Culture Wars, Kulturelle Aneignung, Identitätspolitik, Wokeism …

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  • #12006113  | PERMALINK

    bullitt

    Registriert seit: 06.01.2003

    Beiträge: 20,757

    nicht_vom_forum

    bullitt Das ist in dieser Qualität sicher nicht usus[…]

    Deswegen schrieb ich auch:

    Um mal das Dahl-Beispiel zu nehmen: Ich bin da durchaus gegen die konkreten Änderungen.

    Was Du ja praktischerweise nicht mit zitiert hast, weil es Deinen Rant stört.

    Wenn wir uns bei Dahl einig sind, prima. Bei Kinderbüchern im Allgemeinen wohl nicht. Auf den Punkt bin ich eingegangen.

    „Zumindest mal ganz spannend, den Radikalisierungsprozessen anderer live beizuwohnen.“

    👌🏼

     

    --

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    #12006271  | PERMALINK

    nicht_vom_forum

    Registriert seit: 18.01.2009

    Beiträge: 6,438

    bullschuetzZumal das Thema doch sowieso niemals war, ob Veränderungen rechtlich erlaubt sind. Sondern ob wir diese Veränderungen und die dahinterstehenden Motive gut finden oder ablehnenswert.

    Aber auch bei der Frage, ob die Änderungen moralisch erlaubt sind, kommt man doch an eine Grenze, an der der rechtliche und physische Ist-Zustand der Welt zu nicht auflösbaren Widersprüchen führt. Auf der einen Seite steht der Anspruch auf die Erhaltung und die Verfügbarmachung des Originaltexts eines Buchs, auf der anderen sowohl das (moralische) Recht des Verlags, etwas nicht herauszubringen, was nicht zum selbstgesetzten Verlagsprogramm passt, als auch die Notwendigkeit des Verlags, Geld zu verdienen.

    Klar gäbe es im Zeitalter des Internets mit neuen Verbreitungswegen auch neue Lösungen, aber denen steht entgegen, dass sie zum einen in einem rechtlichen Graubereich stattfinden und zum anderen viele Autoren auch kein Interesse haben, im Online-Selbstverlag zu veröffentlichen, anstatt auf die Infrastruktur eines Verlags zurückzugreifen und damit zudem, zumindest im Durchschnitt, wesentlich besser und verlässlicher Geld zu verdienen.

    Ich würde ja gerne konkret über die Änderungen diskutieren. (Spoiler: Ich finde sie in den meisten Fällen irgendwas zwischen belanglos und überzogen, selten notwendig.), aber das ist mir unmöglich, wenn in der Diskussion ständig von Zensur und Verbot die Rede ist.

    zuletzt geändert von nicht_vom_forum

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    Reality is that which, when you stop believing in it, doesn't go away.  Reality denied comes back to haunt. Philip K. Dick
    #12006407  | PERMALINK

    herr-rossi
    Moderator
    -

    Registriert seit: 15.05.2005

    Beiträge: 87,223

    bullittWürdest du eigentlich auch so lapidar daherreden, wenn rechtskonservative oder religiös fundamentalistische Verlage nach ihrem Wertekanon Literatur verhunzen würden, nur weil irgendwelche Rechte ausgelaufen sind? Was gerade passiert, könnte genau dafür die Blaupause sein. Und was ist mit Popmusik, Film oder bildender Kunst? Sollte man da konsequenterweise nicht auch mit ein paar Pinselstrichen vermeintlich verstörende Elemente anpassen? Oder in ein paar Jahren den Katalog der Stones mit Hilfe von KI von Sexismus bereinigen? Oder gilt das nur für Literatur, weil man die jetzt schon so schön einfach manipulieren kann und das ja eh schon immer so gemacht wurde (bestes Argument ever). Seltsames Kunstverständnis.

