dann aber tatsächlich über uns selber und unser Leben und Ernährung zu sprechen, über wirklich unbequeme Bewegungsnotwendigkeiten. Aber erst kommt bekanntlich das Fressen und dann die Moral.
Da reden wir also lieber über das weitaus komplexere und für jeden untergründig erkennbar nicht lösbare „CO2-Problem“. Die Lösung liegt ja immer 50 oder 100 Jahre vor uns, also da, wo sie uns nicht mehr erreicht.
Und wir hören musikalisch eben die weitaus bequemeren Dinge, die uns keine reale Änderung abverlangen, aber irgendwie „frisch“ klingen und ob der jugendlichen Frische als authentisch bewegtes Leben wirken, obwohl es sich um die Simulation von tatsächlicher „Seele“ handelt. Ja, diese Figur könnte passen, taugt aber letztlich nicht zu einem wirklichen Vorwurf an irgendwen – von welcher Position aus soll der denn auch kommen, wo doch alle drum herum in dünnsten Glashäusern sitzen? Das Sein bestimmt noch immer das Bewusstsein, auch wenn Marx tot ist und Jesus und Mohammed kleben.
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Immer mehr Stars beziehen sich auf Moden aus früheren Jahrzehnten, immer mehr aktuelle Musik wirkt, als wäre sie schonmal dagewesen. Der Pop ist offenbar von einem Retro-Wahnsinn befallen. Doch das beweist vor allem, wie sehr aus populärer Musik Kunst geworden ist. Von Karl Marx und James Bond weiß die Popmusik: Historisch ist nicht, was einmal im Laufe der Zeiten an deren Oberfläche tritt, sondern nur das, was auch ein zweites Mal kommt. Erst durch das Revival eines Stils, einer Produktionstechnik, erst nach seiner Wiederentdeckung wissen wir, dass es etwas gegeben hat.
Motown und Psychedelia, Rockabilly und der frühe Elektro-Hip-Hop lebten nicht nur zweimal und wiederholten sich nicht nur einmal, sondern immer wieder, oft in immer kürzeren Abständen. Nicht das Prinzip des Revivals an sich wäre es demnach, das die allgemeine Sorge begründet, es stimme irgendetwas nicht mit der Popmusik und ihrer Beziehung zum historischen Moment, sondern die Anzahl der immer wieder neuen Bezugnahmen auf ein immer gleiches Altes.
Oder auch: Was die Jungen zum ersten Mal erleben, ist den Älteren wenigstens zu einem Teil als etwas Altes aus der eigenen Jugend vertraut. Für die Älteren ist dieser zweite klassifizierende, historisierende Blick, das Ziehen von Linien ganz natürlich, so wie für die Jüngeren das Überwältigtsein. So war es schon immer, nicht nur innerhalb der Pop-Epoche ab 1955, sondern in ihren Vorläuferkulturen. Doch meinen immer mehr Beobachter, die einen dritten Posten, jenseits von Jung und Alt einnehmen zu können glauben, dass der Anteil des objektiv Neuen gegenüber dem objektiv Wiedererkennbaren stark zurückgegangen sei.
Der Fehler dieser Diagnose ist aber vielleicht gar nicht, dass sie falsch ist, sondern dass sie sich die falschen Beispiele sucht, rein musikalische nämlich. Objektiv neu und objektiv alt spielen in der Popmusik aber nicht auf der Ebene der Musik, sondern dort eine Rolle, wo sie sich als ein soziales Programm, eine Form des Umgangs mit Artefakten entwirft, als Mittler zwischen privater und sozialer Existenz.
Popsongs oder Tracks sind meist einfache klangliche Gebilde, die aber einen, oft durch außermusikalische Bestandteile verschärften, oft nur Eingeweihten verständlichen sozialen Sinn bekommen: Sie stiften Abmachungen, Verabredungen und kodifzieren neuartige und noch unbenannte Verhaltensmuster. Sie haben aber auch eine klangliche Materialität, die wichtiger ist als ihre musikalischen, notierbaren Elemente. Das auratische Element des Sounds verdankt sich meist neuen Klangmaschinen, aber auch den unwiederholbaren Zufällen des Recordings, der Kontingenz, die mit menschlichem Tun immer verbunden, nun aber per Tonaufnahme fixiert ist.
Passt ein solcher kontingenter Moment zu dem sozialen Sinn und dessen individueller Aufladung im Kinderzimmer, wird genau dieser irre Moment des Sounds als wahr erlebt. Die einmal für eine Seele gestiftete Verbindung wirkt mitunter ansteckend. Das Virus verbreitet sich, wird zum Hit – und die Musiker glauben, sie hätten eine tolle Melodie geschrieben.
Während man also anspruchsloser, aber physisch treffender, anregender Musik zuhört, wird plötzlich der Zusammenhang des eigenen Daseins zu einem gegebenen Moment der Geschichte, der Gegenwart, in der klanglichen Gestalt einer vermeintlich höheren Objektivität vermittelt: Irgendetwas kracht, knirscht oder knispelt, es hat zu tun mit dieser anregenden Musik, ist aber mehr, es ist neu, und es ist von diesen neuen Geräten, diesen neuen Klängen verursacht worden.
