Retromania | ist Pop tot?

Startseite Foren Kulturgut Das musikalische Philosophicum Retromania | ist Pop tot?

Ansicht von 15 Beiträgen - 286 bis 300 (von insgesamt 373)
  • Autor
    Beiträge
  • #8682749  | PERMALINK

    atom
    Moderator

    Registriert seit: 10.09.2003

    Beiträge: 21,371

    tolomoquinkolomBist du der Ansicht, dass beim Sampling Musik nicht nur zusammengetragen und neu angeordnet wird, sondern tatsächlich auch neue Musik ‘gemacht’ wird?

    Hast Du noch nie einen Track von DJ Premier oder Pete Rock gehört? Oder „Endtroducing“ von DJ Shadow? Oder evtl. selbst mal mit einen MPC von Akai gearbeitet?

    --

    Hey man, why don't we make a tune... just playin' the melody, not play the solos...
    Highlights von Rolling-Stone.de
    Werbung
    #8682751  | PERMALINK

    jan-lustiger

    Registriert seit: 24.08.2008

    Beiträge: 10,981

    tolomoquinkolomEs geht doch auch um Methoden der Aneignung. Ist das Herumdrehen an Rubiks Zauberwürfel kreativ? Worin würdest du denn im (mehr oder weniger zufälligen) Auswählen von Samples diese kreativ schöpfende, die künstlerische Eigenbeteiligung des – meinetwegen auch geschickten – Archivars sehen? Bist du der Ansicht, dass beim Sampling Musik nicht nur zusammengetragen und neu angeordnet wird, sondern tatsächlich auch neue Musik ‘gemacht’ wird?

    Natürlich wird da neue Musik gemacht. Und manchmal ist diese Musik dann kreativ und manchmal nicht. So wie es immer ist beim Musikmachen. Wie du darauf kommst, dass das Auswählen von Samples „mehr oder weniger zufällig“ sei, ist mir ein Rätsel. Das ist genauso wenig zufällig wie der Drum-Beat oder die Akkordfolge, auf die man ein Stück aufbaut. Zur kreativen Eigenleistung hat bullschuetz bereits etwas geschrieben, auf das du (bisher noch) nicht näher eingegangen bist:

    bullschuetzUnd dass beim Sampeln nur „kopiert und dupliziert“ wird, ist, mit Verlaub, Stuss. Es wird verändert, gepitcht, de- und rekontextualisiert, kombiniert, geschnitten, montiert, da werden Tonhöhen und damit Klangcharakteristika verändert, Geschwindigkeiten und damit Groove-Charakteristika manipuliert, da wird aus herausgeschnittenen Schnipseln etwas völlig anderes als das, was im Ursprungszusammenhang zu hören war.

    tolomoquinkolomUnd wie definierst bzw. unterscheidest du eigentlich Vintage, Retro und Zitat-Pop?

    Den Begriff Zitat-Pop finde ich redundant. Auf andere Künstler Bezug zu nehmen, ist seit jeher Teil vom Pop und dazu nicht einmal ein Phänomen, das diesem eigen ist, das zeigt z.B. die Literaturgeschichte.

    Über die Unterscheidung Vintage/Retro habe ich mir bis dato keine weiteren Gedanken gemacht. Ich nehme deine Frage aber mal zum Anlass, das zu tun. Der Vintage-Begriff war m.W. zuerst in erster Linie für Sammler interessant; es ist eine Faszination mit Gegenständen direkt aus der Vergangenheit. Das impliziert nicht das Bedürfnis, sie zu reproduzieren, oft sind Rekreationen sogar verpönt. Das Bedürfnis kann aber daraus entstehen. Vintage ist die Stellung der Vergangenheit im Jetzt, Retro ist der Versuch, die Vergangenheit wieder aufleben zu lässen. Vintage ist der wehmütige Blick zurück, Retro ist der Versuch zum Re-Wind. In diesem Sinne ist die Beatles-Nacheifer-Band Retro, ihre 60s-Plattensammlung Vintage.

    Wie man sie auch definiert: Mit beiden Begriffen habe ich meine Probleme, weil sie einer differenzierten Wahrnehmung popkultureller Strömungen mit ihren Vereinfachungen im Wege stehen, was solche abenteuerlichen Aussagen zur Folge hat wie die, dass Sampling prinzipiell Retro sei.

    --

    #8682753  | PERMALINK

    latho
    No pretty face

    Registriert seit: 04.05.2003

    Beiträge: 36,945

    tolomoquinkolom[…]Bei Retro geht es immer um die relativ unmittelbare Vergangenheit, um Dinge, die noch lebendig in Erinnerung sind [Reynolds]. Der Zusammenhang mit diesem angesprochenen und persönlich erlebten Zeitrahmen erscheint mir plausibel. […]

    Mir auch. Allerdings macht es den Begriff „retro“ noch weicher, als er sowieso schon ist, denn dann kommt es auf den persönlichen Bezugsrahmen an. Dann könnte ein (wahrscheinlich) von dir als „retro“ Geschmähter wie Nick Waterhouse für einen 20-Jährigen, der keine Ahnung von 50s/60s hat, ja das coole neue Ding sein. Oder aber „retro“ wird nur von denen „in the know“ definiert – also denen, die den Begriff als valide ansehen und nach Eigeneinschätzung genug Wissen haben, „retro“ zu erkennen. Aber eben auch nicht zuviel, sonst ist ja plötzlich alles „retro“…

    --

    If you talk bad about country music, it's like saying bad things about my momma. Them's fightin' words.
    #8682755  | PERMALINK

    tolomoquinkolom

    Registriert seit: 07.08.2008

    Beiträge: 8,651

    Das Wörtchen Retro und die Frage nach der Innovation.