    Dass ich – wie jeder – den einen oder anderen Bias habe, ist doch ganz klar. Es gäbe sicher Eingriffe aus anderer Richtung, die mich mehr stören würden. Ich habe aber überhaupt nicht für die Änderungen plädiert, ich habe ausdrücklich gesagt, dass ich sie schwer nachvollziehbar finde. Ich brauche auch zum Vorlesen keine Texte mit solchen Änderungen, ich habe höchstpersönlich „zensiert“, wenn mir danach war.:) Im Ernst, beim Vorlesen von rund 90 Bänden „Lucky Luke“ beispielsweise gab es nur zwei, drei Stellen, die mich störten und wo ich dann auch gesagt habe, dass es nicht in Ordnung ist, Schwarze als Tagediebe mit Wulstlippen darzustellen oder eine Hinrichtung durch einen bestimmten Henker als „Ehre“ zu bezeichnen (ich fand es tatsächlich irritierend angesichts des Tonfalls der Reihe, als plötzlich eine Hinrichtung gezeigt wurde).

    Der Punkt, der mir wichtig ist, ist die Frage danach, ob sich ein Verlag hier etwas herausgenommen hat, was ihm nicht nach Recht und Gewohnheit zusteht. Und da ist die Antwort eindeutig, auch wenn sie Dir und anderen nicht gefällt. Der Zensurvorwurf geht einfach am schlichten Sachverhalt vorbei, dass es Rechteinhabern erlaubt ist, reproduzierbare Kunstwerke wie Bücher, Musik usw. bei Neuauflagen in unterschiedlichster Form im Vergleich zum Original zu verändern, und sie tun das ja auch. Und wenn sie diese Änderungen sogar zu der Öffentlichkeit mitteilen, ist das Transparenz.

    Der vielleicht noch wichtigere Punkt ist: Das ORIGINAL bleibt davon völlig unberührt, es steht in den Bibliotheken und privaten Bücherregalen dieser Welt und man kann es sich auf dem Sekundärmarkt beschaffen. Als Historiker ist mir der Gedanke völlig selbstverständlich, dass ich mich schon um eine Originalausgabe kümmern muss, wenn ich einen Originaltext in der originalen Aufmachung wahrnehmen will. Alles was danach kommt, ist Rezeption des Originals und unterscheidet sich immer, mal mehr, mal weniger – und für den Forscher sind diese Veränderungen ja auch aufschlussreich. In die Rezeptionsgeschichte von Roald Dahl wird der „Skandal“ zweifellos eingehen. Möglicherweise werden solche Diskussionen auch dazu führen, dass sich Verlage eine Art Ehrenkodex zum Umgang mit Klassikern zulegen und definieren, was legitim ist und was nicht. Bislang definieren Kritiker nur nach Bauchgefühl, was „Vandalismus“ und „Zensur“ ist.

    Natürlich könnte der Gesetzgeber auch bestimmen, dass bei der Wiederauflage von Originaltexten keine Veränderungen zulässig sind oder nur mit Genehmigung von daraufhin einzurichtenden Sprachdenkmalschutzbehörden, analog zur Denkmal- und Bodendenkmalpflege etwa. Und ich meine das noch nicht mal satirisch, ich spinne den Gedanken nur konsequent weiter.

    Natürlich wird der Gesetzgeber das nicht tun, weil es die Freiheit von Verlagen und Rechteinhabern beschränken würde und weil die Originale ja längst geschützt sind durch ein gut ausgebautes Bibliothekswesen, das garantiert, dass möglichst alle Druckerzeugnisse in Erst- und späteren Ausgaben dauerhaft verfügbar bleiben und Interessenten vorgelegt werden können. Verlage sind sogar gesetzlich verpflichtet, von jeder ihrer Veröffentlichungen der Deutschen Nationalbibliothek und den jeweiligen Landesbibliotheken Belegexemplare zukommen zu lassen. Ich selbst mache für bestimmte Themenbereiche die zuständigen Fachbibliotheken auf jede Veröffentlichung aufmerksam, die mir unterkommt, und sei sie noch so obskur, voll kompletter Spinnerei und politisch fragwürdigem Gedankengut. Egal, gehört zum Gesamtbild dazu.