Jahre später hören wir die Sounds, die unser junges Auf-der-Welt-Sein mit einem Moment als historisch verleimt haben, wieder und erinnern uns. Nun rationalisieren wir diesen kindlich oder jugendlich erlebten Schock und faseln vom Geist der Zeit, verabsolutieren Inhalte und konstruieren die üblichen Generationsnarrative. Und vor allem greifen wir auf die Krücken biographischer Kunsttheorien zurück und schreiben unseren Helden Künstlersubjektivitäten zu, Früh- und Spätstile, unschuldige, authentische und ausverkaufte Phasen. Schließlich können wir nun die Quellen der irren Sounds benennen: Verstärkertypen, Aufnahmetechniken und unausgebildete Stimmen, bestimmte Tonabnehmer und inspiriertes Nichtkönnen.
All diese Rationalisierungen sind nicht falsch, aber sie übergehen die Tatsache, dass am Ausgangspunkt einer Popmusik-Erfahrung ein unverdienter Zufall steht und erst mit der Wiederholung des Ereignisses als nunmehr abgesichertes historisches Datum eine angebliche Begabung oder eine neue Technologie verantwortlich gemacht werden.
Beide Phasen aber braucht die Popmusik, um überhaupt vollständig zu sein: den Kick und dessen nachträgliche Lektüre als guten historischen Grund. Die nachträgliche Lektüre hat nicht unrecht, jedenfalls nicht immer, sie vervollständigt: Planende und leidenschaftliche Menschen, politische Verhältnisse, neue Studiotechnik und musikalische Traditionen waren ja auch beteiligt.
Doch dieses von zwei Erfahrungen in großen Zeitabständen hervorgebrachte Objekt „Popmusik“ muss wenigstens einmal so überraschend zuschlagen, wie es ja auch immer wieder vorgekommen ist, um dann ein zweites Mal anders und doch wiedererkennbar gehört werden zu können. Wenn sie allerdings nur noch aus zweiten und dritten Malen besteht, wird sie etwas anderes. Es besteht jedoch die Möglichkeit, dass es gerade ein ästhetischer Fortschritt ist, dass die Popmusik ihren primär sozialisierenden (und auch anti-sozialisierenden) Charakter verliert und zu einer künstlerischen Disziplin wird. Wäre so ein Fortschritt vorstellbar, wäre er wünschenswert?
Als sie sich das erste Mal selbst ansah und reflexiv wurde, glaubte die Popmusik, sie müsse sich einfach steigern: mehr Spuren im Studio, längere Soli, komplexere Kompositionen. Alle Elemente, die einem beherrschbar und benennbar vorkamen, sollten maximiert werden. Prog-Rock entstand so, aber auch Beach-Boys-Platten.
In den achtziger Jahren schien dann postmodernes Denken geeignet, Popmusik zu erklären. Jetzt gab es eingestandene Revivals, ausgestellte Bezugnahmen auf frühere Zustände. Man hatte begriffen, dass der Pop-Moment aus zwei Teilen bestand und wollte nun schon gezielt beides selbst praktizieren: das Material für die Fetischisierungen liefern und seinerseits altes Material seiner vervollständigenden Zweitrezeption zuführen. Weite Bereiche der Soulmusik der sechziger Jahre, später auch des US-Garagen-Rock der sechziger Jahre wurden in den achtziger Jahre erst verstanden, klassifiziert, archiviert und – vor allem – reproduziert.
Die Kunst besteht darin, Erregungsmaterial zu sein.Natürlich sind Hip-Hop und Techno in vielerlei Hinsicht Ursprünge neuer Zyklen. Doch in beiden Gattungen war schon der Moment des ersten Auftritts mit Rückbezügen verbunden, die nun auch technisch die Produktion bestimmten: Sampling, Respektbezeugungen, Ahnenkult.
Diese drei Paradigmen – Prog-Rock, postmoderner Zitat-Pop, Hip-Hop – kann man als Fortschritte des Materialbezugs beschreiben. Das Material besteht ja aus der Frage: Welche technisch-kulturelle Form gebe ich dem Verhältnis aus dem überwältigenden ersten Erlebnis, reflexiver Erinnerung und Verarbeitung in einem Moment? Wie gestalte ich die beiden Seiten der Pop-Produktion? Und in diesem Punkt hat sich das Wissen der postmodernen Achtziger-Jahre-Generation, dass Popmusik sich nicht wie klassische Musik-Musik ganz immanent behandeln lässt (wovon ja der Progressive Rock der siebziger Jahre noch ausging), als ein Fortschritt erwiesen.
Der frühere Wissensstand erschien danach überholt. Ähnliches gilt für das Verhältnis von Hip-Hop, in dem der Umgang mit dem Affekt und dessen Verarbeitung über eine technische Form (Sampling) ein Genre gebildet hat, und der postmodernen Zitat-Popmusik, die alles noch von der Individualität des Musikers her dachte und jedes Zitat als große Einzelheit feierte.