    Bei der journalistischen Frage ‘was ist bloß aus der Innovation geworden?’ wurde Retro in einem vagen, alles umfassenden Sinne gebraucht und auf alles Altmodische und alle Weiterentwicklungen angewandt, und als Totschlagargument gegen jeden Künstler gebraucht, dessen Einflüsse und Vorläufer allzu offenkundig waren. Es ist aber nicht per se Retro, wenn man Einflüsse hat oder sich musikalischer Traditionen bewusst ist. Die meisten Musiker, Künstler und Schriftsteller lernen das, was sie machen, durch Nachahmung, zumindest anfangs.

    [Simon Reynolds | aus: Don‘t Look Back]

    .

    --

    #8682757  | PERMALINK

    bullschuetz

    Registriert seit: 16.12.2008

    Beiträge: 2,113

    Darauf können wir uns zur Abwechslung mal einigen.

    --

    #8682759  | PERMALINK

    tolomoquinkolom

    Registriert seit: 07.08.2008

    Beiträge: 8,651

    bullschuetz Nein, das greift mir viel zu kurz – aus meiner Sicht wäre es so richtiger: Über die Notwendigkeit der Verarbeitung zurückliegender Einflüsse in der Kunst muss nicht viel diskutiert werden. Wenn man das mal akzeptiert, merkt man, wie die theoretisch so hübsch saubere Trennung zwischen „Rückwärtsgewandtheit“ und „Innovation“ anfängt zu verschwimmen.

    Mit dieser Korrektur bin ich einverstanden. Wo bei der Trennung von rückwärts und vorwärts etwas verschwimmt, kann ich allerdings nicht erkennen. Auch links und rechts scheinen mir eher nicht die gleiche Richtung zu sein.

    Dass nicht „real“ nachgespielt wird durch Saitenanschlagen, Pianotastendrücken oder Trommelbehämmern, ist natürlich richtig. Aber was sagt das aus?

    Dass der Wert des spielenden und singenden Musikers sinkt und der Wert des repetierenden und reparierenden Kurators steigt.

    Es wird verändert, gepitcht, de- und rekontextualisiert, kombiniert, geschnitten, montiert, da werden Tonhöhen und damit Klangcharakteristika verändert, Geschwindigkeiten und damit Groove-Charakteristika manipuliert, da wird aus herausgeschnittenen Schnipseln etwas völlig anderes als das, was im Ursprungszusammenhang zu hören war.

    Schön, aber dies geschieht eben mit bereits vorhandener Musik (die man sich auch jederzeit anhören könnte). Bei einem zusammengesampelten Stück Musik wird nichts interpretiert oder nachgeahmt, das Ausgangsmaterial ist ja trotz schnippeln, montieren und pitchen immer noch vorhanden, wenn auch fragmentiert. Und weshalb besteht die Anwendung einer neuen Technologie gerade darin, bereits archivierte Musik als Ursprungsmaterial (anderer Künstler) einer De- bzw. Rekontextualisierung zuzuführen? Welche innovationsfördernde oder musikalische Notwendigkeit siehst du darin? Klar, das ist feine Beschäftigungstherapie, aber innovativ ist das ebensowenig wie der Remix-Wahn von anderen Knöpfchendrehern. Thomas Meinecke spricht von einer Referenzhölle, aber möglicherweise trifft hier auch McLuhans ‘the medium is the message’ zu.

    Ist nur Kunst, was unter Aufwendung handwerklicher Geschicklichkeit hergestellt wird? Es kommt doch wohl auf andere Dinge an. Im Fall Sample zum Beispiel: Rhythmusgefühl, Stilgefühl, Groove-Kompetenz, Vision, Ideenreichtum, Kompetenz beim Sich-Zurechtfinden im riesigen Archiv der Möglichkeiten.

    Ich finde es enttäuschend, wenn Kunst bzw. Künstler nur einen Informationsfluss wiedergeben und im Grunde lediglich Querverweise zwischen Zitat und Quelle übertragen, auch wenn diese in der Form modifiziert sind und nun ‘besser’ grooven. Ich verweise nochmals auf den Aspekt, der sich auf die Art der Aneignung bezieht. Mit der Stilsicherheit und dem Rhythmusgefühl magst du recht haben – beides ist hilfreich. Bei Kompetenz und Orientierungsstärke meinst du sicher die eines Kurators bzw. Archivwächters. Und welche Ideen und Visionen meinst du eigentlich? Auch liegt es sicher an mir, keine visionären Samples zu kennen.

    Wenn sich das Selbstverständnis des Künstlers dank neuer digitaler Möglichkeit radikal verändert, wie Du sagst – dann wäre das doch genau, was ich gesagt habe: Ein Innovationshebel. Neue Möglichkeiten, die zu radikalen Veränderungen führen: Nicht gerade die Definition von Retro, oder?

    Die Sache mit dem Hebel gefällt mir gut. Aber was nutzt er, wenn sich der ‘innovative’ Zugführer – weil er die Gegenwart nicht leiden kann und/oder die Zukunft fürchtet – nun einmal entschlossen hat, sein Depot nicht zu verlassen und dort lieber weiter an alten Trümmern herumschraubt, denen er dann eine neue Lackierung mit auf den Weg zum Publikum und in die Charts gibt. Ich erkenne keine radikalen Veränderungen oder den von dir erwähnten musikalischen Schub, und wenn die tollen neuen digitalen Möglichkeiten nur im Zerstückeln und modifiziertem Neuaufbereiten bestehen, ist auch der Künstler nur ein Kunstkleber bzw. Restaurator. Oder wie es der Musiker und DJ Didi Neidhart ausdrückt: ‘man trennt einen schwarzweißen Karopullover auf, um daraus einen weißschwarzen Karopullover zu machen’.
    .

