Re: Retromania | ist Pop tot?

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tolomoquinkolom

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Vergangenheit als Gegenwart?

Pop ist Gegenwartskultur. Diesen Satz konnte man in den vergangenen Jahren geradezu als Mantra hören, gemurmelt von Feuilletonisten und Kulturwissenschaftlern. Wer die Gegenwart verstehen wolle, müsse die Popkultur analysieren, in deren grellbunten Landschaften sich der wahre Charakter einer Epoche zeige. So in etwa lautet das Credo der anglo-amerikanischen Cultural Studies, die beflissen die Alltagskultur analysieren. Aber was heißt es für den Pop, wenn sich die Geschichtswissenschaft nun auch damit beschäftigt? Wenn Rock’n’Roll-Platten als historische Quellen plötzlich gleichberechtigt neben Wappen und Urkunden treten? Wird Pop nun gänzlich historisiert und damit zu den Akten gelegt?

Viele Aussagen über Popkultur, die heute allgemein anerkannt sind, entpuppen sich aus historischer Perspektive als unhaltbar. So wird der Pop oftmals als gleichbedeutend mit Jugendkultur oder Generationenkonflikt verstanden. Mal wird er mit der Kultur des westlich-kapitalistischen Systems, mal mit Rebellion und Protest gleichgesetzt. All dies ist sicher nicht ganz falsch, trifft aber eben immer nur zu einer ganz bestimmten Zeit in einer ganz bestimmten Epoche zu.

Die meisten Vorstellungen, die das heutige Bild von Pop prägen, wurden maßgeblich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt. Dass Pop bis heute als Kultur der Jugend gilt, hat etwa seinen Ursprung in den demografischen Faktoren des Babybooms und dem so genannten Wirtschaftswunder der Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Jugendliche waren so zahlreich, dass sie eine relevante Zahl von Konsumenten stellten und erstmalig auch so viel Taschengeld und Freizeit hatten, dass es sich für die Industrie lohnte, jungen Konsumenten spezifische Angebote zu machen. Das hartnäckige Vorurteil, Pop sei eine reine Jugendangelegenheit, widerlegen längst die Statistiken über die Käufer der Popmusik, die seit einigen Jahren schon mehrheitlich Über-40-Jährige sind. In der Zeit demografischen Wandels ist es zunehmend die ältere Generation, die sich für Pop interessiert.

Auch verwandelte sich Pop spätestens in den sechziger Jahren in eine ernste, zumindest aber eine ernst genommene Kunst, wie man am Siegeszug der Pop-Art in Museen und aufwendigen Künstlerschallplatten und Konzeptalben sehen kann. Seit den Achtzigern wird Pop schließlich von den gebildeten Schichten mit derselben Beflissenheit konsumiert wie zuvor Jazz oder Klassik. Dazu haben maßgeblich Magazine wie Spex oder Sounds beigetragen, bis allmählich auch die lange Jahrzehnte Pop-ignoranten Feuilletons der Zeitungen Pop-Kritiken zu ihrem festen Repertoire zählten.

Die alten Gegensätze zwischen elitärer Hochkultur und Massenunterhaltung für die unteren Schichten weichen somit seit Jahrzehnten auf. Großen Anteil daran hatten außeruniversitäre Denker, allen voran intellektuelle Musikkritiker wie Greil Marcus, Jon Savage oder Diedrich Diederichsen. Durch ihre ernsthafte Beschäftigung mit der Popkultur wurde diese auch für Menschen mit Abitur und Hochschulabschluss akzeptabel. Das Sammeln von Schallplatten und Anhäufen von Pop-Wissen entwickelt sich so zu einem ähnlichen Statusmerkmal wie zuvor Klavierstunde oder Museumsbesuch. Auch dies zeigt, dass man am Pop den kulturellen Wandel ablesen kann – etwa die Liberalisierung und Nivellierung traditioneller Unterschiede zwischen gesellschaftlichen Schichten.

Heute jedoch schreibt Pop selbst an der Geschichte mit. Kaum ein jüngeres Werk zur Zeitgeschichte nach 1945 oder zur neueren Kulturgeschichte kann auf die Kategorie des Populären verzichten. Der Heidelberger Zeithistoriker Edgar Wolfrum etwa bezeichnet in seinem Handbuch zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland die mit Graffiti verzierte Berliner Mauer als die größte Leinwand der westlichen Popkultur. Und auch in zahlreichen anerkannten historischen Forschungsfeldern spielt Pop zunehmend eine wichtige Rolle. Die Politikgeschichte etwa untersucht die Rolle von Musik bei der Mobilisierung von Protesten. Die Konsumgeschichte hat – anders als in der traditionellen Wirtschaftsgeschichte – die Konsumenten kultureller Produkte als eigensinnige Akteure der Geschichte entdeckt, die mit ihrem produktiven Konsum Meinungen und Mentalitäten ausdrücken und damit das gesellschaftliche Klima einer Epoche prägen.

An gültigen Einordnungen von Pop in die Geschichte fehlt es jedoch noch immer. Das betrifft so grundlegende Fragen wie die nach der Periodisierung: War Pop ein Zeitalter? Und wenn ja, wann hat es begonnen? Mit dem Rock’n’Roll nach dem Krieg? Mit dem Jazz vor dem Krieg? Oder war bereits das Jahr 1900 die Scheidegrenze, die ein Jahrhundert des Populären einleitete.

[Bodo Mrozek | aus: Von hier an retro?]

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