    Den meisten Menschen ist die Problematik von Original und Überarbeitungen beim Lesen von Klassikern überhaupt nicht bewusst. Wie schon mehrfach betont, kaum eines der Kinder der 50er und 60er, die Karl May gelesen haben, haben die Originaltexte gelesen, sondern massiv überarbeitete Fassungen, aber diese Tatsache scheint ja niemanden aus der Ruhe zu bringen. Nicht „woke“, also kein „Kulturvandalismus“?

    --

    #12006409  | PERMALINK

    herr-rossi
    Moderator
    -

    Registriert seit: 15.05.2005

    Beiträge: 87,223

    bullittDas ist in dieser Qualität sicher nicht usus und selbst wenn, was soll eigentlich dieser „hat man immer schon so gemacht“-Quatsch die ganze Zeit? Nach der Logik wäre Knefs „Sünderin“ von 1951 bis heute aus moralischen Gründen zensiert, anstatt ab zwölf Jahren freigegeben – sowie sämtliche folgende Filme dieses Kalibers eben auch.

    Das sind wirklich zwei verschiedene Paar Schuhe: Im Fall von Roald Dahl geht es darum, was Rechteinhaber mit bereits veröffentlichten Texten tun dürfen und was nicht. Wenn es um eine staatliche oder in diesem Fall selbstorganisierte externe Kontrollinstanz geht, die darüber entscheidet, was Buchverlage oder Filmverleihe dürfen und was nicht, ist das eine völlig andere Diskussion. Die Freiwillige Selbstkontrolle war ein wichtiger Schritt aus der staatlichen Zensurtradition heraus, zu Beginn war sie in ihrer Tätigkeit sehr umstritten.

    Der Fall „Die Sünderin“ ist übrigens interessant, denn es ging dabei gar nicht um die Nacktszene, sondern um die Aussagen des Films zu Suizid, Sterbehilfe und Prostitution:

    https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Sünderin

    Und wenn man das liest, erscheint einem der aktuelle culture war zumindest hierzulande geradezu rührend harmlos:

    „In Regensburg kam es zu einer dreitägigen heftigen Auseinandersetzung zwischen Filmgegnern, Filmbefürwortern und der Polizei, wobei Stinkbomben auf der einen und Wasserwerfer auf der anderen Seite eingesetzt wurden.[6] Die Rheinische Post fragte am 5. März 1951 hinsichtlich der Situation in Köln: „Muß Polizei einen Schundfilm schützen?“ Da alle Versuche, ein Aufführungsverbot zu bewirken, vergeblich gewesen seien, könne nur eine „machtvolle Demonstration des Willens der gesund empfindenden Bevölkerung“ helfen.[7] In einem Duisburger Kino setzten, wie die Rheinische Post am 21. März 1951 berichtete, Filmgegner weiße Mäuse gegen die Sünderin ein, um eine Panik hervorzurufen. “

    Genauso großer Käse ist diese Helikopter-Eltern-Mentalität bei Kinderbüchern. Was soll das überhaupt sein, wer definiert da die Grenzen, wenn das der Rahmen für maßlose Anpassung sein soll? Und was soll daran gerechtfertigt sein? Kinder sind weder doof noch aus Zucker. Man sollte ihnen durchaus zutrauen und zumuten zu kontextualisieren, anstatt sie mit weichgespültem Mist ruhig zu stellen. Ich habe mit meinen Kindern gerade „Cinema Paradiso“ geschaut und es war überhaupt kein Problem, ihnen zu erklären, dass es Zeiten gab, in denen Kinder in der Schule von Lehrern verprügelt wurden. Kamen die genauso mit klar wie ich früher. Uns wurde nicht alles Abgründige vorenthalten, warum sollten wir also unseren Kinder nur eine rosarote Bullerbü-Welt präsentieren und Eltern beim Umgang mit nicht zeitgenössischer Literatur bevormunden?