    --

    #8682761  | PERMALINK

    bullschuetz

    Registriert seit: 16.12.2008

    Beiträge: 2,113

    Na so ein Glück, wir sind uns wieder uneinig. Der Reihe nach:

    tolomoquinkolomMit dieser Korrektur bin ich einverstanden. Wo bei der Trennung von rückwärts und vorwärts etwas verschwimmt, kann ich allerdings nicht erkennen. Auch links und rechts scheinen mir eher nicht die gleiche Richtung zu sein.

    Wird’s deutlicher, wenn ich sage, dass der Unterschied zwischen „rückwärtsgewandt“ und „innovativ“ verschwimmt? Man kann sich massenhaft in der Vergangenheit bedienen und daraus doch was Neues machen. Wer weiß und nutzt, was gestern war, tut damit noch lange nicht so, als gäb’s kein Morgen. Goethe hat alte Stoffe recycelt, Joyce sich exzessiv in der antiken Mythologie bedient – dennoch ist weder der „Faust“ noch „Ulysses“ Retro.

    tolomoquinkolomDass der Wert des spielenden und singenden Musikers sinkt und der Wert des repetierenden und reparierenden Kurators steigt.

    Zustimmung zur ersten Hälfte des Satzes, Widerspruch nach dem „und“. Du versuchst hier immer wieder, implizit eine polemische Wertung einzuschmuggeln. „Spielen“ und „singen“ sind wertneutral beschreibende Verben, „repetieren“ und „reparieren“ gezielt herabwürdigende. Auch der spielende und singende Musiker repetiert permanent – Melodien und Rhythmen anderer, Genre-Charakteristika, die abendländischen Konventionen des Zwölf-Halbton-Systems und der klassischen Harmonielehre, Songstrukturen wie Strophe-Refrain-Schemata und und und. Er schöpft nicht aus dem Nichts. Andersherum: Leute wie Gang Starr (der von atom genannte DJ Premier und der Rapper Guru) als „repetierende und reparierende Kuratoren“ zu bezeichnen, ist offensichtlich verfehlt. Fair wäre: „Dass der Wert des spielenden und singenden Musikers sinkt und der Wert des sampelnden und rappenden Musikers steigt.“

    tolomoquinkolomSchön, aber dies geschieht eben mit bereits vorhandener Musik (die man sich auch jederzeit anhören könnte). Bei einem zusammengesampelten Stück Musik wird nichts interpretiert oder nachgeahmt, das Ausgangsmaterial ist ja trotz schnippeln, montieren und pitchen immer noch vorhanden, wenn auch fragmentiert.

    Es ist halt immer die Frage, was man als Material betrachtet (siehe oben). Für Dich ist „Material“ eine technologisch reproduzierbare Klangaufnahme. Damit wird beim Sampeln gearbeitet. Für mich ist auch das, was ich oben genannt habe, „Material“, mit dem ein Künstler arbeitet. Auch er erfindet dabei nicht „die Musik“, sondern formt aus Vorhandenem Neues. Mir ist vollkommen bewusst, dass an diesem Punkt viele Leute eher denken wie Du – das eine sei „selber gemacht“ das andere „fremde Früchte gepflückt“. Ich sehe das anders, kann aber damit leben, wenn Du auf der Bruchstelle beharrst. Energisch widerspreche ich aber, wenn Du daraus ableitest, dass auf die eine Art regelmäßig etwas „Neues“, künstlerisch Eigenwertiges, Kreatives entsteht, während das auf die andere Art allenfalls ausnahmsweise mal möglich ist.

    tolomoquinkolomUnd weshalb besteht die Anwendung einer neuen Technologie gerade darin, bereits archivierte Musik als Ursprungsmaterial (anderer Künstler) einer De- bzw. Rekontextualisierung zuzuführen? Welche innovationsfördernde oder musikalische Notwendigkeit siehst du darin? Klar, das ist feine Beschäftigungstherapie, aber innovativ ist das ebensowenig wie der Remix-Wahn von anderen Knöpfchendrehern.

    Meine Güte, jetzt fängst Du schon an, alle, die nicht auf die gute, alte Muckerart die Saiten ziehen und sich die Seele aus dem Leib shouten, zu pathologisieren als vom Remix-„Wahn“ befallene „Knöpfchendreher“ (ein klassisches Schimpfwort in reaktionären „Nur handgemachte Musik ist echte Musik“-Bluesrockerkreisen). Das ist echt albern, und ich glaube, hier argumentierst Du unter Deinem Niveau. Aber ernsthaft zur Innovationsfrage: Der durch technologische Erleichterungen bedingte Siegeszug des Samplings hat einfach massenhaft Musik hervorgebracht, die „anders“ klang als das, was zuvor auf konventionelle Art gemacht wurde – das ist schlicht meine Hörerfahrung mit Bands wie A Tribe Called Quest, Gang Starr, De La Soul usw. Und genau so wurde es seinerzeit auch von den Bluesrock-Handmachern empfunden: Sie sagten, das sei doch „keine Musik mehr“ und merkten gar nicht, dass sie genau klangen wie ihre eigenen Eltern, wenn die über die Rolling Stones sprachen. Die Sampling-Technologie ermöglichte es, sich aus den klassischen Musiziergewohnheiten (Instrumentenbeherrschung, übende Aneignung spieltechnischer Konventionen, Sich-Schulen im übenden Nacheifern der Werke, Licks und Riffs kompetenter Instrumentalisten-Vorbilder) zu lösen und relativ unbefangen, auch unbedarft einfach mal ganz anders ranzugehen, draufloszuwerkeln. Jeder, der ein Instrument erlernt, weiß, wie das läuft: Üben, üben, üben, repetieren, repetieren, repetieren, nachahmen, nachahmen, nachahmen – und irgendwann fängt man dann an, seine eigene Stimme zu finden; oder auch nicht. Sampling funktionierte anders – und führte zu anderen Ergebnissen. Neue Produktionstechniken erschließen immer auch neue Wege, das ist, glaube ich, ein Fundamentalsatz der musikalischen Innovationsgeschichte.

