David Murray

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    gypsy-tail-wind
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    Home heisst das zweite Album des David Murray Octet – und es geht bezaubernd los mit Anthony Davis‘ versponnenem Klavier, dann einem Bläsersatz, wie Ellington ihn nicht schöner hingekriegt hätte: die Bassklarinette am Boden, dazu eine gedämpfte Posaune und eine Bassflöte (Threadgill). Letztere ist die einzige Änderung zum Line-Up von „Ming“, und Threadgill ist hier an der Bassflöte auch gleich der (einzige) Solist. In den folgenden „Santa Barbara and Crenshaw Follies“ ist der Retro-Groove zurück, doch nur bei den Bläsern: Morris/McCall machen aber was anderes, keinen Two-Beat-Rhythmus oder sowas – die zwei sind wirklich gut, von Morris mag ich ja in der Regel eher noch lieber als Hopkins, bisher der Favorit im Murray-Orbit. Butch Morris, der hier zu hören ist, ist inzwischen zu so einer zarten und eigenwilligen Trompetenstimme geworden, dass es schon verblüffend ist, dass er – zumal als Instrumentalist – völlig vergessen scheint. Dahinter baut das Ensemble dichtere Linien auf, aber ohne den Chaos- oder Energiefaktor von ähnlichen Passagen in „Home“, bis Murray am struttenden Sax übernimmt, grossspurig, rhythmisch nicht immer ganz auf den Punkt, was aber gut zum Klavier von Davis passt, das stellenweise ebenfalls wie kurz vorm Entgleisen klingt. Auch der „Choctaw Blues“ – eine Art Sing-Sang-Motiv von der Bassklarinette als Basis, der gestrichene Bass von Morris als Solo-Stimme, wieder über tollen Klavierakzenten – bietet ein konzises Arrangement der Bläser. Da struttet dann die ganze Band, und das kommt wie aus einem Guss daher, auch wenn sich Stimmen herauslösen. Das alles wirkt total luftig, gut strukturiert, verliert dabei aber keineswegs den wilden, manchmal anarchischen Charakter des Vorgängers oder von Murrays Musik generell. Der ist hier auch selbst wieder zu hören, verschwindet aber fast in der Band, aus der auch eine Trompete (Dara?) auftaucht, die Posaune, der tolle Beat von McCall, das betrunkene Piano von Davis … klasse, wie hier quasi ein kontrolliertes Durcheinander angerichtet wird. Repeat. Dann „Last of the Hipmen“ – Threadgill am Altsax mit schwangerem Ton aber auch er hält es hier nicht mehr für nötig völlig auszubrechen, was ihm gut bekommt. Davis und die Rhythmusgruppe agieren wieder mit einer Art Latin-Beat. Dann ist Dara an der Reihe, spielt ein superbes Solo – ein Musiker, den ich eigentlich schätze, wo immer er auftaucht, aber den ich auch noch nie so wirklich vertieft habe. Der souveräne Murray und McCall schliessen den Solo-Reigen ab, der Schlagzeuger mit interessanten kleinen Akzenten auf den Toms und ohne den Latin-Beat völlig zu verlassen. Als Closer kriegen wir noch „3D Family“ in einer Oktett-Version, wieder interessant arrangiert, mit einer Art gegenläufigen Drums und Bläsern. Murray erhebt sich hier gleich zu Beginn über der Band und spielt dann das erste Solo. Dann folgt hier der bei so einer Band halt wenigstens einmal nötige Solo-Reigen: man will die doch alle mal hören. Dara ist mit einem zweiten Solo der nächste, ich finde ihn hier etwas weniger überzeugend, er geht schnell aus dem lyrischen Gebiet in die drängenden, stotternden Riffs. Threadgill ist ebenfalls von Anfang an unter Druck, aber bleibt wieder tonal, mit einem Ton kurz vorm Überschlagen und von den Riffs der Blechbläser eingebettet, aus denen sich dann George Lewis‘ Stimme erhebt, rund und wohlgeformt, vokal, sehr agil und doch voluminös. Dann ist Davis dran, bleibt jedoch noch dichter in die Band eingebunden, die gemeinsam rifft, bis Murray sich nochmal empor schwingt … und das alles dann ausgeblenet wird.