Die Kunst der Popmusik besteht also auch darin, Erregungsmaterial zu sein und zugleich früheres Material mit einer zeitgemäßen Rationalität zu behandeln. Und natürlich hatten sich schon die frühesten Vertreter dessen, was wir Popmusik nennen, immer auf eine bestimmte Vergangenheit als einen, auch das eigene neuartige Hervortreten legitimierenden Hintergrund, als ein Stück wahre Außenwelt bezogen.
Doch zwischen Bob Dylan, der sich auf verehrte Meister bezog, wenn er frühe Songs Bluesern und Arbeiterdichtern wie Cisco Houston, Woody Guthrie, Leadbelly und Sonny Terry widmete, und Zeitgenossen wie Matmos, Matthew Herbert oder Daniel Lopatin, die Klänge von Fettabsaugemaschinen, einem einzigen Schwein (von der Geburt bis Tod) oder aus ausgewählt degenerierten Synthesizer-Fernsehsoundtracks beziehen, liegt ein rasanter Fortschritt in der Produktionsästhetik: Man hat das Konzept der Beeinflussung und des Rohstoffs vom menschlichen Kontakt zum Kontakt mit jedem beliebigen Objekt der Welt erweitert, das man in die dichten und komplexen sozialen Architekturen des Musikgebrauchs zwischen iPod-Joggern und verstrahlten Club-Tänzern einspeist.
Freilich kappt dieser Fortschritt die Erstprägung in dem Maße, in dem er aus Popmusik Kunst macht. Diese Popmusik nutzt zwar noch die affektiven sozialen Räume von Club, Konzerthalle und Kinderzimmer, aber sie diskutiert eher konzeptuell (auch über den Körper). Ist Kunst. Kunst hat eine Vergangenheit: Geschichte und Traditionen. Das Populäre spielte dagegen immer in der produktiven Illusion einer reinen Gegenwart. Oder es berief sich auf scheinbar überzeitlich Archaisches und Mythisches.
Doch die aktuelle Formulierung einer unheimlichen Unendlichkeit von Popmusik – von Drone-Metal bis Dubstep – ist womöglich der Fortschritt über den Fortschritt: ein Rettungsversuch der starken Affekte jenseits der historischen Zweiteiligkeit aus Schock und nachträglichem Verstehen. Erweiterung historischer Erfahrung und Regression sind dabei freilich mitunter schwer zu unterscheiden.
[Diedrich Diederichsen | aus: Was James Bond und die Popmusik gemeinsam haben]
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Blitzkrieg BettinaIch finde das Ganze weniger interessant, denn es war ja nun nicht gestern dass aus Jamaika wichtige Impulse kamen…
Diese Impulse, die da angeblich kamen und einen innovativen oder nachhaltigen impact auf Popkultur und Popmusik gehabt haben sollen, müsste man mal suchen. Wo ist da nach deiner Meinung etwas hängengeblieben? Schön, Bob Marleys schlurfender Reggae (und der Anderer) war und ist immer wieder ein feines Sommer-Accessoire, aber doch nicht mehr. Und was z.B. die Londoner Reggae-Exerzitien von The Clash angeht: nur ganz selten hat etwas noch weniger zusammengepasst wie der durch gesellschaftliche Umstände aufgescheuchte Punkism, der als musikalisch-nonkonformistische und gesellschaftskritische Rebellen-Attitüde auf eine Haile-Selassie-Erlöserverehrung aus der Karibik mit alttestamentarischen Bezügen und einknickenden Knien traf.
Herr RossiWie kommst Du darauf? Auch und gerade in den 60s war die visuelle Ebene von Pop ungeheuer wichtig und definierte die „global chicness“. Und natürlich „verkaufte“ man Künstler auch damals über Bilder – TV-Shows, Kinofilme, Scopitones, Zeitschriften, Poster, Autogrammkarten, Platten-Cover/Sleeves usw.
Klar, die visuelle Seite von Popmusik war immer wichtig. Über Clips und wie sie die Popmusik verändert haben, genauer gesagt: wie visuelle Aufnahme von Musik das Hören verändert hat, wäre nachzudenken.
Vielleicht kannst du mir dahingehend zustimmen, dass es einen Unterschied macht, ob man mit dem Bilder-Verkauf und den von dir angeführten Werbewaffen Popmusik vermarket, oder ob man dies unter Zuhilfenahme aggressiven Dauereinsatzes in Netzwerken bzw. auf Clip-Plattformen tut. Der Marketing-Vorlauf eines Release hat nicht selten Ähnlichkeit mit Invasionsplänen. Da geht es gar nicht mehr so sehr um Popmusik, sondern um Branding, Gossip, Marktanteile, Verdrängung und Konzernmacht. Entsprechend wird auch für die generalstabsmäßige Präsentation von acts und die Clip-Visualisierung von Popmusik nicht selten ein größerer finanzieller Aufwand betrieben, als für die Musik selbst.