    tolomoquinkolomIch finde es enttäuschend, wenn Kunst bzw. Künstler nur einen Informationsfluss wiedergeben und im Grunde lediglich Querverweise zwischen Zitat und Quelle übertragen, auch wenn diese in der Form modifiziert sind und nun ‘besser’ grooven. Ich verweise nochmals auf den Aspekt, der sich auf die Art der Aneignung bezieht. Mit der Stilsicherheit und dem Rhythmusgefühl magst du recht haben – beides ist hilfreich. Bei Kompetenz und Orientierungsstärke meinst du sicher die eines Kurators bzw. Archivwächters. Und welche Ideen und Visionen meinst du eigentlich? Auch liegt es sicher an mir, keine visionären Samples zu kennen.

    Es muss ja nicht gleich „visionär“ sein. Aber ganz bestimmt wirst Du beim allerersten Hören merken, dass „Fight the Power“ von Public Enemy ein überhaupt nicht in Soul- und Funk-Konventionalität gefangenes Stück Museums-Musik ist, sondern im Grunde selbst heute noch „neu“ klingt (zumindest höre ich heute noch den Schock der ersten Begegnung mit) – auch wenn einer der meistgesampelten Schlagzeugbeats (James Browns „Funky Drummer“-Schlussbreak) drunterliegt. Den PE-Track als das Erzeugnis von Kuratoren und Archivwächtern zu bezeichnen, wäre wirklich ulkig.

    tolomoquinkolomDie Sache mit dem Hebel gefällt mir gut. Aber was nutzt er, wenn sich der ‘innovative’ Zugführer – weil er die Gegenwart nicht leiden kann und/oder die Zukunft fürchtet – nun einmal entschlossen hat, sein Depot nicht zu verlassen und dort lieber weiter an alten Trümmern herumschraubt, denen er dann eine neue Lackierung mit auf den Weg zum Publikum und in die Charts gibt

    Klar, den Hebel muss man schon bedienen. Manche tun es, manche nicht.

    --

    #8682763  | PERMALINK

    genosse-schulz

    Registriert seit: 06.01.2009

    Beiträge: 5,321

    lathoMir auch. Allerdings macht es den Begriff „retro“ noch weicher, als er sowieso schon ist, denn dann kommt es auf den persönlichen Bezugsrahmen an.

    Dachte ich auch, daß macht die Theorie ja noch angreifbarer.

    P.S.: Wartet da etwa schon wieder eine auf die (popkulturelle) Revolution?

    tolomoquinkolomIch finde es enttäuschend, wenn Kunst bzw. Künstler nur einen Informationsfluss wiedergeben und im Grunde lediglich Querverweise zwischen Zitat und Quelle übertragen, auch wenn diese in der Form modifiziert sind und nun ‘besser’ grooven.

    --

    I hunt alone
    #8682765  | PERMALINK

    tolomoquinkolom

    Registriert seit: 07.08.2008

    Beiträge: 8,651

    bullschuetz Was wäre denn ein „Element ohne pophistorische Vergangenheit“?

    BrundleflyWelche Musik der letzten 30 Jahre würdest Du denn als genuin innovativ und neuartig bezeichnen? Weiter oben hast Du auf eine ähnliche Frage mal Hip Hop und House genannt…

    Wie wäre es denn mit einer eigenen, vielleicht sogar innovativen Idee eines Künstlers, der zur Abwechslung mal nicht auf das vielfältige Rauschen und Brausen der Archive und das laute Geflüster von Vorbildern hört? Zum Beispiel die musikalischen Elemente von Fluxus? Oder da vermutlich bekannter: Ambient, eine Musik, deren Elemente zwar Bezüge zu elektronischer Musik aufweisen, dennoch aber recht eigenständig ist und kaum pophistorische Vergangenheit hat. Oder sieh dir die spannende – aber schon ältere – Geschichte des Aetherophons (Theremin) an (ohne das es vermutlich keine Moog-Synthesizer gegeben hätte). Die Töne des seltsamen Instruments hatten keine pophistorische Vergangenheit und haben sich längst in die Popgeschichte hineingesphärt; erfahren momentan gar eine (ich glaube dritte) Renaissance.

    Das Hip-Hop-Movement (zumindest jenes in den Vereinigten Staaten von Amerika) würde ich als solches schon als neuartig bezeichnen. Und auch wenn mir Methoden (Sampling, Musikaneignung, Performance) und vielfach Songinhalte (Macho-Matsch, Frauenverachtung, Gewaltverherrlichung, Gangsterspielchen, Plattitüden und andere Plattheiten) nur wenig zusagen, und ich in derlei Pubertätssequels keine Innovationen erkennen kann, gibt es sicher durchaus genuine Elemente im Hip-Hop.