    Darauf war ich jetzt (ewig nicht gehört, die Box kam 2011, vermutlich da herum zuletzt) gar nicht so richtig gefasst. Eine ganz klare Steigerung gegenüber „Ming“, das ich halt vor 25 Jahren mal einzeln gekauft hatte, was – zusammen mit „The Hill“, „Body and Soul“, der „44th Street Suite“ und dem zufällig in die Hände gekriegten „Love and Sorrow“ – mein Einstieg in Murrays immense Diskographie der 80er und 90er war. Wirklich vertieft habe ich das lange nicht, irgendwann kamen Anregungen von euch hier, „Shakill’s Warrior“ und Nummer 2 via redbeans, „Fast Life“ und andere via vorgarten, und ich hab dann einfach DIW-Alben (aus den 90ern v.a.) gekauft, wann immer ich konnte. Und die paar Justin Time/Enja-Sachen auch, die ja nicht so super sind, unterm Strich.

    Crouchs Liner Notes (ich lese sie hier etwas grösser als in der LP-Reproduktion der Murray Octet-Box) finde ich etwas … Lester Young hätte ihn an der Stelle wohl einen repeater’s pencil genannt. Er kommt schon wieder mit „Chasin‘ the Bird“ und ich verstehe das Herumreiten auf Kontrapunktik hier wirklich nicht, denn das geht doch weit darüber hinaus, schreibt Big Band-Traditionen fort, in denen aus Call-and-Response und meinetwegen kontrapunktischen, sich ergänzenden, auch geschichteten Linien etwas entsteht, das über so einfach durchhörbare Kontrapunktik weit hinaus geht?

