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bullittWürdest du eigentlich auch so lapidar daherreden, wenn rechtskonservative oder religiös fundamentalistische Verlage nach ihrem Wertekanon Literatur verhunzen würden, nur weil irgendwelche Rechte ausgelaufen sind? Was gerade passiert, könnte genau dafür die Blaupause sein. Und was ist mit Popmusik, Film oder bildender Kunst? Sollte man da konsequenterweise nicht auch mit ein paar Pinselstrichen vermeintlich verstörende Elemente anpassen? Oder in ein paar Jahren den Katalog der Stones mit Hilfe von KI von Sexismus bereinigen? Oder gilt das nur für Literatur, weil man die jetzt schon so schön einfach manipulieren kann und das ja eh schon immer so gemacht wurde (bestes Argument ever). Seltsames Kunstverständnis.
Dass ich – wie jeder – den einen oder anderen Bias habe, ist doch ganz klar. Es gäbe sicher Eingriffe aus anderer Richtung, die mich mehr stören würden. Ich habe aber überhaupt nicht für die Änderungen plädiert, ich habe ausdrücklich gesagt, dass ich sie schwer nachvollziehbar finde. Ich brauche auch zum Vorlesen keine Texte mit solchen Änderungen, ich habe höchstpersönlich „zensiert“, wenn mir danach war.:) Im Ernst, beim Vorlesen von rund 90 Bänden „Lucky Luke“ beispielsweise gab es nur zwei, drei Stellen, die mich störten und wo ich dann auch gesagt habe, dass es nicht in Ordnung ist, Schwarze als Tagediebe mit Wulstlippen darzustellen oder eine Hinrichtung durch einen bestimmten Henker als „Ehre“ zu bezeichnen (ich fand es tatsächlich irritierend angesichts des Tonfalls der Reihe, als plötzlich eine Hinrichtung gezeigt wurde).
Der Punkt, der mir wichtig ist, ist die Frage danach, ob sich ein Verlag hier etwas herausgenommen hat, was ihm nicht nach Recht und Gewohnheit zusteht. Und da ist die Antwort eindeutig, auch wenn sie Dir und anderen nicht gefällt. Der Zensurvorwurf geht einfach am schlichten Sachverhalt vorbei, dass es Rechteinhabern erlaubt ist, reproduzierbare Kunstwerke wie Bücher, Musik usw. bei Neuauflagen in unterschiedlichster Form im Vergleich zum Original zu verändern, und sie tun das ja auch. Und wenn sie diese Änderungen sogar zu der Öffentlichkeit mitteilen, ist das Transparenz.
Der vielleicht noch wichtigere Punkt ist: Das ORIGINAL bleibt davon völlig unberührt, es steht in den Bibliotheken und privaten Bücherregalen dieser Welt und man kann es sich auf dem Sekundärmarkt beschaffen. Als Historiker ist mir der Gedanke völlig selbstverständlich, dass ich mich schon um eine Originalausgabe kümmern muss, wenn ich einen Originaltext in der originalen Aufmachung wahrnehmen will. Alles was danach kommt, ist Rezeption des Originals und unterscheidet sich immer, mal mehr, mal weniger – und für den Forscher sind diese Veränderungen ja auch aufschlussreich. In die Rezeptionsgeschichte von Roald Dahl wird der „Skandal“ zweifellos eingehen. Möglicherweise werden solche Diskussionen auch dazu führen, dass sich Verlage eine Art Ehrenkodex zum Umgang mit Klassikern zulegen und definieren, was legitim ist und was nicht. Bislang definieren Kritiker nur nach Bauchgefühl, was „Vandalismus“ und „Zensur“ ist.
Natürlich könnte der Gesetzgeber auch bestimmen, dass bei der Wiederauflage von Originaltexten keine Veränderungen zulässig sind oder nur mit Genehmigung von daraufhin einzurichtenden Sprachdenkmalschutzbehörden, analog zur Denkmal- und Bodendenkmalpflege etwa. Und ich meine das noch nicht mal satirisch, ich spinne den Gedanken nur konsequent weiter.
Natürlich wird der Gesetzgeber das nicht tun, weil es die Freiheit von Verlagen und Rechteinhabern beschränken würde und weil die Originale ja längst geschützt sind durch ein gut ausgebautes Bibliothekswesen, das garantiert, dass möglichst alle Druckerzeugnisse in Erst- und späteren Ausgaben dauerhaft verfügbar bleiben und Interessenten vorgelegt werden können. Verlage sind sogar gesetzlich verpflichtet, von jeder ihrer Veröffentlichungen der Deutschen Nationalbibliothek und den jeweiligen Landesbibliotheken Belegexemplare zukommen zu lassen. Ich selbst mache für bestimmte Themenbereiche die zuständigen Fachbibliotheken auf jede Veröffentlichung aufmerksam, die mir unterkommt, und sei sie noch so obskur, voll kompletter Spinnerei und politisch fragwürdigem Gedankengut. Egal, gehört zum Gesamtbild dazu.
Den meisten Menschen ist die Problematik von Original und Überarbeitungen beim Lesen von Klassikern überhaupt nicht bewusst. Wie schon mehrfach betont, kaum eines der Kinder der 50er und 60er, die Karl May gelesen haben, haben die Originaltexte gelesen, sondern massiv überarbeitete Fassungen, aber diese Tatsache scheint ja niemanden aus der Ruhe zu bringen. Nicht „woke“, also kein „Kulturvandalismus“?
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