    Hotblack DesiatoDas Sampling ist nun mal Stilelement im Hip-Hop. Die Ausschnitte werden in einen völlig neuen Zusammenhang gestellt.

    So wie der Pizzabäcker, der nicht aufgegessene Pizzabeläge für neue Pizzas sampelt und ‘in einen völlig neuen Zusammenhang stellt’.

    Nicht_vom_ForumSampling von z. B. Drum-Breaks bei der Produktion eines Stücks ist für mich näher an der Tätigkeit von Dirigenten/Arrangeuren, also z. B. der Auswahl von Klangfarben, Instrumenten, Dynamik, Tempi usw. oder dem Schreiben von Begleitstimmen als an der Auseinandersetzung mit „historischer“ Popmusik a la Kitty, Daisy and Lewis.

    Ich werde darüber nachdenken.
    .

    --

    #8682767  | PERMALINK

    hotblack-desiato

    Registriert seit: 11.11.2008

    Beiträge: 8,595

    tolomoquinkolomSo wie der Pizzabäcker, der nicht aufgegessene Pizzabeläge für neue Pizzas sampelt und ‘in einen völlig neuen Zusammenhang stellt’.

    Nein, eher Kartoffelauflauf. Hmmm, lecker.

    --

    ~ Mut ist, zu wissen, dass es weh tun kann und es trotzdem zu tun. Dummheit ist dasselbe. Und deswegen ist das Leben so schwer. ~
    #8682769  | PERMALINK

    bullschuetz

    Registriert seit: 16.12.2008

    Beiträge: 2,113

    Zurück zu Retro: Kurioserweise gehöre ich ja hier, auch wenn ich die übergriffige Ausdehnung des Retro-Begriffs auf alles mögliche bis hin zum Sampling für analytisch kontraproduktiv halte, zur Minderheit derer, die den „Retro“-Begriff durchaus nicht schlechterdings unnütz finden. Wenn man Kunst prinzipiell immer im Spannungsfeld zwischen Traditionsbewusstsein (T) und Innovationsbewegung (I) ansiedelt, dann ließe sich „Retro“ als Trend in der Popmusik seit (ja, seit wann denn genau? Ich schätze mal, seit den 90ern oder so) definieren, den Akzent hin zu T zu schieben und in immer schnellerer Folge immer kürzer zurückliegende Moden in Musik, Kleidung, Stil zu recyceln, wiederaufzugreifen, zu reaktivieren, zu verbrauchen, auszubeuten, abzulegen und bei nächster Gelegenheit erneut zu verwursten, bis man am Ende das Gefühl hat, dass all die Traditionsbestände permanent nebeneinander Wiedergeburt um Wiedergeburt erleben (tolos Stichwort „Referenzhölle“). Exemplarische Retro-Phänomene scheinen mir die Chartshows, die x-malige Reinterpretation einschlägiger Lieder in Castingshows, die semi-ironische Zelebrierung des deutschen Schlagers durch Leute wie Dieter Thomas Kuhn, die diversen Ü-Partys für Leute über 30, 40, 50 mit Musik der 80er-, 70er-, 60er-Jahre oder die deprimierende Programm-Enge des Formatradios zu sein. Tatsächlich glaube ich, dass viele Hörer derzeit diesen Irgendwie-war-doch-alles-schon-mal-da-Eindruck haben, während zum Beispiel Mitte der 60er-Jahre, wenn man Zeitzeugen glauben darf, das Wow-hier-tut-sich-ja-alle-paar-Wochen-was-Neues-Gefühl recht verbreitet war.

    Und nun ein Sakrileg – ich empfehle herzlich zur Lektüre den Artikel „Retrowelle“ in der hier oft und gerne als Oberflächen-, After- und Des-Informationsplattform geschmähten Internet-Enzyklopädie wikipedia.

    Was aber Pizza und Kartoffelauflauf betrifft: Durch kreative Verwertung von Essensresten lässt sich innovativ kochen!

    --

    #8682771  | PERMALINK

    hotblack-desiato

    Registriert seit: 11.11.2008

    Beiträge: 8,595

    bullschuetzWas aber Pizza und Kartoffelauflauf betrifft: Durch kreative Verwertung von Essensresten lässt sich innovativ kochen!

    Finde ich auch, halte mich selbst für einen grossen Reste-Verkocher in der ehimischen Küche, egal was meine Familie behaupten würde.

    Den Retro-Begriff würde ich jedoch nicht nur auf unliebsame Dinge wie von dir beschrieben beschränken. Bands wir Franz Ferdinand haben doch auch einen Retro-Anteil, das zappelige des Wave nämlich.

    --

    ~ Mut ist, zu wissen, dass es weh tun kann und es trotzdem zu tun. Dummheit ist dasselbe. Und deswegen ist das Leben so schwer. ~
    #8682773  | PERMALINK

    tolomoquinkolom

    Registriert seit: 07.08.2008

    Beiträge: 8,651

    bullschuetz Man kann sich massenhaft in der Vergangenheit bedienen und daraus doch was Neues machen. Wer weiß und nutzt, was gestern war, tut damit noch lange nicht so, als gäb’s kein Morgen. Goethe hat alte Stoffe recycelt, Joyce sich exzessiv in der antiken Mythologie bedient – dennoch ist weder der „Faust“ noch „Ulysses“ Retro.

    Es stellt sich die Frage, ob zitieren und Zitate, nacheifern und Inspiration, recyclen und Sampling gleichen Stellenwert haben.

    Du versuchst hier immer wieder, implizit eine polemische Wertung einzuschmuggeln. „Spielen“ und „singen“ sind wertneutral beschreibende Verben, „repetieren“ und „reparieren“ gezielt herabwürdigende.

