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Das Sammeln von Schallplatten und Anhäufen von Pop-Wissen entwickelt sich so zu einem ähnlichen Statusmerkmal wie zuvor Klavierstunde oder Museumsbesuch.
[Bodo Mrozek | aus: Von hier an retro?]
Warum auch nicht? Ich kenne Leute, die können geistreicher über Elektro Pop sprechen, als andere über Klavierkonzerte, Gemälde oder Baukunst.
MikkoGuter Beitrag.
Thx!
Ich hole mal etwas weiter aus. Hoffe, ich langweile damit niemanden. Aber es ist ja niemand gezwungen das hier zu lesen. Falls ich dummes Zeug quatsche, bitte ich um einen entsprechenden Wink.
Ich hatte in den letzten Wochen auf endlosen S-, U- und Straßenbahnfahrten ausgiebig Gelegenheit über diesen Thread nachzudenken. Dabei kam mir in den Sinn, wie ich selbst mit Pop aufgewachsen bin, wie ich Pop früher wahrgenommen habe und wie ich Pop heute wahrnehme. Ganz am Anfang war es gut genug, wenn etwas einfach irgendwie gut klang. Mehr konnte ich vielleicht auch gar nicht wahrnehmen. Das war fast ein voraussetzungsloses Hören. Wenn man aber über 30 Jahre Platten gekauft und gehört hat, mit Freunden nächtelang über Musik diskutiert hat, auch mal jahrelang Fachzeitschriften gelesen hat, hier und dort auch im www seinen Senf dazugegeben hat, verändern und erweitern sich die Vorraussetzungen aber. Man fängt an zu vergleichen, Bezüge herzustellen, Entwicklungslinien zu entdecken und zu verfolgen. Man entwickelt ein Referenzsystem durch das man überhaupt erst in die Lage versetzt wird, zu differenzieren. Und unter diesen erweiterten Voraussetzungen verändert sich das Bild, das man von Pop hat. Das ist vielleicht eine Binsenweisheit. Es lohnt sich aber, sich das selbst mal zu verdeutlichen.
Ich habe mich hier im Forum in den letzten Jahren ausführlich u.a. mit The Black Keys, Stereolab und dem – im weitesten Sinne – Jazz-Gitarristen Bill Frisell beschäftigt. Es ist nicht der Auslöser für die Beschäftigung mit diesen drei in vieler Hinsicht völlig unterschiedlichen Bands/Musikern gewesen, aber im Nachhinein fällt mir auf, dass alle drei eine Gemeinsamkeit haben: Sie alle sind Eklektizisten, die über ein fast enzyklopädisches Wissen ihres jeweiligen Genres verfügen und dies in ihrer eigenen Musik verarbeiten. Bei Stereolab war das erklärtes Programm, The Black Keys scheinen alles, was seit Muddy Waters mit vocals, guitar & drums aufgenommen worden ist, abrufen zu können und für Bill Frisell scheint Americana von Country über Charles Ives bis Jazz der Steinbruch seiner Musik zu sein. Wenn The Black Keys Covers der Beatles oder der Sonics spielen, dann höre ich – sofern ich sie kenne – die Originale vor meinem geistigen Ohr mit, wenn Dan Auerbach die Fuzzbox einsetzt, höre ich die Vorbilder von den Stones bis Dinosaur Jr. mit, und wenn sie ein Instrumental BLACK MUD nennen, hebe ich bescheidwissend die Augenbrauen. Wenn Stereolab in CADRIOPO das Keyboardriff von Sun Ras LOVE IN OUTER SPACE 1:1 übernehmen, läuft vor meinem geistigen Auge und Ohr ein Film über den Afro-Futurismus und den utopischen Free Jazz des Urhebers mit und wenn Bill Frisell als eigentlich ausgebildeter Jazzer ein Stück von Hank Williams spielt, eröffnen sich für mich Assoziationsräume in der großen weiten Welt der Americana. Eigentlich nur ein paar gefällig arrangierte Töne, aber dann doch eigentlich auch noch was anderes.
Wenn Massive Attack auf ihrem Debut 20 Jahre alten Jazz Rock samplen – also eine Musikrichtung, die Anfang der 90er als absolut uncool galt – und aus diesen ollen Kammellen die lässigsten und coolsten Grooves herausdestillieren, dann ist das eine höchst kreative Neu- und Um-Interpretation und damit eine großartige künstlerische Leistung. Wenn Suicide (mit denen ich mich hier im Forum in den letzten Wochen ausgiebig beschäftigt habe) mich auf dem ersten Stück ihrer ersten Platte an Elvis und Chuck Berry erinnern und wenn sie das zweite Stück ROCKET USA nennen und wenn ich gleichzeitig weiß, dass es ein Stück von Chuck Berry gibt, das BACK IN THE USA heißt, das die Beach Boys zu SURFIN‘ USA verarbeitet haben und die Beatles wiederum zu BACK IN THE USSR, dann werden dadurch Spannungsbögen gespannt, Konnotationen und Bedeutungszusammenhänge hergestellt, die der Musik überhaupt erst Geist einhauchen. Und auch wenn mir Oasis persönlich egal sind, so ist es für deren Musik wohl essentiell, dass sie sich auf Paul Weller beziehen, der sich wiederum auf The Who und The Kinks bezieht und auch schon mehr als einmal ein Gitarrenriff der Beatles geklaut hat. Dadurch stellen sie sich nicht nur in den Zusammenhang einer jahrzehntealten britischen Pop-Tradition sondern markieren damit auch ein britisches working class Selbstbewusstsein. Auch das ist nicht vom Himmel gefallen, sondern ist über Jahrzehnte aufgebaut worden und muss immer wieder bestätigt werden. Auch durch Musik.
