Re: Retromania | ist Pop tot?

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tolomoquinkolom

Registriert seit: 07.08.2008

Beiträge: 8,651

bullschuetz Nein, das greift mir viel zu kurz – aus meiner Sicht wäre es so richtiger: Über die Notwendigkeit der Verarbeitung zurückliegender Einflüsse in der Kunst muss nicht viel diskutiert werden. Wenn man das mal akzeptiert, merkt man, wie die theoretisch so hübsch saubere Trennung zwischen „Rückwärtsgewandtheit“ und „Innovation“ anfängt zu verschwimmen.

Mit dieser Korrektur bin ich einverstanden. Wo bei der Trennung von rückwärts und vorwärts etwas verschwimmt, kann ich allerdings nicht erkennen. Auch links und rechts scheinen mir eher nicht die gleiche Richtung zu sein.

Dass nicht „real“ nachgespielt wird durch Saitenanschlagen, Pianotastendrücken oder Trommelbehämmern, ist natürlich richtig. Aber was sagt das aus?

Dass der Wert des spielenden und singenden Musikers sinkt und der Wert des repetierenden und reparierenden Kurators steigt.

Es wird verändert, gepitcht, de- und rekontextualisiert, kombiniert, geschnitten, montiert, da werden Tonhöhen und damit Klangcharakteristika verändert, Geschwindigkeiten und damit Groove-Charakteristika manipuliert, da wird aus herausgeschnittenen Schnipseln etwas völlig anderes als das, was im Ursprungszusammenhang zu hören war.

Schön, aber dies geschieht eben mit bereits vorhandener Musik (die man sich auch jederzeit anhören könnte). Bei einem zusammengesampelten Stück Musik wird nichts interpretiert oder nachgeahmt, das Ausgangsmaterial ist ja trotz schnippeln, montieren und pitchen immer noch vorhanden, wenn auch fragmentiert. Und weshalb besteht die Anwendung einer neuen Technologie gerade darin, bereits archivierte Musik als Ursprungsmaterial (anderer Künstler) einer De- bzw. Rekontextualisierung zuzuführen? Welche innovationsfördernde oder musikalische Notwendigkeit siehst du darin? Klar, das ist feine Beschäftigungstherapie, aber innovativ ist das ebensowenig wie der Remix-Wahn von anderen Knöpfchendrehern. Thomas Meinecke spricht von einer Referenzhölle, aber möglicherweise trifft hier auch McLuhans ‘the medium is the message’ zu.

Ist nur Kunst, was unter Aufwendung handwerklicher Geschicklichkeit hergestellt wird? Es kommt doch wohl auf andere Dinge an. Im Fall Sample zum Beispiel: Rhythmusgefühl, Stilgefühl, Groove-Kompetenz, Vision, Ideenreichtum, Kompetenz beim Sich-Zurechtfinden im riesigen Archiv der Möglichkeiten.

Ich finde es enttäuschend, wenn Kunst bzw. Künstler nur einen Informationsfluss wiedergeben und im Grunde lediglich Querverweise zwischen Zitat und Quelle übertragen, auch wenn diese in der Form modifiziert sind und nun ‘besser’ grooven. Ich verweise nochmals auf den Aspekt, der sich auf die Art der Aneignung bezieht. Mit der Stilsicherheit und dem Rhythmusgefühl magst du recht haben – beides ist hilfreich. Bei Kompetenz und Orientierungsstärke meinst du sicher die eines Kurators bzw. Archivwächters. Und welche Ideen und Visionen meinst du eigentlich? Auch liegt es sicher an mir, keine visionären Samples zu kennen.

Wenn sich das Selbstverständnis des Künstlers dank neuer digitaler Möglichkeit radikal verändert, wie Du sagst – dann wäre das doch genau, was ich gesagt habe: Ein Innovationshebel. Neue Möglichkeiten, die zu radikalen Veränderungen führen: Nicht gerade die Definition von Retro, oder?

Die Sache mit dem Hebel gefällt mir gut. Aber was nutzt er, wenn sich der ‘innovative’ Zugführer – weil er die Gegenwart nicht leiden kann und/oder die Zukunft fürchtet – nun einmal entschlossen hat, sein Depot nicht zu verlassen und dort lieber weiter an alten Trümmern herumschraubt, denen er dann eine neue Lackierung mit auf den Weg zum Publikum und in die Charts gibt. Ich erkenne keine radikalen Veränderungen oder den von dir erwähnten musikalischen Schub, und wenn die tollen neuen digitalen Möglichkeiten nur im Zerstückeln und modifiziertem Neuaufbereiten bestehen, ist auch der Künstler nur ein Kunstkleber bzw. Restaurator. Oder wie es der Musiker und DJ Didi Neidhart ausdrückt: ‘man trennt einen schwarzweißen Karopullover auf, um daraus einen weißschwarzen Karopullover zu machen’.
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