    Dies ist beabsichtigt. Ich will schließlich auch ein bisschen was von der Diskussion haben. ;-)

    Energisch widerspreche ich aber, wenn Du daraus ableitest, dass auf die eine Art regelmäßig etwas „Neues“, künstlerisch Eigenwertiges, Kreatives entsteht, während das auf die andere Art allenfalls ausnahmsweise mal möglich ist.

    Habe ich das in dieser Deutlichkeit geschrieben?

    Meine Güte, jetzt fängst Du schon an, alle, die nicht auf die gute, alte Muckerart die Saiten ziehen und sich die Seele aus dem Leib shouten, zu pathologisieren als vom Remix-„Wahn“ befallene „Knöpfchendreher“ (ein klassisches Schimpfwort in reaktionären „Nur handgemachte Musik ist echte Musik“-Bluesrockerkreisen).

    :-)
    Den Gebrauch dieses Unworts solltest du nicht überbewerten. Ich wollte es eben auch einmal verwendet haben – auch wenn es eigentlich nicht so recht als Trennmarke funktioniert, denn schließlich haben nicht nur elektrische Gitarren ebenfalls Knöpfchen zum drehen.

    Der durch technologische Erleichterungen bedingte Siegeszug des Samplings hat einfach massenhaft Musik hervorgebracht, die „anders“ klang als das, was zuvor auf konventionelle Art gemacht wurde – das ist schlicht meine Hörerfahrung mit Bands wie A Tribe Called Quest, Gang Starr, De La Soul usw. Und genau so wurde es seinerzeit auch von den Bluesrock-Handmachern empfunden: Sie sagten, das sei doch „keine Musik mehr“ und merkten gar nicht, dass sie genau klangen wie ihre eigenen Eltern, wenn die über die Rolling Stones sprachen.

    Generationsinkompatibilität. Die jeweils betroffenen Protagonisten leben auf sich überlappenden Zeitachsen, jedoch unterschiedlichen Levels von Erinnerungseinlagerungen.

    Die Sampling-Technologie ermöglichte es, sich aus den klassischen Musiziergewohnheiten (Instrumentenbeherrschung, übende Aneignung spieltechnischer Konventionen, Sich-Schulen im übenden Nacheifern der Werke, Licks und Riffs kompetenter Instrumentalisten-Vorbilder) zu lösen und relativ unbefangen, auch unbedarft einfach mal ganz anders ranzugehen, draufloszuwerkeln. Jeder, der ein Instrument erlernt, weiß, wie das läuft: Üben, üben, üben, repetieren, repetieren, repetieren, nachahmen, nachahmen, nachahmen – und irgendwann fängt man dann an, seine eigene Stimme zu finden; oder auch nicht. Sampling funktionierte anders – und führte zu anderen Ergebnissen. Neue Produktionstechniken erschließen immer auch neue Wege, das ist, glaube ich, ein Fundamentalsatz der musikalischen Innovationsgeschichte.

    Das klingt durchaus plausibel. Diese Mutation von Musiker/Instrument zu Do-it-yourself-Heimwerker/PC kann mitunter dennoch recht gewöhnungsbedürftig sein.

    bullschuetz Kurioserweise gehöre ich ja hier, auch wenn ich die übergriffige Ausdehnung des Retro-Begriffs auf alles mögliche bis hin zum Sampling für analytisch kontraproduktiv halte, zur Minderheit derer, die den „Retro“-Begriff durchaus nicht schlechterdings unnütz finden. Wenn man Kunst prinzipiell immer im Spannungsfeld zwischen Traditionsbewusstsein (T) und Innovationsbewegung (I) ansiedelt, dann ließe sich „Retro“ als Trend in der Popmusik seit (ja, seit wann denn genau? Ich schätze mal, seit den 90ern oder so) definieren, den Akzent hin zu T zu schieben und in immer schnellerer Folge immer kürzer zurückliegende Moden in Musik, Kleidung, Stil zu recyceln, wiederaufzugreifen, zu reaktivieren, zu verbrauchen, auszubeuten, abzulegen und bei nächster Gelegenheit erneut zu verwursten, bis man am Ende das Gefühl hat, dass all die Traditionsbestände permanent nebeneinander Wiedergeburt um Wiedergeburt erleben (tolos Stichwort „Referenzhölle“). Exemplarische Retro-Phänomene scheinen mir die Chartshows, die x-malige Reinterpretation einschlägiger Lieder in Castingshows, die semi-ironische Zelebrierung des deutschen Schlagers durch Leute wie Dieter Thomas Kuhn, die diversen Ü-Partys für Leute über 30, 40, 50 mit Musik der 80er-, 70er-, 60er-Jahre oder die deprimierende Programm-Enge des Formatradios zu sein. Tatsächlich glaube ich, dass viele Hörer derzeit diesen Irgendwie-war-doch-alles-schon-mal-da-Eindruck haben, während zum Beispiel Mitte der 60er-Jahre, wenn man Zeitzeugen glauben darf, das Wow-hier-tut-sich-ja-alle-paar-Wochen-was-Neues-Gefühl recht verbreitet war.

    Und nun ein Sakrileg – ich empfehle herzlich zur Lektüre den Artikel „Retrowelle“ in der hier oft und gerne als Oberflächen-, After- und Des-Informationsplattform geschmähten Internet-Enzyklopädie wikipedia.

    An dem von dir genannten Artikel finde ich besonders die unterschiedlichen Erklärungsmodelle für Retro interessant. Aus bestimmten Gründen hat mich die Erwähnung von Lego und Playmobil am meisten gefreut. ;-)

    Am ausgedehnten Sampling-Übergriff der letzten Seiten fühle ich mich schuldig. Also zurück ins Retroland und zu seinen Helden.