    Insgesamt stimme ich Dir zu, aber eine solche Auffassung ist eben nicht die einzig mögliche/denkbare Haltung in dieser Frage. In einer pluralistischen Gesellschaft müssen unterschiedliche Auffassungen koexistieren können. In der Schulfrage sind wir ja irgendwann auch dazu gekommen, Gesamtschulen und dreigliedriges Schulsystem nebeneinander bestehen und den Eltern und Kindern die Wahl zu lassen.

    --

    #12006415  | PERMALINK

    bullschuetz

    Registriert seit: 16.12.2008

    Beiträge: 2,238

    @herr-rossi

    Dass es Gewohnheit von Verlagen ist, Texte umzuschreiben, ist so richtig wie die Aussage, dass es Gewohnheit von Verlagen ist, Texte nicht umzuschreiben. Ich hoffe zumindest sehr zuversichtlich, Suhrkamp wird niemals die langen Schachtelsätze von Thomas Bernhard zur leichteren Lesbarkeit mit ein paar zusätzlichen Punkten versehen, die „Alles Nazis und Katholiken“-Ausfälle gegen die Salzburger dämpfen und inhaltliche Redundanzen entfernen. Denn dann stünde da nur noch: „Die Salzburger sind religiös. Ihre Vorprägung durch die Geschichte gilt manchen als problematisch.“ Das wäre nicht mehr ganz dasselbe. Trost: Man dürfte in Bibliotheken ja weiter nach Erstausgaben suchen, also warum sich aufregen?

    Aber wie gesagt, ich wollte all das nie als juristisches Fachseminar über Verlagsrecht führen. Mir geht es schlicht und einfach wie Salman Rushdie:

    This is insane, right? @roald_dahl was a bigot and he never supported me, but really? We can’t say fat or female?

    --

    #12006419  | PERMALINK

    nicht_vom_forum

    Registriert seit: 18.01.2009

    Beiträge: 6,438

    bullschuetz
    Mir geht es schlicht und einfach wie Salman Rushdie:

    This is insane, right? @roald_dahl was a bigot and he never supported me, but really? We can’t say fat or female?

    Aber darüber besteht doch hier im Thread übehaupt kein Dissenz, oder?

    --

    Reality is that which, when you stop believing in it, doesn't go away.  Reality denied comes back to haunt. Philip K. Dick
    #12006425  | PERMALINK

    nicht_vom_forum

    Registriert seit: 18.01.2009

    Beiträge: 6,438

    bullitt
    Genauso großer Käse ist diese Helikopter-Eltern-Mentalität bei Kinderbüchern. Was soll das überhaupt sein, wer definiert da die Grenzen, wenn das der Rahmen für maßlose Anpassung sein soll?

    Wer (einschließlich der Kinderbuchverlage) plädiert denn für „maßlose Anpassung“?

    Uns wurde nicht alles Abgründige vorenthalten, warum sollten wir also unseren Kinder nur eine rosarote Bullerbü-Welt präsentieren

    Zwischen „alles Abgründige vorenthalten“ und „nur eine rosarote Bullerbü-Welt präsentieren“ sehe ich aber schon einen winzigen Graubereich.

    Und was soll daran gerechtfertigt sein? Kinder sind weder doof noch aus Zucker. Man sollte ihnen durchaus zutrauen und zumuten zu kontextualisieren, anstatt sie mit weichgespültem Mist ruhig zu stellen.

    Ja. Aber um mal den klassischen Spruch zu zitieren: „Kinder sind keine kleinen Erwachsenen“.

