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Anonym
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Na so ein Glück, wir sind uns wieder uneinig. Der Reihe nach:
tolomoquinkolomMit dieser Korrektur bin ich einverstanden. Wo bei der Trennung von rückwärts und vorwärts etwas verschwimmt, kann ich allerdings nicht erkennen. Auch links und rechts scheinen mir eher nicht die gleiche Richtung zu sein.
Wird’s deutlicher, wenn ich sage, dass der Unterschied zwischen „rückwärtsgewandt“ und „innovativ“ verschwimmt? Man kann sich massenhaft in der Vergangenheit bedienen und daraus doch was Neues machen. Wer weiß und nutzt, was gestern war, tut damit noch lange nicht so, als gäb’s kein Morgen. Goethe hat alte Stoffe recycelt, Joyce sich exzessiv in der antiken Mythologie bedient – dennoch ist weder der „Faust“ noch „Ulysses“ Retro.
tolomoquinkolomDass der Wert des spielenden und singenden Musikers sinkt und der Wert des repetierenden und reparierenden Kurators steigt.
Zustimmung zur ersten Hälfte des Satzes, Widerspruch nach dem „und“. Du versuchst hier immer wieder, implizit eine polemische Wertung einzuschmuggeln. „Spielen“ und „singen“ sind wertneutral beschreibende Verben, „repetieren“ und „reparieren“ gezielt herabwürdigende. Auch der spielende und singende Musiker repetiert permanent – Melodien und Rhythmen anderer, Genre-Charakteristika, die abendländischen Konventionen des Zwölf-Halbton-Systems und der klassischen Harmonielehre, Songstrukturen wie Strophe-Refrain-Schemata und und und. Er schöpft nicht aus dem Nichts. Andersherum: Leute wie Gang Starr (der von atom genannte DJ Premier und der Rapper Guru) als „repetierende und reparierende Kuratoren“ zu bezeichnen, ist offensichtlich verfehlt. Fair wäre: „Dass der Wert des spielenden und singenden Musikers sinkt und der Wert des sampelnden und rappenden Musikers steigt.“
tolomoquinkolomSchön, aber dies geschieht eben mit bereits vorhandener Musik (die man sich auch jederzeit anhören könnte). Bei einem zusammengesampelten Stück Musik wird nichts interpretiert oder nachgeahmt, das Ausgangsmaterial ist ja trotz schnippeln, montieren und pitchen immer noch vorhanden, wenn auch fragmentiert.
Es ist halt immer die Frage, was man als Material betrachtet (siehe oben). Für Dich ist „Material“ eine technologisch reproduzierbare Klangaufnahme. Damit wird beim Sampeln gearbeitet. Für mich ist auch das, was ich oben genannt habe, „Material“, mit dem ein Künstler arbeitet. Auch er erfindet dabei nicht „die Musik“, sondern formt aus Vorhandenem Neues. Mir ist vollkommen bewusst, dass an diesem Punkt viele Leute eher denken wie Du – das eine sei „selber gemacht“ das andere „fremde Früchte gepflückt“. Ich sehe das anders, kann aber damit leben, wenn Du auf der Bruchstelle beharrst. Energisch widerspreche ich aber, wenn Du daraus ableitest, dass auf die eine Art regelmäßig etwas „Neues“, künstlerisch Eigenwertiges, Kreatives entsteht, während das auf die andere Art allenfalls ausnahmsweise mal möglich ist.
tolomoquinkolomUnd weshalb besteht die Anwendung einer neuen Technologie gerade darin, bereits archivierte Musik als Ursprungsmaterial (anderer Künstler) einer De- bzw. Rekontextualisierung zuzuführen? Welche innovationsfördernde oder musikalische Notwendigkeit siehst du darin? Klar, das ist feine Beschäftigungstherapie, aber innovativ ist das ebensowenig wie der Remix-Wahn von anderen Knöpfchendrehern.