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #160: Barre Phillips (1934-2024) - 11.2., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
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    #12348843  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    In Runde drei, Murray’s Steps, ein Jahr nach „Ming“ im Juli 1982 aufgenommen (inzwischen im Barigozzi Studio in Mailand) gibt es die ersten Mutationen: Bobby Bradford, Craig Harris und Curtis Clark ersetzen Dara, Lewis und Davis. Im öffnenden Titelstück, einer Art Variante über „Giant Steps“, kriegt Harris nach dem Leader das erste Solo, er geht mehr aus sich heraus, passt so gesehen vermutlich besser zur Band, was man auch für Clark sagen kann – aber ich finde gerade Davis und die paar Male, wo man ihn hören kann, auch Lewis, überaus interessant in diesem Kontext, v.a. Davis als eine Art irrlichternden Gegenpol. Clark kommt nicht von ausserhalb und guckt vorbei sondern taucht aus der Mitte der Band auf – vielleicht ist er drum auch deutlich präsenter im Mix? Die erste Trompete im Opener ist wohl gleich die von Bradford, und Morris ist dann nach Threadgill an der Reihe? Dieser verschiebt das anarchische Potential noch weiter von der Tongestaltung in seine Linien, was ich ziemlich gut finde. Nat Hentoff schreibt in den Liner Notes, die Band habe vor dem Studiotermin eine kleine Europa-Tour mit sechs Konzerten gespielt, und vielleicht führte das zum flüssigeren Groove, in dem sich hier all zu befinden scheinen. In „Sweet Lovely“ werden Bassklarinette/Posaune gegen gestopfte Trompeten/Flöte gesetzt – nicht das erste Mal, dass im Oktett ein 3/4 zu hören ist. Das hat einen verführerisch-trägen Flow, McCall ist super, der Bass ist minimal unterwegs, aber trägt das alles. Ein Flötentriller markiert den Einstieg in die Soli, sparsam von Clark begleitet, dann übernimmt der erste Trompeter (oder Kornettist) mit Dämpfer und sehr toll, bevor Murray die Bassklarinette auch mal kurz jaulen lässt und ins Falsett geht, aber ohne die Stimmung zu durchbrechen. Morris am Bass folgt. Auch hier: sehr gekonnt gemacht, ein echtes Highlight, wie Murray hier zarteste Töne und feinste Stimmungen zusammenbringt mit dem immer noch hörenden Geist der Avantgarde. Die Flöte (nicht mehr Bassflöte) von Threadgill ist auch in „Sing Song“ wieder präsent, eigentlich ein Big-Band-Stück, doch lustigerweise ist die Band hier wieder fast im Unisono unterwegs über einen Latin-Beat – „It’s like a pop song“ sagt Murray in den Liner Notes und verweist auf Stevie Wonder und Marvin Gaye als Einflüsse. Vom Arrangement her also wieder ziemlich einfallslos (auch hinter den Soli gibt es nur ein einziges kleines Riff), aber einmal mehr entsteht eine schöne Stimmung und das alles ist so gesehen sehr sachdienlich. Und Harris spielt ein tolles Solo, etwas flashy, sprechend, stotternd, sich überstürzend, in die Höhe ausbrechend. Danach wohl Bradford mit „Star Eyes“-Zitat? Dann Murray – und er katapultiert das alles gleich auf ein anders Level mit wilden Sprüngen und Läufen, die bis ins Falsett führen. Als Closer „Flowers for Albert“ in einer Latin-Version, eröffnet von Harris mit einem Riff. Hier entsteht wieder ein dichtes Stimmengeflecht aus nicht wirklich unisono und auch rhythmisch nicht einheitlich phrasierten Linien – vermutlich ist es sowas, was Crouch mit Kontrapunktik meint. Gefällt mir sehr, sehr gut. Ein tolles, singendes Trompetensolo zum Einstieg – das an „Willow Weep for Me“ vorbeischrammt, und da tippe ich dann eher wieder auf Bradford, weil’s sowas auf all denn Alben bis dahin von Morris nie gab (aber irgenwie denk ich dennoch, dass das hier Morris ist? Ich sehe, dass @vorgarten keine Solo-IDs macht, hast Du eine klare Meinung hier bzw. im ganzen Album? Hentoff hilft uns ja nicht, vermutlich weiss er’s selbst nicht). Vom Ton her finde ich die zwei total schwer auseinanderzuhalten. Murray übernimmt dann und lässt sich vom Gesang inspirieren. Das kriegt bei ihm fast eine Calypso-Qualität, er reitet den Groove sehr präzise und bleibt auch im Falsett wenngleich nicht ganz sauber intoniert (klar, kein Vorwurf!) Linear, baut Ayler-artige Singsang (ha!)-Linien ein, aber mit sehr klarem, gradlinigen Ton. Harris übernimmt, und hier wird im Ablauf der Soli klar, wie die alle ähnlich ticken und die Fäden aufgreifen können, die vom Vorgänger gesponnen wurden. Hinter der Posaune tauchen dann die anderen Bläser wieder auf, Clark rifft, McCall ist hier wieder toll, immer in Bewegung, aber ohne je in den Vordergrund zu drängen – bis er dann ein Solo kriegt, das von Morris am Bass weiterbegleitet wird, wie es 20 Jahre früher Max Roach oft haben wollte. Der Fade-Out hier klingt handgemacht, jedenfalls kehrt das Riff von Harris wieder zurück und schliesst eine total stimmige Performance ab. Nach dem etwas schnelleren Opener ist das hier alles super entspannt und echt schön, aber ich glaube von diesen ersten drei Alben ist das mittlere heute ganz knapp mein liebstes.

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    #12348847  | PERMALINK

    vorgarten

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    gypsy-tail-windIch sehe, dass vorgarten keine Solo-IDs macht, hast Du eine klare Meinung hier bzw. im ganzen Album? Hentoff hilft uns ja nicht, vermutlich weiss er’s selbst nicht). Vom Ton her finde ich die zwei total schwer auseinanderzuhalten.

    ich bin weder mit bradford noch mit morris hinreichend vertraut, dass ich sie zweifelsfrei auseinanderhalten könnte.

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    #12348851  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Merci – die Ähnlichkeit ist hier auch wirklich gross, beides singende Lyriker. Morris kann ja auch Anderes (Verdichtungen, Flächigeres, klanglich vielfältigeres), aber das packt er im Rahmen des Oktetts (leider?) nicht mehr aus … ob das mit den (Beinah-)Zitaten wirklich ein Argument ist, weiss ich auch nicht. Dara klingt im Vergleich ja wirklich anders, aber da ist Crouch auch stets so nett, das in den Liner Notes aufzuschlüsseln.