    Was aber Pizza und Kartoffelauflauf betrifft: Durch kreative Verwertung von Essensresten lässt sich innovativ kochen!

    Ja, das stimmt. Awopbopaloobophoppelpoppelalopbamboom!
    .

    --

    #8682775  | PERMALINK

    latho
    No pretty face

    Registriert seit: 04.05.2003

    Beiträge: 36,945

    genosse schulzDachte ich auch, daß macht die Theorie ja noch angreifbarer.

    P.S.: Wartet da etwa schon wieder eine auf die (popkulturelle) Revolution?

    Ich bin gespannt!

    --

    If you talk bad about country music, it's like saying bad things about my momma. Them's fightin' words.
    #8682777  | PERMALINK

    friedrich

    Registriert seit: 28.06.2008

    Beiträge: 4,882

    Das Sammeln von Schallplatten und Anhäufen von Pop-Wissen entwickelt sich so zu einem ähnlichen Statusmerkmal wie zuvor Klavierstunde oder Museumsbesuch.

    [Bodo Mrozek | aus: Von hier an retro?]

    Warum auch nicht? Ich kenne Leute, die können geistreicher über Elektro Pop sprechen, als andere über Klavierkonzerte, Gemälde oder Baukunst.

    MikkoGuter Beitrag.

    Thx!

    Ich hole mal etwas weiter aus. Hoffe, ich langweile damit niemanden. Aber es ist ja niemand gezwungen das hier zu lesen. Falls ich dummes Zeug quatsche, bitte ich um einen entsprechenden Wink.

    Ich hatte in den letzten Wochen auf endlosen S-, U- und Straßenbahnfahrten ausgiebig Gelegenheit über diesen Thread nachzudenken. Dabei kam mir in den Sinn, wie ich selbst mit Pop aufgewachsen bin, wie ich Pop früher wahrgenommen habe und wie ich Pop heute wahrnehme. Ganz am Anfang war es gut genug, wenn etwas einfach irgendwie gut klang. Mehr konnte ich vielleicht auch gar nicht wahrnehmen. Das war fast ein voraussetzungsloses Hören. Wenn man aber über 30 Jahre Platten gekauft und gehört hat, mit Freunden nächtelang über Musik diskutiert hat, auch mal jahrelang Fachzeitschriften gelesen hat, hier und dort auch im www seinen Senf dazugegeben hat, verändern und erweitern sich die Vorraussetzungen aber. Man fängt an zu vergleichen, Bezüge herzustellen, Entwicklungslinien zu entdecken und zu verfolgen. Man entwickelt ein Referenzsystem durch das man überhaupt erst in die Lage versetzt wird, zu differenzieren. Und unter diesen erweiterten Voraussetzungen verändert sich das Bild, das man von Pop hat. Das ist vielleicht eine Binsenweisheit. Es lohnt sich aber, sich das selbst mal zu verdeutlichen.

    Ich habe mich hier im Forum in den letzten Jahren ausführlich u.a. mit The Black Keys, Stereolab und dem – im weitesten Sinne – Jazz-Gitarristen Bill Frisell beschäftigt. Es ist nicht der Auslöser für die Beschäftigung mit diesen drei in vieler Hinsicht völlig unterschiedlichen Bands/Musikern gewesen, aber im Nachhinein fällt mir auf, dass alle drei eine Gemeinsamkeit haben: Sie alle sind Eklektizisten, die über ein fast enzyklopädisches Wissen ihres jeweiligen Genres verfügen und dies in ihrer eigenen Musik verarbeiten. Bei Stereolab war das erklärtes Programm, The Black Keys scheinen alles, was seit Muddy Waters mit vocals, guitar & drums aufgenommen worden ist, abrufen zu können und für Bill Frisell scheint Americana von Country über Charles Ives bis Jazz der Steinbruch seiner Musik zu sein. Wenn The Black Keys Covers der Beatles oder der Sonics spielen, dann höre ich – sofern ich sie kenne – die Originale vor meinem geistigen Ohr mit, wenn Dan Auerbach die Fuzzbox einsetzt, höre ich die Vorbilder von den Stones bis Dinosaur Jr. mit, und wenn sie ein Instrumental BLACK MUD nennen, hebe ich bescheidwissend die Augenbrauen. Wenn Stereolab in CADRIOPO das Keyboardriff von Sun Ras LOVE IN OUTER SPACE 1:1 übernehmen, läuft vor meinem geistigen Auge und Ohr ein Film über den Afro-Futurismus und den utopischen Free Jazz des Urhebers mit und wenn Bill Frisell als eigentlich ausgebildeter Jazzer ein Stück von Hank Williams spielt, eröffnen sich für mich Assoziationsräume in der großen weiten Welt der Americana. Eigentlich nur ein paar gefällig arrangierte Töne, aber dann doch eigentlich auch noch was anderes.