Nicht dass das Ganze früher eine große Harmonieweide war, auf der die beteiligten Player friedlich herumgrasten und an Konsumenten kauten (Fredric Dannens Buch HIT MEN wird in dieser Hinsicht sehr deutlich), aber Dauerkrise der Plattenindustrie, drohender Tonträgertod, verändertes Konsumverhalten der iGeneration, Filesharing und komprimierter Spielbetrieb in dieser Global-Liga hat an Intensität und Verbissenheit erheblich zugenommen.
Herr RossiWas hat Kendrick Lamar in der Reihe zu suchen? KD&L und noch stärker Waterhouse sind Spezialistenthemen. Ich sehe nicht, welche Aussage sie über Pop allgemein machen, genausowenig wie Adele und Jake Bugg.
Ich finde Lamar als Beispiel eines Retro-Flüchters nicht so abwegig. Kendrick Lamar möchte nicht nur wie 2Pac sein und auch so eine Musik machen – sondern zu Shakur werden. Wenn man liest (und glaubt), dass er auch in seinem persönlichen Lebensumfeld sein vor 16 Jahren gestorbenes Idol exzessiv imitiert, damit und mit seinem Album erfolgreich ist, kann man in diesem Zusammenhang durchaus eine Aussage über den Zustand von Popmusik und seiner Künstler und Rezipienten machen.
Obwohl ich selbst auch eine Delle in Richtung Sixties habe, irritiert es mich doch, wenn Zeitgenossen das Interesse an Gegenwart und Zukunft verlieren und sich im Rückwärtsgang verabschiedend in eine vergangenheitsorientierte und tapezierte, bequeme Wohlfühlzone zurückziehen. Wo ist die Neugier auf Neues geblieben?
Und ob ‘The Freewheelin’ Jake Bugg gerne Bob Dylan wäre oder dies die Rezipienten gerne möchten oder eigentlich der Plattenkonzern so will, weil der Originalheld bald in Rente muss, wird sich noch herausstellen. Lady Gaga als knackfrischer Ersatz für eine rostende Madonna hat ja schon mal geklappt. Die Frage nach der manischen Wiederholungssucht bleibt allerdings.
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tolomoquinkolomDiese Impulse, die da angeblich kamen und einen innovativen oder nachhaltigen impact auf Popkultur und Popmusik gehabt haben sollen, müsste man mal suchen. Wo ist da nach deiner Meinung etwas hängengeblieben? Schön, Bob Marleys schlurfender Reggae (und der Anderer) war und ist immer wieder ein feines Sommer-Accessoire, aber doch nicht mehr. Und was z.B. die Londoner Reggae-Exerzitien von The Clash angeht: nur ganz selten hat etwas noch weniger zusammengepasst wie der durch gesellschaftliche Umstände aufgescheuchte Punkism, der als musikalisch-nonkonformistische und gesellschaftskritische Rebellen-Attitüde auf eine Haile-Selassie-Erlöserverehrung aus der Karibik mit alttestamentarischen Bezügen und einknickenden Knien traf.
Vorsicht! Mit dieser Ansicht zu The Clash dürftest Du hier relativ einsam sein.
Und natürlich hat Reggae in vielerlei Form Eingang in die Popmusik gefunden. Inzwischen ist Reggae-Musik aber eine Nische in der großen Welt des Pop wie andere auch.tolomoquinkolom…Der Marketing-Vorlauf eines Release hat nicht selten Ähnlichkeit mit Invasionsplänen. Da geht es gar nicht mehr so sehr um Popmusik, sondern um Branding, Gossip, Marktanteile, Verdrängung und Konzernmacht. Entsprechend wird auch für die generalstabsmäßige Präsentation von acts und die Clip-Visualisierung von Popmusik nicht selten ein größerer finanzieller Aufwand betrieben, als für die Musik selbst.
Das war in den 1990ern so, als MTV und bei uns VIVA eine nicht zu unterschätzende Marktmacht darstellten. Inzwischen werden oft gar keine Videos mehr produziert. Schon gar nicht mit Riesen-Budgets.
tolomoquinkolomObwohl ich selbst auch eine Delle in Richtung Sixties habe irritiert es mich doch, wenn Zeitgenossen das Interesse an Gegenwart und Zukunft verlieren und sich im Rückwärtsgang verabschiedend in eine hauptsächlich vergangenheitsorientierte und tapezierte, bequeme Wohlfühlzone zurückziehen. Wo ist da die Neugier auf Neues geblieben?
Du sollst doch nicht von Dir und vor allem nicht von Deiner Generation auf andere schließen.