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    #12348879  | PERMALINK

    vorgarten

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    warte mal, bis du ohne infos bei der big band zwischen haynes, zollar, siddik unf ragin unterscheiden darfst ;-)

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    #12348887  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Wilber Force – ein Nebengeleise mit einem Trio, das später für meinen Ohren mit Thomas Borgmann nochmal deutlich besser funktionierte (z.B. „Boom Swing“ auf Konnex) … hier hab ich wirklich die CD von 1988, das Album – ein Live-Mitschnitt vom Februar 1983 in NYC – ist schon sehr lange da und ich hörte es immer gerne, ohne dass es je ein Favorit geworden wäre. Murray geht in dem Rahmen wieder sehr viel weiter in freie Gefilde, das atmet teilweise wieder (oder noch) den Loft-Geist, aber durch die sehr lockeren Drums von Charles wirkt es sehr frisch und selbst in den dichtesten Momenten luftig. Morris ist sehr schön aufgenommen, trocken und mit natürlichem Ton (was auf Black Saint nur so halb gut gelang bisher) – und er kriegt in dem Rahmen natürlich viel Platz, was ich toll finde, auch wenn es dem Flow nicht unbedingt zuträglich ist, wie @vorgarten schreibt. Dass der Geist von Rollins weht, empfinde ich übrigens auch so – und das hat tatsächlich mit dem Trio und seiner Funktionsweise zu tun, in der Murray teils anders agiert, statt Kürzel und Melodiefetzen zu reihen auch wirklich mal an Motiven dran bleibt und die fortspinnt. Die trockene Aufnahme ist mit Murray etwas ungnädiger als mit der Rhythmusgruppe, sein Ton glänzt nicht wie sonst – vielleicht kommt auch quasi durch den halbmatten Sound die Nähe zu Rollins mehr hervor? Am Deutlichste kommt das im „West Indian Folk Song“ zum Tragen. Fürs folgende „Afro-Amer. Ind“ greift Murray dann zur Bassklarinette, was er gern häufiger tun könnte. Für den Closer ist dann wieder am Tenor und das Trio groovt nochmal zusammen – irgendwie ist das alles recht verhalten, wirkt aber doch von der Haltung her sehr frei.

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    #12348889  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    vorgarten
    warte mal, bis du ohne infos bei der big band zwischen haynes, zollar, siddik unf ragin unterscheiden darfst

    Haha, da passe ich da ich keinen einzigen von denen auch nur annähernd genügend gut kenne.

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    #12348903  | PERMALINK

    vorgarten

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    nochmal zum octet und dem zeitpunkt, an dem du gerade mit murray bist (und lotterlotta ja irgendwie auch):

    das finde ich von der genese her schon sehr interessant – ich habe dieses mal mehr über die kompositionen von murray nachgedacht, die ja im trio oft nur als catchy themen funktionieren, die für die soli allenfalls gefühlte anker bilden. erst im london concert (das quintett mit pullen ist anders, eher ein free happening, das klavier ist kein harmonsiches begleitinstrument) kommen klavier und harmonische gerüste dazu, das haben vorher die bassisten situativ erledigt. im octet greift murray dann seine kompositionen nochmal auf und erfindet neue harmonien dazu, die musik wird dadurch mainstreamiger, seine soli erfüllen einen anderen zweck (verankerte ausbrüche, manchmal auch sprengungen), das wird nochmal subtiler mit pianisten wie hicks (verdichtung) und burrell (unvorhersehbarkeit). und die big band ist für all das wahrscheinlich das experimentierfeld, wobei da die live-show mit rein spielt, das kommt im octet erst später.

    was sich noch entwickelt (neben der frage, welche funktion ein murray-solo im ganzen hat), ist sein sound, das finde ich auch sehr spannend, aber das wird vielleicht an der wende 80er/90er deutlicher. also: sound, komposition, arrangement und live/studio als parameter, die sich in den 15 jahren interessant verändern. und bei mir dann auch immer noch die frage, wie sich das zum rest der zum jeweiligen zeitpunkt aufgenommenen musik im gleichen feld verhält, also zum jazz, seinem publikum, seinen festivals, seinen aufnahmebedingungen und den musikalischen linien.