    Ich habe mit meinen Kindern gerade „Cinema Paradiso“ geschaut und es war überhaupt kein Problem, ihnen zu erklären, dass es Zeiten gab, in denen Kinder in der Schule von Lehrern verprügelt wurden.

    herr-rossi
    Ich brauche auch zum Vorlesen keine Texte mit solchen Änderungen, ich habe höchstpersönlich „zensiert“, wenn mir danach war.:) Im Ernst, beim Vorlesen von rund 90 Bänden „Lucky Luke“ beispielsweise gab es nur zwei, drei Stellen, die mich störten und wo ich dann auch gesagt habe,

    Dieser Umgang mit Euren Kinden und Medien ehrt Euch (das meine ich gänzlich unironisch), ich bin mir aber, sowohl überhaupt als auch mit Blick auf die, die das bei den Kinderbuch-Diskussionen der letzten Jahre von sich behauptet haben, nicht sicher, ob das bei (anteilig) vielen Eltern üblich ist.

    Mein Medienkonsum als Kind war jedenfalls weitgehend unkontrolliert und selbstständig. Ich kann mich nicht erinnern, nach dem Kindergarten überhaupt noch etwas zusammen mit meinen Eltern gelesen zu haben – kontextualisierend oder nicht. Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass es dem örtlichen Buchhändler und den verschiedenen Bibliothekaren ganz recht war, dass es eine Rubrik „Kinderliteratur“ gab, die sie mir (im Alter 8 aufwärts) bedenkenlos mitgeben konnten, ohne zu riskieren, dass kurz drauf Eltern vor ihnen stehen und unangenehme Fragen stellen.

    --

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    #12006477  | PERMALINK

    Anonym
    Inaktiv

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    bullschuetz@plattensammler Dem stimme ich teilweise zu. Veränderungen von Kunstwerken gab es immer. Nur hat sich unser Verständnis davon, was ein „Original“ ist und dass es sowas wie ein „Original“ gibt, eben historisch verändert durch technische Entwicklungen. Bei der Bibel bildete sich die Vorstellung eines „Originals“ erst über Jahrtausende heraus, und das, was heute viele für das „Original“ halten, ist ja eher die Fiktion eines Originals. Bei Thomas Mann sieht es hingegen anders aus, es gibt zumindest eine vom Autor abgesegnete Erstausgabe. Wir tapern also nicht durch den Nebel, wenn wir eine Urform von den Buddenbrooks suchen. Und deshalb können wir uns heute all die Fragen stellen, um die es in diesem Thread geht: Welche Änderungen kommen uns – wobei Du vielleicht zu anderen Antworten kommst als ich, und das ist okay! – nachvollziehbar vor und bei welchen sprechen wir von Verhunzung, ideologischer Umschreibung oder Verfremdung eines kulturellen Artefakts, das genau mit den einzelnen Worten, die es wählt, den Referenzpunkten, auf die es sich bezieht, den Themen, die es erörtert, den Standpunkten, die es artikuliert, ein authentischer Ausdruck eines Individuums in einer bestimnten Zeit ist und eine Position im Kontinuum kultureller Entwicklung besetzt? Daran nachträglich rumzuschrauben, kann dann für den einen „in Ordung“ sein und für den anderen „problematisch“. Und natürlich hängt die Beurteilung auch von den Motiven ab, die hinter einer Veränderung stehen. Aus Moby Dick eine 200seitige Jugendbuchfassung zu machen, kann dann zum Beispiel voll okay sein – wenn aber der monumentale Originaltext verschwände, weil in allen Ausgaben alle heute sperrig, schwer verständlich oder anstößig wirkenden Passagen getilgt würden, wäre das ein katastrophaler kultureller Verlust. In diesem Sinne: Der Satz „Veränderungen gab es schon immer“ hilft für eine differenzierte Debatte ebenso wenig weiter wie der Satz „Veränderungen sind des Teufels“. Mein Wunsch bei all dem: Wir sollten nicht bloß deshalb, weil mit dieser Debatte rechte Hetzer gegen „wokeness“ ihr politisches Süppchen kochen, darauf verzichten, die Debatte zu führen und dabei neben den verbrieften Rechten des Buchmarkts auch die unverbrieften Rechte des Kunstwerks im Auge behalten.