Ich sehe keine ausschließliche oder unverhältnismäßige Rückwärtsgewandheit in der aktuellen Popmusik, und schon gar nicht bei ihren (jugendlichen) Rezipienten.Dass Popmusik inzwischen eine Geschichte und gewissermaßen ein Geschichtsbewusstsein hat, finde ich vollkommen in Ordnung.
tolomoquinkolomUnd ob ‘The Freewheelin’ Jake Bugg gerne Bob Dylan wäre oder dies die Rezipienten gerne möchten oder eigentlich der Plattenkonzern so will, weil der Originalheld bald in Rente muss, wird sich noch herausstellen. Lady Gaga als knackfrischer Ersatz für die rostende Madonna hat ja schon mal geklappt. Die Frage nach der manischen Wiederholungssucht bleibt allerdings.
Unsinn.
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Twang-Bang-Wah-Wah-Zoing! - Die nächste Guitars Galore Rundfunk Übertragung ist am Donnerstag, 19. September 2019 von 20-21 Uhr auf der Berliner UKW Frequenz 91,0 Mhz, im Berliner Kabel 92,6 Mhz oder als Livestream über www.alex-berlin.de mit neuen Schallplatten und Konzert Tipps! - Die nächste Guitars Galore Sendung auf radio stone.fm ist am Dienstag, 17. September 2019 von 20 - 21 Uhr mit US Garage & Psychedelic Sounds der Sixties!Tolo, jetzt verlierst Du Dich wieder in ex cathedra-Toloismen … Ich melde mich noch ausführlicher, hab gerade nicht die Zeit (auch @alberto).
Aber nochmal meine Frage bzw. Bitte: Bring doch mal ein paar Beispiele für – aus Deiner Sicht – wirklich innovative, „retro“-freie Pop-Musik aus der Vergangenheit (edit: möglichst aus den letzten 25 Jahren, dass Pop davor recht häufig innovativ war, darüber besteht ja Konsens). Damit man einfach mal einen Eindruck hat, was Deine Messlatte ist.
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Ich habe versucht, den Diedrichsen-Text zu lesen, aber verstanden habe ich ihn nicht. Wäre nett, wenn ihn mir jemand erklären könnte. Danke im Voraus.
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Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.tolomoquinkolomDie Frage nach der manischen Wiederholungssucht bleibt allerdings.
.Ich habe oben eine Erklärung angeboten, du hast sie aber ignoriert.
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Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.nail75Ich habe versucht, den Diedrichsen-Text zu lesen, aber verstanden habe ich ihn nicht. Wäre nett, wenn ihn mir jemand erklären könnte. Danke im Voraus.
Diederichsen sagt:
Pop ist Retro. Retro ist Kunst. Also ist Pop Kunst. Alles wird gut.
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Twang-Bang-Wah-Wah-Zoing! - Die nächste Guitars Galore Rundfunk Übertragung ist am Donnerstag, 19. September 2019 von 20-21 Uhr auf der Berliner UKW Frequenz 91,0 Mhz, im Berliner Kabel 92,6 Mhz oder als Livestream über www.alex-berlin.de mit neuen Schallplatten und Konzert Tipps! - Die nächste Guitars Galore Sendung auf radio stone.fm ist am Dienstag, 17. September 2019 von 20 - 21 Uhr mit US Garage & Psychedelic Sounds der Sixties!MikkoDiederichsen sagt:
Pop ist Retro. Retro ist Kunst. Also ist Pop Kunst. Alles wird gut.
Danke!
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Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.DemonDie Popkultur reibt sich nicht mehr an gesellschaftlichen Schranken (weil diese bereits überwunden sind). Sie braucht nicht mehr um Anerkennung zu kämpfen (weil diese bereits erfolgt ist). Sie ist nicht mehr nur dem „hier & jetzt“ verpflichtet (sondern wird archiviert und analysiert). Und daraus folgt zwangsläufig – und zwar so zwangsläufig, dass Hecken es gar nicht näher begründet – dass diese Kultur in „Routine“ verfällt und keine „Abweichungen vom Kurs“ mehr zu erwarten sind. Kann es sein, dass auch das nicht so verkehrt ist? Auch wenn’s traurig wäre…
Normalerweise wird eine Prognose ja nicht dadurch unwahrscheinlich, dass sie einem nicht gefällt.
nail75Ich habe oben eine Erklärung angeboten, du hast sie aber ignoriert.
Die habe ich nicht ignoriert sondern gelesen, nail.
Herr RossiTolo, jetzt verlierst Du Dich wieder in ex cathedra-Toloismen …
Ja, du hast recht. Ich suche mal die Bremse.
Herr RossiAber nochmal meine Frage bzw. Bitte: Bring doch mal ein paar Beispiele für – aus Deiner Sicht – wirklich innovative, „retro“-freie Pop-Musik aus der Vergangenheit (edit: möglichst aus den letzten 25 Jahren, dass Pop davor recht häufig innovativ war, darüber besteht ja Konsens). Damit man einfach mal einen Eindruck hat, was Deine Messlatte ist.
Kommt noch.
