Re: Retromania | ist Pop tot?

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daniel_belsazar

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tolomoquinkolomAuch wenn das so ist wie du schreibst, ist doch eine Beschleunigung vorhanden, selbst wenn sie nur eine gefühlte ist. Und die Geschwindigkeit technischer Erneuerungen und der (nicht nur) medialen Globalisierung haben ja stets kulturelle und gesellschaftliche Auswirkungen auf Konsum, Kultur und Musik. Möglicherweise führt ein derartiger subjektiver Beschleunigungseindruck auf Grund individueller Überforderung durch diese komplexe Globalität (die zum Teil auch aus Unübersichtlichkeit besteht) zu Fluchtreaktionen. Die Absetzbewegung der Retromanier im Zusammenhang mit Popkultur und Popmusik in einen bereits früher schon positiv besetzten Wohlfühlbereich aus der individuellen Vergangenheit ist nachvollziehbar..

Sicher kann die „gefühlte“ Beschleunigung die dialektische Kehrseite der realen Verlangsamung sein. Dann aber ist sie genau der Schleier, den der gesellschaftliche Stillstand braucht, um seine zähe Klebrigkeit im Alltag vergessen zu machen. Das viele Reden über die Schnelligkeit, mit der angeblich heute alles passiert, kommt m.M.n. eher aus den stillstehenden Gedanken und Gefühlen der wie auch immer Etablierten. Die Jugend etwa war immer schon schnell, und sie ist es heute nicht minder als vor 10, 20, 30, 40, 100 oder 1000 Jahren. Auch das Internet hebelt Naturgesetze der conditio humana nicht aus. Das Gefühl der Beschleunigung ergibt sich zwangsläufig für die, die stehen geblieben sind, sich in ihrer Nische eingerichtet haben und diese so lange wie möglich behaupten wollen.

In diesem Sinne kann Pop freilich notwendig eskapistisch sein (Züge davon trägt er wohl immer, diesem Generalverdacht steht er aber mit zuckenden Schultern gegenüber – Tanzen macht zuviel Spaß). Der in der „Retromanie“ aber (nur scheinbar paradoxerweise) vielmehr vermutbaren Simulation einer Beschleunigung bei realem Stillstand würde im Politischen die Diskussion über Kohlendioxid entsprechen, wo doch der Kern des Klimaproblems bei dem dafür weitaus wirksameren Methan liegt. Darüber zu sprechen, hieße dann aber tatsächlich über uns selber und unser Leben und Ernährung zu sprechen, über wirklich unbequeme Bewegungsnotwendigkeiten. Aber erst kommt bekanntlich das Fressen und dann die Moral.

Da reden wir also lieber über das weitaus komplexere und für jeden untergründig erkennbar nicht lösbare „CO2-Problem“. Die Lösung liegt ja immer 50 oder 100 Jahre vor uns, also da, wo sie uns nicht mehr erreicht.

Und wir hören musikalisch eben die weitaus bequemeren Dinge, die uns keine reale Änderung abverlangen, aber irgendwie „frisch“ klingen und ob der jugendlichen Frische als authentisch bewegtes Leben wirken, obwohl es sich um die Simulation von tatsächlicher „Seele“ handelt. Ja, diese Figur könnte passen, taugt aber letztlich nicht zu einem wirklichen Vorwurf an irgendwen – von welcher Position aus soll der denn auch kommen, wo doch alle drum herum in dünnsten Glashäusern sitzen? Das Sein bestimmt noch immer das Bewusstsein, auch wenn Marx tot ist und Jesus und Mohammed kleben.

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The only truth is music.