    Der Satz „Veränderungen gab es schon immer“ hilft insofern weiter, dass er die Grundvorraussetzung dafür ist, differenziert über das Für und Wider von Veränderungen zu diskutieren. Denn wer dem Satz nicht zustimmt und davon ausgeht, dass ein „Kunstwerk“ eine Art „heiliges Artefakt“ ist, dessen Veränderung per se tabu ist, mit dem kann man nicht diskutieren, ob eine Veränderung gut oder schlecht ist.

    Wenn man das möchte, sollte man aber explizit darauf hinweisen, hinsichtlich welcher Qualitäten man die Veränderungen denn bewerten möchte. Zum Beispiel ästhetische oder politische oder … Das geht hier nämlich ziemlich durcheinander und es fehlen auch i. d. R. Argumente, warum eine Veränderung eine Verhunzung ist. Das häufigste „Argument“ hier scheint mir zu sein: Änderungen sind grundsätzlich Verhunzungen.

    Verschwände das Buch Moby Dick wäre das kein „katastrophaler kultureller Verlust“. Das soll nicht heißen, dass das Buch schlecht ist. Aber angesichts der vielen tausenden von Werken, die permanent verschwinden,  ist das doch eine etwas übertriebene Bewertung. So wie die Tatsache, dass Kunstwerke permanent verändert werden, so ist es eben auch so, dass permanent Kunstwerke verschwinden. Nicht weil sie von bösen Mächten verboten und vernichtet werden, sondern auch hier finden wir eine völlig normale Kulturpraxis vor. Werke werden vergessen, interessieren die Kunden nicht mehr, haben das Pech nicht weiter in einem Kanon tradiert zu werden usw. Und das Verschwinden dieser Werke sagt nichts über deren Qualität aus. Alles kulturelle Verluste, aber verschmerzbar.

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    #12006499  | PERMALINK

    marbeck
    Keine Lust, mir etwas auszudenken

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    plattensammler
    Apropos. Ich suche eine deutsche Ausgabe des Romans Diva von Delacorta (=Daniel Odier) (zu einem angemessenen Preis). Falls jemand einen Tipp hat, ich würde mich freuen (Amazon und ZVAB schaue ich regelmäßig nach).

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    "I spent a lot of money on booze, birds and fast cars. The rest I just squandered." - George Best --- Dienstags und donnerstags, ab 20 Uhr, samstags ab 20.30 Uhr: Radio StoneFM
    #12006529  | PERMALINK

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    Registriert seit: 01.01.1970

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    marbeck

    plattensammler Apropos. Ich suche eine deutsche Ausgabe des Romans Diva von Delacorta (=Daniel Odier) (zu einem angemessenen Preis). Falls jemand einen Tipp hat, ich würde mich freuen (Amazon und ZVAB schaue ich regelmäßig nach).

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    #12006677  | PERMALINK

    bullschuetz

    Registriert seit: 16.12.2008

    Beiträge: 2,238

    plattensammler  So wie die Tatsache, dass Kunstwerke permanent verändert werden, so ist es eben auch so, dass permanent Kunstwerke verschwinden.

    Eine in dieser Grundsätzlichkeit natürlich unabweisbares Statement. Panta rhei, und irgendwann geht sowieso die Welt unter.

    --

    #12006881  | PERMALINK

    Anonym
    Inaktiv

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    bullschuetz

    plattensammler So wie die Tatsache, dass Kunstwerke permanent verändert werden, so ist es eben auch so, dass permanent Kunstwerke verschwinden.

    Eine in dieser Grundsätzlichkeit natürlich unabweisbares Statement.

