Re: Retromania | ist Pop tot?

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tolomoquinkolom

Registriert seit: 07.08.2008

Beiträge: 8,651

bullschuetz Man kann sich massenhaft in der Vergangenheit bedienen und daraus doch was Neues machen. Wer weiß und nutzt, was gestern war, tut damit noch lange nicht so, als gäb’s kein Morgen. Goethe hat alte Stoffe recycelt, Joyce sich exzessiv in der antiken Mythologie bedient – dennoch ist weder der „Faust“ noch „Ulysses“ Retro.

Es stellt sich die Frage, ob zitieren und Zitate, nacheifern und Inspiration, recyclen und Sampling gleichen Stellenwert haben.

Du versuchst hier immer wieder, implizit eine polemische Wertung einzuschmuggeln. „Spielen“ und „singen“ sind wertneutral beschreibende Verben, „repetieren“ und „reparieren“ gezielt herabwürdigende.

Dies ist beabsichtigt. Ich will schließlich auch ein bisschen was von der Diskussion haben. ;-)

Energisch widerspreche ich aber, wenn Du daraus ableitest, dass auf die eine Art regelmäßig etwas „Neues“, künstlerisch Eigenwertiges, Kreatives entsteht, während das auf die andere Art allenfalls ausnahmsweise mal möglich ist.

Habe ich das in dieser Deutlichkeit geschrieben?

Meine Güte, jetzt fängst Du schon an, alle, die nicht auf die gute, alte Muckerart die Saiten ziehen und sich die Seele aus dem Leib shouten, zu pathologisieren als vom Remix-„Wahn“ befallene „Knöpfchendreher“ (ein klassisches Schimpfwort in reaktionären „Nur handgemachte Musik ist echte Musik“-Bluesrockerkreisen).

:-)
Den Gebrauch dieses Unworts solltest du nicht überbewerten. Ich wollte es eben auch einmal verwendet haben – auch wenn es eigentlich nicht so recht als Trennmarke funktioniert, denn schließlich haben nicht nur elektrische Gitarren ebenfalls Knöpfchen zum drehen.

Der durch technologische Erleichterungen bedingte Siegeszug des Samplings hat einfach massenhaft Musik hervorgebracht, die „anders“ klang als das, was zuvor auf konventionelle Art gemacht wurde – das ist schlicht meine Hörerfahrung mit Bands wie A Tribe Called Quest, Gang Starr, De La Soul usw. Und genau so wurde es seinerzeit auch von den Bluesrock-Handmachern empfunden: Sie sagten, das sei doch „keine Musik mehr“ und merkten gar nicht, dass sie genau klangen wie ihre eigenen Eltern, wenn die über die Rolling Stones sprachen.

Generationsinkompatibilität. Die jeweils betroffenen Protagonisten leben auf sich überlappenden Zeitachsen, jedoch unterschiedlichen Levels von Erinnerungseinlagerungen.

Die Sampling-Technologie ermöglichte es, sich aus den klassischen Musiziergewohnheiten (Instrumentenbeherrschung, übende Aneignung spieltechnischer Konventionen, Sich-Schulen im übenden Nacheifern der Werke, Licks und Riffs kompetenter Instrumentalisten-Vorbilder) zu lösen und relativ unbefangen, auch unbedarft einfach mal ganz anders ranzugehen, draufloszuwerkeln. Jeder, der ein Instrument erlernt, weiß, wie das läuft: Üben, üben, üben, repetieren, repetieren, repetieren, nachahmen, nachahmen, nachahmen – und irgendwann fängt man dann an, seine eigene Stimme zu finden; oder auch nicht. Sampling funktionierte anders – und führte zu anderen Ergebnissen. Neue Produktionstechniken erschließen immer auch neue Wege, das ist, glaube ich, ein Fundamentalsatz der musikalischen Innovationsgeschichte.

Das klingt durchaus plausibel. Diese Mutation von Musiker/Instrument zu Do-it-yourself-Heimwerker/PC kann mitunter dennoch recht gewöhnungsbedürftig sein.

bullschuetz Kurioserweise gehöre ich ja hier, auch wenn ich die übergriffige Ausdehnung des Retro-Begriffs auf alles mögliche bis hin zum Sampling für analytisch kontraproduktiv halte, zur Minderheit derer, die den „Retro“-Begriff durchaus nicht schlechterdings unnütz finden. Wenn man Kunst prinzipiell immer im Spannungsfeld zwischen Traditionsbewusstsein (T) und Innovationsbewegung (I) ansiedelt, dann ließe sich „Retro“ als Trend in der Popmusik seit (ja, seit wann denn genau? Ich schätze mal, seit den 90ern oder so) definieren, den Akzent hin zu T zu schieben und in immer schnellerer Folge immer kürzer zurückliegende Moden in Musik, Kleidung, Stil zu recyceln, wiederaufzugreifen, zu reaktivieren, zu verbrauchen, auszubeuten, abzulegen und bei nächster Gelegenheit erneut zu verwursten, bis man am Ende das Gefühl hat, dass all die Traditionsbestände permanent nebeneinander Wiedergeburt um Wiedergeburt erleben (tolos Stichwort „Referenzhölle“). Exemplarische Retro-Phänomene scheinen mir die Chartshows, die x-malige Reinterpretation einschlägiger Lieder in Castingshows, die semi-ironische Zelebrierung des deutschen Schlagers durch Leute wie Dieter Thomas Kuhn, die diversen Ü-Partys für Leute über 30, 40, 50 mit Musik der 80er-, 70er-, 60er-Jahre oder die deprimierende Programm-Enge des Formatradios zu sein. Tatsächlich glaube ich, dass viele Hörer derzeit diesen Irgendwie-war-doch-alles-schon-mal-da-Eindruck haben, während zum Beispiel Mitte der 60er-Jahre, wenn man Zeitzeugen glauben darf, das Wow-hier-tut-sich-ja-alle-paar-Wochen-was-Neues-Gefühl recht verbreitet war.

Und nun ein Sakrileg – ich empfehle herzlich zur Lektüre den Artikel „Retrowelle“ in der hier oft und gerne als Oberflächen-, After- und Des-Informationsplattform geschmähten Internet-Enzyklopädie wikipedia.

An dem von dir genannten Artikel finde ich besonders die unterschiedlichen Erklärungsmodelle für Retro interessant. Aus bestimmten Gründen hat mich die Erwähnung von Lego und Playmobil am meisten gefreut. ;-)

Am ausgedehnten Sampling-Übergriff der letzten Seiten fühle ich mich schuldig. Also zurück ins Retroland und zu seinen Helden.

Was aber Pizza und Kartoffelauflauf betrifft: Durch kreative Verwertung von Essensresten lässt sich innovativ kochen!

Ja, das stimmt. Awopbopaloobophoppelpoppelalopbamboom!
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