Dass es auch Musik gibt, die nichts weiter als obvious hit samples verwurstet, bei der bekannte Gassenhauer wahlweise in marktgängigen Bossa Nova oder Country&Western Sound gecovert werden oder die sich im bloßen Mimikry bewährter Rezepte übt, ist ein anderes Thema. Aber in jeder Kunstform gibt es auch Banalitäten, im Pop vielleicht sogar besonders viele. Das ist in einer populären Massenkultur wohl kaum zu vermeiden.
Ich frage mich, worin der Mehrwert von vermeintlich neuer, angeblich nicht rückbezüglicher Musik gegenüber dieser Musik bestehen soll, die mancher in dieser Diskussion als retro und damit problematisch bezeichnet. Diedrich Diederichsen hat recht, wenn er sagt, dass Popmusik oft aus meist einfachen klanglichen Gebilden besteht. Nicht mehr als ein paar mehr oder weniger geschickt kombinierte Töne. Für sich genommen ist das nicht viel wert. Bedeutung bekommt Pop erst durch den Kontext, in den er gestellt wird und dadurch, wie kenntnisreich er auch über sich selbst reflektiert. Auch das ist keine Weisheit und das hat Pop mit allen anderen Kunstformen gemein. Insofern sehe ich Rück- und Querbezüglichkeit von Pop überhaupt nicht als Problem. Ich sehe es sogar eher als etwas, das die Musik nicht ärmer macht, sondern im Gegenteil- reicher! So ähnlich sagt das eigentlich auch der rührend betuliche Joachim Kaiser (http://www.youtube.com/watch?v=e81_lAwOBgg) über klassische Musik. Blöderweise nimmt er als Beispiel für Pop aber ausgerechnet Britney Spears und damit leider etwas, das an Referenzen, Verweisen und Konnotationen eher arm und damit tatsächlich „dümmer und simpler“ ist.
In diesem Jahr feiern Roxy Music ihren 40. Geburtstag. Von Roxy Music und deren Leader Brian Ferry stammen einige der bemerkenswertesten Coverversionen von Originalen aus sehr unterschiedlichen Zusammenhängen. Das reicht von alten Broadway-Melodien (SMOKE GETS IN YOU EYES) über Dylan- und Byrds-Songs (HARD RAIN, 8 MILES HIGH) und Soul-Stücken (MIDNIGHT HOUR). Und auch was die stage personae von Roxy Music betrifft, von Elvis-Tolle über Männer in Frauenkleidern bis zum eleganten Dinner Jacket wird der kulturelle Fundus des 20. Jahrhunderts weiterverarbeitet, re-interpretiert und modernisiert – oder, um es in den Worten von Roxy Music zu sagen – re-modelliert. Eleganz, Hedonismus, das Spiel mit Geschlechterrollen, Grenzüberschreitungen, der Reiz der Ausschweifung bis an die Grenze der Dekadenz: Alles Themen der Kunst und der Kultur des 20. Jahrhunderts, nicht nur der Popmusik seit Mitte der 50er. Mit seinem gerade erschienen Album stellt sich Brian Ferry sogar explizit in den Kontext des Jazz Age der 20er Jahre, in denen das alles Hochkonjunktur hatte. Hätte er in den 20ern gelebt, wäre auf einem Roxy Music-Cover vielleicht nicht Amanda Lear abgebildet gewesen sondern Josephine Baker. Ein für mich sehr reizvoller Gedanke. Ist das eine abzulehnende Retro-Attitüde, oder befinden sich Brian Ferry/Roxy Music damit eigentlich bloß in guter Gesellschaft vieler Künstler, die vor ihnen kamen, die nach Ihnen gekommen sind und noch kommen werden? Letzteres, würde ich sagen, zumal dieser Eklektizismus bei Roxy Music sehr reflektiert ist, bewusst eingesetzt wird und Authentizität gar nicht erst vorgetäuscht wird.
Über Roxy Musics Debut Album sagte deren Saxofonist Andy Mackay später: „We certainly didn’t invent eclecticism but we did say and prove that rock ’n‘ roll could accommodate – well, anything really.“ Und deswegen habe ich mich zum Weihnachtsfest selbst mit den wiederveröffentlichten Complete Studio Recordings von Roxy Music beschenkt.
Frohe Weihnachten!
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“There are legends of people born with the gift of making music so true it can pierce the veil between life and death. Conjuring spirits from the past and the future. This gift can bring healing—but it can also attract demons.” (From the movie Sinners by Ryan Coogler)