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Herr RossiWie sieht eigentlich Deine Vorstellung von musikalischer Innovation aus? Ich bringe Deine musikalischen Favoriten nicht gerade mit Avantgarde in Verbindung. Ist kein Vorwurf, mir ist nur nicht klar, was konkret Du eigentlich vermisst.
Bring doch mal ein paar Beispiele für – aus Deiner Sicht – wirklich innovative, „retro“-freie Pop-Musik aus der Vergangenheit (möglichst aus den letzten 25 Jahren, dass Pop davor recht häufig innovativ war, darüber besteht ja Konsens). Damit man einfach mal einen Eindruck hat, was Deine Messlatte ist.
Wie könnte ich prospektiv die Frage nach Erwartung von Innovationsgehalt oder -fähigkeit künftiger Musik beantworten? Wie andere auch, weiß ich ebensowenig, wie sich das anhört, was vielleicht einmal an die seit vielen Jahren vakante Stelle dieses Einhorns namens Innovation tritt und helfen wird ‘die Frucht der Gegenwart’ im Zusammenhang mit Popmusik zu pflücken. Was ich wahrnehme ist ein bequemer Stand-by-Betrieb der Popmusik, in der sich Musiker und Rezipienten gut eingerichtet haben und in dieser Das-klingt-wie-…-Ära nichts zu vermissen scheinen. Davon abgesehen ist es auch nicht auszuschließen, dass jene Innovationen in der Popmusik überhaupt nicht mehr möglich sind. Die Lücken scheinen geschlossen, längst schon alles mit allem kombiniert worden zu sein.
T-Bone Burnett meint dazu: ‘Science fiction and nostalgia have become the same thing’ und Andrew Goodwin hat dies in einer Betrachtung über Popmusik im digitalen Zeitalter der Reproduktion ‘sample and hold’ genannt. Sokrates hat an anderer Stelle im Forum schon mal und zurecht einen Gegenwartsbezug der aktuell veröffentlichten Popmusik eingefordert. Es stellt sich im Übrigen auch die Frage, wie diese hübschen neuen Schichttorten aus Samples, Mixen, Aufgüssen und Zitaten bereits früher einmal produzierter Musik eigentlich den Bezug zum Jetzt herstellen wollen. Dieses Retromanie-Phänomen ist für mich auch weder negativ besetzt noch eine Geschmacksfrage oder Neigungsangelegenheit, sondern einfach eine Beobachtung in diesem Kulturbetrieb, an dem ich – und nicht ausschließlich im Bereich der Popmusik – ein prospektives Element vermisse, ohne freilich dessen Konsistenz nähern benennen zu können.
Als mögliche Messlatte würde ich die beiden großen Innovationsschübe Hip-Hop (inklusive Rap) und New Electronic Music (House, Techno, Synthpop, Disco, Ambient, Trance, Electro, Postrock) nennen. Das bedeutet aber nun nicht, dass ich eine große Verehrerin des Genannten bin. Hip-Hop empfinde ich (mit Ausnahmen) oft als infantil, das Angebot des gutsortierten Elektroladens meist als zu kalt und seelenlos. Als Innovation oder Inspirationsquelle im Bereich der Popkultur finde ich aber beides interessant (Drum ‘n’ Bass oder Dub finde ich spannend), obwohl der Wechsel von echten Instrumenten zu Fake-Instrumenten schade ist. Mittlerweile sind wir aber alle bereits so an synthetische Zeichen gewöhnt, dass wir die elektronischen Simulationen der Computerspezialisten oft als solche gar nicht mehr erkennen.
Lieber Rossi, was die Frage nach der ‘retro-freien Popmusik’ angeht, sollten wir erst einmal klären worüber wir reden, wenn wir worüber reden. Was diese begonnene Debatte angeht, würde ich am liebsten Pure-Retro und Zitat-Pop (mit lediglich Retro-Elementen) auseinanderhalten; genauer: Werke, die nahezu ausschließlich aus Popmusik-Zitaten bestehen, und Werke, die Zitate zwar enthalten, aber mit eigenen Ideen des Künstlers verknüpfen und weiterspinnen. Niemand schöpft aus dem Nichts und Zitate sind nicht verboten. Es kommt allerdings darauf an, wie und in welchem Ausmaß zurückliegende Musikgeschichte genutzt und vom Künstler auf individuelle Weise in die Gegenwart transformiert wird. Findest du nicht? Davon abgesehen bin ich übrigens auch nicht auf der Suche nach einer ‘retro-freien Popmusik’, sondern eher auf der Suche für Gründe dieser postmodernen Genussorgie, die gelegentlich auch Züge einer Persiflage trägt und der Autor Simon Reynolds Retromania nennt. Und diesen Thread gibt es, weil mir eben auf Fragen Antworten fehlen.
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