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    #12348909  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Morning Song – Im September 1983 (das sind ja grad riesige Löcher zwischen den Alben!) geht Murray ganze drei Tage ins Vanguard Studio in New York (David Baker), um ein völlig anders Album aufzunehmen. Schon im jubilierenden Titelstück, mit dem das Album beginnt, geht Murray in die vollen, hebt sofort zu einem irren Soloflug an, gestützt vom Gospel-Groove der Band: Reggie Workman im Two-Beat, Ed Blackwell mit einem total verschrobenen Beat, bei dem ich erstaunt bin, dass er doch irgendwie swingt, und John Hicks als sehr starke neue Präsenz am Klavier, wuchtig, beweglich, soulful. Ähnlich wie gerade beim Trio – das schon ein paar Längen hat – kann ich mich hier einfach zurücklehnen und geniessen. Zwischen einem geradezu klassisch anmutenden „Body and Soul“ im Duo mit Hicks und einem Romp mit Bassklarinette über Fats Wallers „Jitterbug Waltz“ ist Butch Morris mit dem kantigen „Light Blue Frolic“ als Komponist vertreten – das finde ich nicht so wirklich überzeugend, es will kein Flow entstehen, Hicks wirkt in der Begleitung etwas konzeptlos. Die restlichen drei Stücke – der Opener „Morning Song“ sowie „Off Season“ und „Duet“ am Ende – stammen von Murray. Dass „Off Season“ ein Highlight ist, wie @vorgarten schreibt, höre ich auf jeden Fall auch so. Das knüpft an den Opener an, aber ohne dessen vielleicht etwas vordergründige Fröhlichkeit – und hier ist auch Blackwell im Solo hervorragend! Und mit ihm ist dann das zweiminütige abschliessende „Duet“ entstanden – eine schöne Idee als Nachgedanke quasi. Alles in allem doch ein recht rundes Album, für meine Ohren fällt nur das Stück von Morris stilistisch irgendwie etwas raus. Und das alles klingt hervorragend – David Baker ist da schon ein garant. Vielleicht bis dahin die am besten klingende Aufnahme von Murray?

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    #12348989  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    vorgarten
    nochmal zum octet und dem zeitpunkt, an dem du gerade mit murray bist (und lotterlotta ja irgendwie auch):

    das finde ich von der genese her schon sehr interessant – ich habe dieses mal mehr über die kompositionen von murray nachgedacht, die ja im trio oft nur als catchy themen funktionieren, die für die soli allenfalls gefühlte anker bilden. erst im london concert (das quintett mit pullen ist anders, eher ein free happening, das klavier ist kein harmonsiches begleitinstrument) kommen klavier und harmonische gerüste dazu, das haben vorher die bassisten situativ erledigt. im octet greift murray dann seine kompositionen nochmal auf und erfindet neue harmonien dazu, die musik wird dadurch mainstreamiger, seine soli erfüllen einen anderen zweck (verankerte ausbrüche, manchmal auch sprengungen), das wird nochmal subtiler mit pianisten wie hicks (verdichtung) und burrell (unvorhersehbarkeit). und die big band ist für all das wahrscheinlich das experimentierfeld, wobei da die live-show mit rein spielt, das kommt im octet erst später.

    was sich noch entwickelt (neben der frage, welche funktion ein murray-solo im ganzen hat), ist sein sound, das finde ich auch sehr spannend, aber das wird vielleicht an der wende 80er/90er deutlicher. also: sound, komposition, arrangement und live/studio als parameter, die sich in den 15 jahren interessant verändern. und bei mir dann auch immer noch die frage, wie sich das zum rest der zum jeweiligen zeitpunkt aufgenommenen musik im gleichen feld verhält, also zum jazz, seinem publikum, seinen festivals, seinen aufnahmebedingungen und den musikalischen linien.

    Das sind alles Gedanken, die ich gut nachvollziehen kann – ich höre gerade in den Arrangements echt einen Fortschritt. Auf „Ming“ kommt mir das recht planlos und rudimentär vor. Dass Murray öfter zum Aufnehmen ins Studio geht, kann natürlich auch zur Entwicklung, dass er weniger aufs Publikum und die unmittelbare Reaktion schielt. Das Einbinden des Klaviers finde ich auch ein interessantes Thema. Ich mag Davis‘ Beiträge mit dem Oktett ja wirklich sehr, auch wenn er oft wie ein Besucher aus Weltall wirkt – oder gerade deswegen. Da höre ich eine Sensibilität (oder ein Sensorium?), die weit über den Jazzhorizont hinaus lauscht.