    Wenn Massive Attack auf ihrem Debut 20 Jahre alten Jazz Rock samplen – also eine Musikrichtung, die Anfang der 90er als absolut uncool galt – und aus diesen ollen Kammellen die lässigsten und coolsten Grooves herausdestillieren, dann ist das eine höchst kreative Neu- und Um-Interpretation und damit eine großartige künstlerische Leistung. Wenn Suicide (mit denen ich mich hier im Forum in den letzten Wochen ausgiebig beschäftigt habe) mich auf dem ersten Stück ihrer ersten Platte an Elvis und Chuck Berry erinnern und wenn sie das zweite Stück ROCKET USA nennen und wenn ich gleichzeitig weiß, dass es ein Stück von Chuck Berry gibt, das BACK IN THE USA heißt, das die Beach Boys zu SURFIN‘ USA verarbeitet haben und die Beatles wiederum zu BACK IN THE USSR, dann werden dadurch Spannungsbögen gespannt, Konnotationen und Bedeutungszusammenhänge hergestellt, die der Musik überhaupt erst Geist einhauchen. Und auch wenn mir Oasis persönlich egal sind, so ist es für deren Musik wohl essentiell, dass sie sich auf Paul Weller beziehen, der sich wiederum auf The Who und The Kinks bezieht und auch schon mehr als einmal ein Gitarrenriff der Beatles geklaut hat. Dadurch stellen sie sich nicht nur in den Zusammenhang einer jahrzehntealten britischen Pop-Tradition sondern markieren damit auch ein britisches working class Selbstbewusstsein. Auch das ist nicht vom Himmel gefallen, sondern ist über Jahrzehnte aufgebaut worden und muss immer wieder bestätigt werden. Auch durch Musik.

    Dass es auch Musik gibt, die nichts weiter als obvious hit samples verwurstet, bei der bekannte Gassenhauer wahlweise in marktgängigen Bossa Nova oder Country&Western Sound gecovert werden oder die sich im bloßen Mimikry bewährter Rezepte übt, ist ein anderes Thema. Aber in jeder Kunstform gibt es auch Banalitäten, im Pop vielleicht sogar besonders viele. Das ist in einer populären Massenkultur wohl kaum zu vermeiden.

    Ich frage mich, worin der Mehrwert von vermeintlich neuer, angeblich nicht rückbezüglicher Musik gegenüber dieser Musik bestehen soll, die mancher in dieser Diskussion als retro und damit problematisch bezeichnet. Diedrich Diederichsen hat recht, wenn er sagt, dass Popmusik oft aus meist einfachen klanglichen Gebilden besteht. Nicht mehr als ein paar mehr oder weniger geschickt kombinierte Töne. Für sich genommen ist das nicht viel wert. Bedeutung bekommt Pop erst durch den Kontext, in den er gestellt wird und dadurch, wie kenntnisreich er auch über sich selbst reflektiert. Auch das ist keine Weisheit und das hat Pop mit allen anderen Kunstformen gemein. Insofern sehe ich Rück- und Querbezüglichkeit von Pop überhaupt nicht als Problem. Ich sehe es sogar eher als etwas, das die Musik nicht ärmer macht, sondern im Gegenteil- reicher! So ähnlich sagt das eigentlich auch der rührend betuliche Joachim Kaiser (http://www.youtube.com/watch?v=e81_lAwOBgg) über klassische Musik. Blöderweise nimmt er als Beispiel für Pop aber ausgerechnet Britney Spears und damit leider etwas, das an Referenzen, Verweisen und Konnotationen eher arm und damit tatsächlich „dümmer und simpler“ ist.

    In diesem Jahr feiern Roxy Music ihren 40. Geburtstag. Von Roxy Music und deren Leader Brian Ferry stammen einige der bemerkenswertesten Coverversionen von Originalen aus sehr unterschiedlichen Zusammenhängen. Das reicht von alten Broadway-Melodien (SMOKE GETS IN YOU EYES) über Dylan- und Byrds-Songs (HARD RAIN, 8 MILES HIGH) und Soul-Stücken (MIDNIGHT HOUR). Und auch was die stage personae von Roxy Music betrifft, von Elvis-Tolle über Männer in Frauenkleidern bis zum eleganten Dinner Jacket wird der kulturelle Fundus des 20. Jahrhunderts weiterverarbeitet, re-interpretiert und modernisiert – oder, um es in den Worten von Roxy Music zu sagen – re-modelliert. Eleganz, Hedonismus, das Spiel mit Geschlechterrollen, Grenzüberschreitungen, der Reiz der Ausschweifung bis an die Grenze der Dekadenz: Alles Themen der Kunst und der Kultur des 20. Jahrhunderts, nicht nur der Popmusik seit Mitte der 50er. Mit seinem gerade erschienen Album stellt sich Brian Ferry sogar explizit in den Kontext des Jazz Age der 20er Jahre, in denen das alles Hochkonjunktur hatte. Hätte er in den 20ern gelebt, wäre auf einem Roxy Music-Cover vielleicht nicht Amanda Lear abgebildet gewesen sondern Josephine Baker. Ein für mich sehr reizvoller Gedanke. Ist das eine abzulehnende Retro-Attitüde, oder befinden sich Brian Ferry/Roxy Music damit eigentlich bloß in guter Gesellschaft vieler Künstler, die vor ihnen kamen, die nach Ihnen gekommen sind und noch kommen werden? Letzteres, würde ich sagen, zumal dieser Eklektizismus bei Roxy Music sehr reflektiert ist, bewusst eingesetzt wird und Authentizität gar nicht erst vorgetäuscht wird.

    Über Roxy Musics Debut Album sagte deren Saxofonist Andy Mackay später: „We certainly didn’t invent eclecticism but we did say and prove that rock ’n‘ roll could accommodate – well, anything really.“ Und deswegen habe ich mich zum Weihnachtsfest selbst mit den wiederveröffentlichten Complete Studio Recordings von Roxy Music beschenkt.

    Frohe Weihnachten!

    --

    „Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)
Ansicht von 15 Beiträgen - 286 bis 300 (von insgesamt 373)

Du musst angemeldet sein, um auf dieses Thema antworten zu können.