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tolomoquinkolomDiese Impulse, die da angeblich kamen und einen innovativen oder nachhaltigen impact auf Popkultur und Popmusik gehabt haben sollen, müsste man mal suchen. Wo ist da nach deiner Meinung etwas hängengeblieben? Schön, Bob Marleys schlurfender Reggae (und der Anderer) war und ist immer wieder ein feines Sommer-Accessoire, aber doch nicht mehr. Und was z.B. die Londoner Reggae-Exerzitien von The Clash angeht: nur ganz selten hat etwas noch weniger zusammengepasst wie der durch gesellschaftliche Umstände aufgescheuchte Punkism, der als musikalisch-nonkonformistische und gesellschaftskritische Rebellen-Attitüde auf eine Haile-Selassie-Erlöserverehrung aus der Karibik mit alttestamentarischen Bezügen und einknickenden Knien traf.
Den Einfluss jamaikanischer Pop-Musik auf The Clash zu reduzieren ist – um es höflich zu formulieren – etwas verkürzt, denn durch die Einwanderung aus den karibischen Staaten im Vereinigten Königreich gab es da zahlreiche Auswirkungen. Schon vor den Reggae-Ausflügen von The Clash haben bereits Ska und Rocksteady ihre Spuren im (Post)-Punk gelassen, Dub und Reggae waren dann für die Londoner Soundsystem-Kultur ganz wichtig. Schließlich waren es später die Reggae- und Dancehall-Samples, mit denen schwarze und weiße Kids Anfang der Neunziger Acid House zu Hardcore transformierten, was wiederum die Ursuppe von diversen Dance-Untergenres der letzten 20 Jahre bildete. Best ignored, eh?
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http://hyphish.wordpress.com "Every generation has its one defining moment. We are yours."BrundleflySchon vor den Reggae-Ausflügen von The Clash haben bereits Ska und Rocksteady ihre Spuren im (Post)-Punk gelassen, Dub und Reggae waren dann für die Londoner Soundsystem-Kultur ganz wichtig. Schließlich waren es später die Reggae- und Dancehall-Samples, mit denen schwarze und weiße Kids Anfang der Neunziger Acid House zu Hardcore transformierten, was wiederum die Ursuppe von diversen Dance-Untergenres der letzten 20 Jahre bildete.
Best ignored, eh?Verdrängt.
Aber du hast recht. Auch wenn das wohl doch eher Nebenschauplätze sind, waren diese Einflüsse vorhanden. Der gewichtigere auf Rap bzw. Hip-Hop wäre auch noch nachzutragen.
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Vergangenheit als Gegenwart?
Pop ist Gegenwartskultur. Diesen Satz konnte man in den vergangenen Jahren geradezu als Mantra hören, gemurmelt von Feuilletonisten und Kulturwissenschaftlern. Wer die Gegenwart verstehen wolle, müsse die Popkultur analysieren, in deren grellbunten Landschaften sich der wahre Charakter einer Epoche zeige. So in etwa lautet das Credo der anglo-amerikanischen Cultural Studies, die beflissen die Alltagskultur analysieren. Aber was heißt es für den Pop, wenn sich die Geschichtswissenschaft nun auch damit beschäftigt? Wenn Rock’n’Roll-Platten als historische Quellen plötzlich gleichberechtigt neben Wappen und Urkunden treten? Wird Pop nun gänzlich historisiert und damit zu den Akten gelegt?
Viele Aussagen über Popkultur, die heute allgemein anerkannt sind, entpuppen sich aus historischer Perspektive als unhaltbar. So wird der Pop oftmals als gleichbedeutend mit Jugendkultur oder Generationenkonflikt verstanden. Mal wird er mit der Kultur des westlich-kapitalistischen Systems, mal mit Rebellion und Protest gleichgesetzt. All dies ist sicher nicht ganz falsch, trifft aber eben immer nur zu einer ganz bestimmten Zeit in einer ganz bestimmten Epoche zu.
Die meisten Vorstellungen, die das heutige Bild von Pop prägen, wurden maßgeblich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt. Dass Pop bis heute als Kultur der Jugend gilt, hat etwa seinen Ursprung in den demografischen Faktoren des Babybooms und dem so genannten Wirtschaftswunder der Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Jugendliche waren so zahlreich, dass sie eine relevante Zahl von Konsumenten stellten und erstmalig auch so viel Taschengeld und Freizeit hatten, dass es sich für die Industrie lohnte, jungen Konsumenten spezifische Angebote zu machen. Das hartnäckige Vorurteil, Pop sei eine reine Jugendangelegenheit, widerlegen längst die Statistiken über die Käufer der Popmusik, die seit einigen Jahren schon mehrheitlich Über-40-Jährige sind. In der Zeit demografischen Wandels ist es zunehmend die ältere Generation, die sich für Pop interessiert.
Auch verwandelte sich Pop spätestens in den sechziger Jahren in eine ernste, zumindest aber eine ernst genommene Kunst, wie man am Siegeszug der Pop-Art in Museen und aufwendigen Künstlerschallplatten und Konzeptalben sehen kann. Seit den Achtzigern wird Pop schließlich von den gebildeten Schichten mit derselben Beflissenheit konsumiert wie zuvor Jazz oder Klassik. Dazu haben maßgeblich Magazine wie Spex oder Sounds beigetragen, bis allmählich auch die lange Jahrzehnte Pop-ignoranten Feuilletons der Zeitungen Pop-Kritiken zu ihrem festen Repertoire zählten.