    Und wenn ich jetzt (zum ersten Mal überhaupt) mit der David Murray Big Band Live at „Sweet Basil“ bin, habe ich das Gefühl, dass die Entwicklungslinie sich hier weiter zieht? Jedenfalls ist es eine gute Idee, recht klassisch mit einer Ballade, die zum mittelschnellen Stück wird, zu beginnen, nicht mit einem Kracher. Im Arrangement ist Vincent Chanceys Horn schön herauszuhören, die Bläser (Olu Dara, Baikida Carroll, Craig Harris, Chancey, Bob Stewart, John Purcell, Steve Coleman) sind „lush“ arrangiert, das klingt voll und doch sehr weich, plüschig fast. Murray nimmt sich seinen Platz und tritt total souverän auf – und dazwischen ein gutes Trompetensolo von Baikida Carroll (das sagt Murray an, drum weiss ich’s). „Bechet’s Bounce“ ist dann wie schon im Lower Manhattan Ocean Club eine Art liebevolle New Orleans-Persiflage. Bei den Stücken mit so ähnlicher Atmosphäre – um die Frage, wie sich das zu anderer zeitgleich aufgenommener Musik verhält, aufzugreifen, denke ich bei solchen Stücken an Lester Bowies Brass Fantasy, die den Crossover zum Pop (Murray erwähnte ja inzwischen schon Stevie Wonder und Marvin Gaye) noch konsequenter anpeilt (und mit Phillip Wilson auch einen Drummer dabei hat, der auch bei Murray zu hören ist, nicht zuletzt zusammen mit Bowie im Ocean Club).

    Hier höre ich Murrays Approach als deutlich ruppiger, lebendiger, agiler – weniger auf strahlenden Glanz aus, mehr am Menschlichen interessiert. Jedenfalls finde ich das ein ziemlich gutes Arrangement – mit tollem Posaunensolo, starker Klarinette (Purcell) und vielen schönen Touches im Hintergrund, zum Beispiel, wie die Tuba eingebunden ist … Dr. John mit Ray Draper oder The Band mit Bläsersection inkl. Howard Johnson sind da manchmal auch nicht weit – die Pop-Sensibilität spielt also auch da rein, wo quasi Traditionspflege betrieben wird (das ist bei Bowie ja durchaus vergleichbar, denke ich). Fred Hopkins ist zwar etwas tief im Mix (präsenter als das Piano von Rod Williams – den kenne ich überhaupt nicht), funktioniert aber mit dem recht dicht aufspielenden Billy Higgins super. Das Schlagzeug ist oft von der Art, dass man „smilin‘ Billy“ durchaus vor Augen hat. Nach dem stimmungsmässig etwas verhaltenen dritten Oktett-Album gibt es hier jedenfalls wieder viele Parties zu feiern und das ist ja definitiv ein Aspekt, der immer zu Murray gehört hat, gehören dürfte. Higgins ist dann im Thema von „Silence“ (haha) der Solist, spielt im Wechsel mit boppigen Riffs der Bläser unbegleitete Passagen. Murray legt dann über die Rhythmusgruppe los, das Klavier ist knapp zu hören, klingt aber mässig interessant. Das stört Murray nicht, der ein ziemlich wildes Solo bläst, Falsett-Schreie, sich überstürzende Linien, Flatterzunge, ein Auf und Ab, da doch nur eine Richtung kennt: schneller, höher, lauter, mehr. Das ist toll, verursacht auch etwas Atemnot – aber dass ausgerechnet dieses Schlagzeugthema dafür verwendet wird, will mir nicht einleuchten, ich höre da einen starken Bruch zwischen dem Thema und dem Solo, das wirkt etwas beliebig.