    Diese Selbstverständlichkeiten scheinen vielen hier aber eher nicht geläufig zu sein. Oder deren Folgen werden maßlos übertrieben dargestellt als wäre es der Weltuntergang bzw. noch schlömmer.

    In der Litareturzeitschrift Volltext gab es mal eine Serie „Zu Recht vergessene Klassiker“ (oder so ähnlich). Die war klasse.

    --

    #12007387  | PERMALINK

    bullitt

    Registriert seit: 06.01.2003

    Beiträge: 20,757

    herr-rossi Dass ich – wie jeder – den einen oder anderen Bias habe, ist doch ganz klar. Es gäbe sicher Eingriffe aus anderer Richtung, die mich mehr stören würden. Ich habe aber überhaupt nicht für die Änderungen plädiert, ich habe ausdrücklich gesagt, dass ich sie schwer nachvollziehbar finde. Ich brauche auch zum Vorlesen keine Texte mit solchen Änderungen, ich habe höchstpersönlich „zensiert“, wenn mir danach war.:) Im Ernst, beim Vorlesen von rund 90 Bänden „Lucky Luke“ beispielsweise gab es nur zwei, drei Stellen, die mich störten und wo ich dann auch gesagt habe, dass es nicht in Ordnung ist, Schwarze als Tagediebe mit Wulstlippen darzustellen oder eine Hinrichtung durch einen bestimmten Henker als „Ehre“ zu bezeichnen (ich fand es tatsächlich irritierend angesichts des Tonfalls der Reihe, als plötzlich eine Hinrichtung gezeigt wurde).

    Dann sind wir uns ja soweit einig. Btw., in welchem Lucky Luke-Band wird denn eine Hinrichtung gezeigt??

    Der Punkt, der mir wichtig ist, ist die Frage danach, ob sich ein Verlag hier etwas herausgenommen hat, was ihm nicht nach Recht und Gewohnheit zusteht. Und da ist die Antwort eindeutig, auch wenn sie Dir und anderen nicht gefällt. Der Zensurvorwurf geht einfach am schlichten Sachverhalt vorbei, dass es Rechteinhabern erlaubt ist, reproduzierbare Kunstwerke wie Bücher, Musik usw. bei Neuauflagen in unterschiedlichster Form im Vergleich zum Original zu verändern, und sie tun das ja auch…

    Ich denke, niemand hat hier oder sonstwo den juristsichen Punkt infrage gestellt. Ich kann mir auch die Mona Lisa kaufen und den Rüssel von Benjamin Blümchen reinmalen. Ist auch legal. Aber trotzdem ein Frevel und Repliken davon will garantiert auch niemand haben.

    Es geht doch nicht darum, was theoretisch erlaubt ist, sondern darum, was sinnvoll und angemessen ist. Selbstverständlich ist das auch alles kein neues Phänomen, aber eins, was ich in der grauen Vorzeit der Prä-Internetära verorte, in der man den Leuten noch jeden Mist unterjubeln konnte, ohne dass sie es geschnallt haben.

    Noch 1981 konnte das ZDF seinen Zuschauern Magnum andrehen und den kompletten Vietnam-Bezug rausschneiden und kaum einer hat es gemerkt. Ich bin in den 90ern mit der kompletten Neusynchronisation und dann dem Original sozialisiert worden und konnte da schon über solche Eingriffe nur den Kopf schütteln.

    Mir schien – bis jetzt – eine Rückkehr zu solch absurden Bevormundungen der Rezipienten und eine Missachtung von Kunst undenkbar. Wir leben in einer Welt, in der so etwas auch keine Sekunde mehr unterm Deckel zu halten ist und niemand mehr irgendwelche Gatekeeper akzeptiert, die einem etwas vorenthalten oder filtern wollen. Zum Glück.