Die alten Gegensätze zwischen elitärer Hochkultur und Massenunterhaltung für die unteren Schichten weichen somit seit Jahrzehnten auf. Großen Anteil daran hatten außeruniversitäre Denker, allen voran intellektuelle Musikkritiker wie Greil Marcus, Jon Savage oder Diedrich Diederichsen. Durch ihre ernsthafte Beschäftigung mit der Popkultur wurde diese auch für Menschen mit Abitur und Hochschulabschluss akzeptabel. Das Sammeln von Schallplatten und Anhäufen von Pop-Wissen entwickelt sich so zu einem ähnlichen Statusmerkmal wie zuvor Klavierstunde oder Museumsbesuch. Auch dies zeigt, dass man am Pop den kulturellen Wandel ablesen kann – etwa die Liberalisierung und Nivellierung traditioneller Unterschiede zwischen gesellschaftlichen Schichten.
Heute jedoch schreibt Pop selbst an der Geschichte mit. Kaum ein jüngeres Werk zur Zeitgeschichte nach 1945 oder zur neueren Kulturgeschichte kann auf die Kategorie des Populären verzichten. Der Heidelberger Zeithistoriker Edgar Wolfrum etwa bezeichnet in seinem Handbuch zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland die mit Graffiti verzierte Berliner Mauer als die größte Leinwand der westlichen Popkultur. Und auch in zahlreichen anerkannten historischen Forschungsfeldern spielt Pop zunehmend eine wichtige Rolle. Die Politikgeschichte etwa untersucht die Rolle von Musik bei der Mobilisierung von Protesten. Die Konsumgeschichte hat – anders als in der traditionellen Wirtschaftsgeschichte – die Konsumenten kultureller Produkte als eigensinnige Akteure der Geschichte entdeckt, die mit ihrem produktiven Konsum Meinungen und Mentalitäten ausdrücken und damit das gesellschaftliche Klima einer Epoche prägen.
An gültigen Einordnungen von Pop in die Geschichte fehlt es jedoch noch immer. Das betrifft so grundlegende Fragen wie die nach der Periodisierung: War Pop ein Zeitalter? Und wenn ja, wann hat es begonnen? Mit dem Rock’n’Roll nach dem Krieg? Mit dem Jazz vor dem Krieg? Oder war bereits das Jahr 1900 die Scheidegrenze, die ein Jahrhundert des Populären einleitete.
[Bodo Mrozek | aus: Von hier an retro?]
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Roseblood@ tolo
Da du die musikalische Entwicklung so kritisch siehst… Ist so vieles „Retro“, weil der Musiker es möchte, oder weil der Konsument es kauft und danach verlangt?Kritisch? Ich weiß nicht. Ich habe halt einfach Fragen.
Als eine der Ursachen für die Retro-Flucht würde ich Enttäuschung über den gegenwärtigen Zustand der Popmusik sehen. Und wenn man noch Nostalgiker berücksichtigt, die musikalisch in ihrer Jugendzeit hängengeblieben sind (und die es auch im Forum gibt), kommt schon eine ansehnliche Gruppe zusammen. Hast du dich nicht schon mal gefragt, weshalb es seit einiger Zeit verstärkt diese Zunahme an Archivveröffentlichungen, Best-ofs, Essential-Reihen, Werkschau-Boxen, Jubiläums- und Sammlereditionen etc. gibt? Und weshalb sich Musikmagazine (wie Musikexpress, Rolling Stone etc.) neben künstlerischer Altenpflege auch auf den inflationären Abdruck von Listen aller Art stürzen, die ja zu überwiegendem Teil alle Reisen in die Vergangenheit darstellen und wie ein Abgesang wirken?
Konsumenten verlangen häufig nach dem was sie bereits kennen. Trifft eine Künstlerveröffentlichung auf positive Resonanz, soll es eine weitere geben, allerdings bitteschön genau in dieser Art. Nennen wir es den Sissi-Effekt. So kann der Konsument durchaus auch zum Problem eines experimentierfreudigen Künstlers werden, der sich eigentlich in seinem Sinne kreativ entfalten möchte, auch wenn er sich dadurch von seinem bisherigen Schaffen entfernt. Künstler die nur Stars sein wollen haben es da natürlich einfacher als welche, die tatsächlich Musiker sein wollen.
Hättest du Ideen, Musik auf die Beine zu stellen, die keinen großen Bezug zur Vergangenheit hätte?
Niemand schöpft aus dem Nichts. Und innovative Ideen für die Popmusik habe ich momentan auch keine. Ich wünsche mir einfach mal welche zu Weihnachten.
Zudem hat Musik heute wohl eine andere Aussage- und Einflusskraft, weswegen Musik nicht so vieles erreichen und verändern und bilden kann wie in den Jahrzehnten zuvor.