Meine Güte, jetzt fängst Du schon an, alle, die nicht auf die gute, alte Muckerart die Saiten ziehen und sich die Seele aus dem Leib shouten, zu pathologisieren als vom Remix-„Wahn“ befallene „Knöpfchendreher“ (ein klassisches Schimpfwort in reaktionären „Nur handgemachte Musik ist echte Musik“-Bluesrockerkreisen). Das ist echt albern, und ich glaube, hier argumentierst Du unter Deinem Niveau. Aber ernsthaft zur Innovationsfrage: Der durch technologische Erleichterungen bedingte Siegeszug des Samplings hat einfach massenhaft Musik hervorgebracht, die „anders“ klang als das, was zuvor auf konventionelle Art gemacht wurde – das ist schlicht meine Hörerfahrung mit Bands wie A Tribe Called Quest, Gang Starr, De La Soul usw. Und genau so wurde es seinerzeit auch von den Bluesrock-Handmachern empfunden: Sie sagten, das sei doch „keine Musik mehr“ und merkten gar nicht, dass sie genau klangen wie ihre eigenen Eltern, wenn die über die Rolling Stones sprachen. Die Sampling-Technologie ermöglichte es, sich aus den klassischen Musiziergewohnheiten (Instrumentenbeherrschung, übende Aneignung spieltechnischer Konventionen, Sich-Schulen im übenden Nacheifern der Werke, Licks und Riffs kompetenter Instrumentalisten-Vorbilder) zu lösen und relativ unbefangen, auch unbedarft einfach mal ganz anders ranzugehen, draufloszuwerkeln. Jeder, der ein Instrument erlernt, weiß, wie das läuft: Üben, üben, üben, repetieren, repetieren, repetieren, nachahmen, nachahmen, nachahmen – und irgendwann fängt man dann an, seine eigene Stimme zu finden; oder auch nicht. Sampling funktionierte anders – und führte zu anderen Ergebnissen. Neue Produktionstechniken erschließen immer auch neue Wege, das ist, glaube ich, ein Fundamentalsatz der musikalischen Innovationsgeschichte.
tolomoquinkolomIch finde es enttäuschend, wenn Kunst bzw. Künstler nur einen Informationsfluss wiedergeben und im Grunde lediglich Querverweise zwischen Zitat und Quelle übertragen, auch wenn diese in der Form modifiziert sind und nun ‘besser’ grooven. Ich verweise nochmals auf den Aspekt, der sich auf die Art der Aneignung bezieht. Mit der Stilsicherheit und dem Rhythmusgefühl magst du recht haben – beides ist hilfreich. Bei Kompetenz und Orientierungsstärke meinst du sicher die eines Kurators bzw. Archivwächters. Und welche Ideen und Visionen meinst du eigentlich? Auch liegt es sicher an mir, keine visionären Samples zu kennen.
Es muss ja nicht gleich „visionär“ sein. Aber ganz bestimmt wirst Du beim allerersten Hören merken, dass „Fight the Power“ von Public Enemy ein überhaupt nicht in Soul- und Funk-Konventionalität gefangenes Stück Museums-Musik ist, sondern im Grunde selbst heute noch „neu“ klingt (zumindest höre ich heute noch den Schock der ersten Begegnung mit) – auch wenn einer der meistgesampelten Schlagzeugbeats (James Browns „Funky Drummer“-Schlussbreak) drunterliegt. Den PE-Track als das Erzeugnis von Kuratoren und Archivwächtern zu bezeichnen, wäre wirklich ulkig.
tolomoquinkolomDie Sache mit dem Hebel gefällt mir gut. Aber was nutzt er, wenn sich der ‘innovative’ Zugführer – weil er die Gegenwart nicht leiden kann und/oder die Zukunft fürchtet – nun einmal entschlossen hat, sein Depot nicht zu verlassen und dort lieber weiter an alten Trümmern herumschraubt, denen er dann eine neue Lackierung mit auf den Weg zum Publikum und in die Charts gibt
Klar, den Hebel muss man schon bedienen. Manche tun es, manche nicht.
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