    Und so will doch wohl kein Mensch mehr ernsthaft im Jahr 2023 das Buch eines großen Autors des 20. Jahrhunderts kaufen, in das eine dahergelaufene Verlagsredakteur*in ihre Twitter-Weltanschaungen mit einflechtet, um dann nach dem Originaltext in einer Bibliothek zu fahnden. Und das nur, um die fehlende Medienkompetenz von ein paar Bildungsbenachteiligung auszubügeln, deren Defizite man damit nur verstärkt.

    Den Begriff Zensur verwende ich, weil dazu auch Selbstzensur gehört und die wohl in den meisten Fällen die Triebfeder vieler Verlage ist, um nicht als Hashtag in der nächsten Empörungswelle auf social media zu enden.

    Ehrenkodex oder Denkmalschutz für Kunst? Hätte gedacht, der Respekt von Künstlern und deren Werken sei inzwischen common sense. Vielleicht bin ich aber auch nur zu lange in diesem Forum unterwegs, in dem lange schon eine originalgetreue Wiederauflage eines Albums Fake war. Insofern gar keine schlechte Idee.

    Ja, Die Sünderin ist ein krasser Fall. Ich habe mal bei der FSK gearbeitet, deshalb ist mir der Fall so geläufig und deshalb stellen sich mir bei dem Thema auch regelmäßig die Nackenhaare auf.

    zuletzt geändert von bullitt

    --

    #12007617  | PERMALINK

    nail75

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    Beiträge: 45,074

    bullschuetz

    plattensammler So wie die Tatsache, dass Kunstwerke permanent verändert werden, so ist es eben auch so, dass permanent Kunstwerke verschwinden.

    Eine in dieser Grundsätzlichkeit natürlich unabweisbares Statement. Panta rhei, und irgendwann geht sowieso die Welt unter.

    Es stimmt aber. Kunstwerke unterliegen einem stetigen Wandel, der natürlich auch marktbedingt ist. Ich finde etwas erstaunlich, dass das hier offensichtlich eine kontroverse These ist.

    Wenn Du heute „Highway 61 Revisited“ erwirbst, ist das nicht dasselbe Album, das 1965 erschien. Die Unterschiede mögen subtil sein, aber sie existieren.

    Wenn Du heute den Faust Teil 1 von Goethe erwirbst, ist das nicht dasselbe Buch, das 1808 erschien.

    Selbst bei an sich „unveränderlichen“ Kunstwerken bestimmt die Art der Präsentation (Rahmen, Stellung im Raum, eventuelle Restauration, Licht, Ort) auch die Rezeption.`

    Die Frage ist doch: Welche zeitgerechte Überarbeitung greift zu sehr in das Original ein, dass es nicht mehr erkenntlich ist oder so stark verändert, dass zentrale Aspekte fehlen?

    --

    Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.
    #12007717  | PERMALINK

    bullitt

    Registriert seit: 06.01.2003

    Beiträge: 20,757

    nail75 Es stimmt aber. Kunstwerke unterliegen einem stetigen Wandel, der natürlich auch marktbedingt ist. Ich finde etwas erstaunlich, dass das hier offensichtlich eine kontroverse These ist.

    Ist sie das? Dass es hier um strukturelle Veränderungen geht und nicht um Restauration und Präsentation, ist doch bitte hoffentlich klar. Dass ich Dylan digitalisiert auf dem iPhone hören kann ist unbestritten eine Veränderung zur Form und Rezeption vor 60 Jahren, aber sie dient dem Erhalt des Kunstwerks und dem Zugang dazu (Wolfgang Doebeling möge mir an dieser Stelle widersprechen). Etwas ganz anderes wäre es, wenn zB die Zeile über Brigitte Bardot im Stream geschnitten werden würde, weil sensible Hörer sie als anstößig empfinden könnten. (Eine Diskussion, die ich neulich tatsächlich so geführt habe.)

    Die Frage ist doch: Welche zeitgerechte Überarbeitung greift zu sehr in das Original ein,…

    So ist es…

    zuletzt geändert von bullitt

    --

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