Ernsthafte Aussagen macht heutige Popmusik wohl nur noch selten. Über was auch. Und die Einflusskraft von Musik wurde wahrscheinlich schon immer überschätzt.
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Herr RossiWie sieht eigentlich Deine Vorstellung von musikalischer Innovation aus? Ich bringe Deine musikalischen Favoriten nicht gerade mit Avantgarde in Verbindung. Ist kein Vorwurf, mir ist nur nicht klar, was konkret Du eigentlich vermisst.
Bring doch mal ein paar Beispiele für – aus Deiner Sicht – wirklich innovative, „retro“-freie Pop-Musik aus der Vergangenheit (möglichst aus den letzten 25 Jahren, dass Pop davor recht häufig innovativ war, darüber besteht ja Konsens). Damit man einfach mal einen Eindruck hat, was Deine Messlatte ist.
Wie könnte ich prospektiv die Frage nach Erwartung von Innovationsgehalt oder -fähigkeit künftiger Musik beantworten? Wie andere auch, weiß ich ebensowenig, wie sich das anhört, was vielleicht einmal an die seit vielen Jahren vakante Stelle dieses Einhorns namens Innovation tritt und helfen wird ‘die Frucht der Gegenwart’ im Zusammenhang mit Popmusik zu pflücken. Was ich wahrnehme ist ein bequemer Stand-by-Betrieb der Popmusik, in der sich Musiker und Rezipienten gut eingerichtet haben und in dieser Das-klingt-wie-…-Ära nichts zu vermissen scheinen. Davon abgesehen ist es auch nicht auszuschließen, dass jene Innovationen in der Popmusik überhaupt nicht mehr möglich sind. Die Lücken scheinen geschlossen, längst schon alles mit allem kombiniert worden zu sein.
T-Bone Burnett meint dazu: ‘Science fiction and nostalgia have become the same thing’ und Andrew Goodwin hat dies in einer Betrachtung über Popmusik im digitalen Zeitalter der Reproduktion ‘sample and hold’ genannt. Sokrates hat an anderer Stelle im Forum schon mal und zurecht einen Gegenwartsbezug der aktuell veröffentlichten Popmusik eingefordert. Es stellt sich im Übrigen auch die Frage, wie diese hübschen neuen Schichttorten aus Samples, Mixen, Aufgüssen und Zitaten bereits früher einmal produzierter Musik eigentlich den Bezug zum Jetzt herstellen wollen. Dieses Retromanie-Phänomen ist für mich auch weder negativ besetzt noch eine Geschmacksfrage oder Neigungsangelegenheit, sondern einfach eine Beobachtung in diesem Kulturbetrieb, an dem ich – und nicht ausschließlich im Bereich der Popmusik – ein prospektives Element vermisse, ohne freilich dessen Konsistenz nähern benennen zu können.
Als mögliche Messlatte würde ich die beiden großen Innovationsschübe Hip-Hop (inklusive Rap) und New Electronic Music (House, Techno, Synthpop, Disco, Ambient, Trance, Electro, Postrock) nennen. Das bedeutet aber nun nicht, dass ich eine große Verehrerin des Genannten bin. Hip-Hop empfinde ich (mit Ausnahmen) oft als infantil, das Angebot des gutsortierten Elektroladens meist als zu kalt und seelenlos. Als Innovation oder Inspirationsquelle im Bereich der Popkultur finde ich aber beides interessant (Drum ‘n’ Bass oder Dub finde ich spannend), obwohl der Wechsel von echten Instrumenten zu Fake-Instrumenten schade ist. Mittlerweile sind wir aber alle bereits so an synthetische Zeichen gewöhnt, dass wir die elektronischen Simulationen der Computerspezialisten oft als solche gar nicht mehr erkennen.
Lieber Rossi, was die Frage nach der ‘retro-freien Popmusik’ angeht, sollten wir erst einmal klären worüber wir reden, wenn wir worüber reden. Was diese begonnene Debatte angeht, würde ich am liebsten Pure-Retro und Zitat-Pop (mit lediglich Retro-Elementen) auseinanderhalten; genauer: Werke, die nahezu ausschließlich aus Popmusik-Zitaten bestehen, und Werke, die Zitate zwar enthalten, aber mit eigenen Ideen des Künstlers verknüpfen und weiterspinnen. Niemand schöpft aus dem Nichts und Zitate sind nicht verboten. Es kommt allerdings darauf an, wie und in welchem Ausmaß zurückliegende Musikgeschichte genutzt und vom Künstler auf individuelle Weise in die Gegenwart transformiert wird. Findest du nicht? Davon abgesehen bin ich übrigens auch nicht auf der Suche nach einer ‘retro-freien Popmusik’, sondern eher auf der Suche für Gründe dieser postmodernen Genussorgie, die gelegentlich auch Züge einer Persiflage trägt und der Autor Simon Reynolds Retromania nennt. Und diesen Thread gibt es, weil mir eben auf Fragen Antworten fehlen.
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