    Klar, das kann man vielen Big-Band-Nummern vorwerfen, aber wer im April 1984 sowas macht, wird halt an den besten gemessen. Der Closer, „Duet for Big Band“, dauert 16 Minuten und geht stotternd mit tiefem Blech und leisen Drums los, bis nach etwas über einer Minute das Thema erklingt. Craig Harris spielt dann das erste Solo, Rod Williams tritt am Klavier stellenweise in einen Dialog mit ihm, die Bläser fangen zu riffen an, Hopkins/Higgins sind sehr gradlinig, aber toll. Dann folgt eine Art Bond-Passage mit solierendem Piano im Hintergrund und begleitendem tiefen Blech im Vordergrund. Das Risiko bei einer Live-Aufnahme wohl – aber solche Unstimmigkeiten werden locker wettgemacht durch die tolle Stimmung, die hier herrscht. Murray spielt dann selbst noch einmal ein tolles Solo, wie Harris wird er von der Band mit Rufen angespornt, bald riffen die anderen hinter ihm, in klassischer Big Band-Section-Manier mit Tuba in der hohen Lage … bis alles aufbricht ausser Higgins, der das Tempo weiterhin hält, in einer Art Marsch-Beat, bis dann auch das wegfällt und Murray über vermutlich von Dirigent Butch Morris koordinierte Auf- und Ab-Bewegungen der anderen Bläser weitersoliert. Irgendwann greift die Rhythmusgruppe den Beat wieder auf, eine gestopfte Trompete übernimmt, nachdem sich alles beruhigt hat. Doch das Piano-Riff wird bald von den anderen Bläsern aufgegriffen, der Solist spielt mit dem Dämpfer und dem Mikrophon, die Sections überlagern sich wieder, das wirkt irgendwie asynchron, swingt aber auf Teufel komm raus. Die Trompete spielt sich frei, steigt in die Höhe, während Harris dahinter ein paar Elefantenstösse einstreut – im letzten Drittel erinnert mit das ein wenig an Mingus, der Atem, der hier stets zu hören ist, das Gewebe aus eigenwilligen Stimmen, die sich zusammenfügen, ohne ihre Persönlichkeit zu verleugnen – auch in der Hinsicht ist das wirklich nicht weit vom Oktett entfernt.

    Volume 2, 1986 nachgereicht, ist 10 Minuten länger und öffnet mit einer neuen Version von „Dewey’s Circle“ („Low Class Conspiracy“, Bimhuis, „Ming“) los – das ist jetzt eher etwas gar locker arrangiert, doch durch das tiefe Blech, v.a. wieder Chanceys Horn, kommt ein neuer Sound dazu und wie Higgins da antreibt, ist schon super. Dara (tippe ich mal) spielt dann ein tolles Solo, das zunächst aus Phrasen mit kleinen Tonmanipulationen am Schluss besteht, dann immer beweglicher wird, den Ton ständig verändert auch innerhalb der Phrasen, was dem Spiel einen sehr vokalen Touch gibt. Ich weiss gar nicht, ob hier nicht beide Trompeten (bzw. Trompete und Kornett) zu hören sind, jedenfalls geht das immer weiter, das Ensemble rifft, die Klarinette von Purcell, das Horn, die Posaune … das geht ziemlich ab und hat live wohl viel mehr Spass gemacht als auf CD, denke ich. „Roses“ klingt dann wieder nach Ellington via Mingus mit den frei umherschweifenden Bläsern im Arrangement, später dem Stoptime-Teil hinter dem Horn (? davor Tuba?). Irgendwie wird das im zweiten Album für meine Ohren etwas langfädig. Selbst Murray, der am Ende auch noch soliert, wirkt etwas müde – und für einmal fast schon konventionell. Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass das hier Butch Morris‘ einer kompositorischer Beitrag zwischen vier Murray-Originals ist (ein nachträglich ergänzten Detail, 1986 steht noch auf den Hüllen, dass alle Stücke von Murray stammen würden). Oder auch nicht, denn das folgende „David Tune“ ist ähnlich konventionell, aber etwas attraktiver arrangiert. Hier finde ich Purcell (am Alt – ich verlass mich auf @vorgarten, dass hier Coleman nicht zu hören sei!) fast besser als Murray, der zuerst soliert. Murray ist in „Great Piece“ wieder gut – aber auch hier bleibt die Musik ziemlich konventionell. Auch die Freude, die Hopkins und vor allem Higgins vermitteln, will hier nicht so richtig aufkommen. Als Outro folgt dann noch „Four Minute Marvin“ für Marvin Gaye, das Murray für Band-Intros nutzt, bevor er nochmal kurz am Tenorsax in die Höhe fliegt – und tief in die Erde zugleich, weil das ja immer auch Roots-Musik ist. Ich bin mir fast sicher, dass auch Vol. 2 live grossen Spass gemacht hat … aber auf CD kann ich mit Vol. 1 deutlich viel anfangen.

    Was mich hier wundernehmen würde – weil Murray ja schon länger diese Big Band leitete und entsprechend mit dem Material für sie beschäftigt gewesen sein muss: von wann welche Arrangements stammen, ob es hier wirklich eine Entwicklungslinie gibt (nach der dann manches von Vol. 2 vielleicht schon ein paar Jahre auf dem Buckel gehabt haben dürfte, als die Big Band im Sweet Basil erstmals dokumentiert wurde)?

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    gypsy-tail-wind
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    Wiederbegegnung mit Children aus anderer Perspektive – Der Opener „David – Mingus“ mit James Blood Ulmer, Lonnie Plaxico und Marvin „Smitty“ Smith bringt wirklich einen völlig neuen Ton. Eine Rhythmusgruppe, die so hart spielt, gab’s bei Murray bisher noch nie, dabei klingt das noch bei den grössten Verdichtungen ziemlich transparent, Smith wirkt auf mich ziemlich karg, egal wie irr seine Fills sind. Auch eine neue Präzision bringt Smith rein, eine Schärfe. Ein einheitliches Album ist das mit zwei längeren unterschiedlich besetzten Quartett-Tracks – der zweite ist „All the Things You Are“ mit Don Pullen am Klavier – und zwei Trio-Stücken nicht geworden. Interessant ist aber, dass hier Richtungen aufgezeigt werden, die es bisher nicht gab: Ulmer, die Zusammenarbeit mit Ulmer, mit einer jüngeren Generation von Rhythmikern … und Don Pullen von der Band von Mingus. Eigentlich finde ich es fast schon seltsam, dass Murray und Pullen nicht früher und vor allem öfter zusammengearbeitet haben … auch da kommt jedenfalls nochmal ein anderer Ton ins Spiel, als John Hicks ihn rein bringt. „Death“, das erste Trio mit Murray an der Bassklarinette, einem gestrichenen Bass-Solo und Besen-Drums, ist eine wirklich besondere Performance – die vielleicht auch den surrealen Mingus rüberholt, jedenfalls viel mehr ans Vorbild denken lässt als die Nummer mit Ulmer, finde ich. Wie ironisch „All the Things You Are“ wirklich ist, kann ich nicht beurteilen, aber ich hatte ja schon im Ulmer-Thread erwähnt, dass ich es durchaus auch einfach als ernstgemeinte Ballade hören kann – und sind wir ehrlich: Plaxicos Intonation ist in „Death“ auch nicht sicherer, dort passt es halt besser, während es hier zu Reibungen kommt. Pullen ist irre – und klar ist das dann nicht mehr klassisch oder so … aber um die Ironie beurteilen zu können, fehlt mir schlicht tiefere Kenntnis über Murray. Der Closer, wieder im Trio und jetzt am Tenorsax, ist dann nochmal klasse. Murray bleibt irgendwie am Boden, verzahnt sich mit Plaxico/Smith anstat sich über sie zu erheben – das ist toll.

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #160: Barre Phillips (1934-2024) - 11.2., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #12349077  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Runde 4 mit dem Octet heisst New Life und entstand im Oktober 1985 in New York, das Line-Up bringt ein paar Holdovers vom Oktett und der Big Band mit ein paar neuen Leuten zusammen: Baikida Carroll und Hugh Ragin (t), Craig Harris (tb), John Purcell (as, cl), Murray (ts, bcl), Adegoke Steve Colson (p), Wilber Morris (b), Ralph Peterson Jr. (d). Es geht donnernd los, eine stellenweise growlende Trompete spielt das erste Solo in „Train Whistle“, bevor Purcell mit einem Glissando à la „Rhapsody in Blue“ in sein Klarinettensolo einsteigt. Murray macht dann den Sack zu – er ist mit schnellen Schritten unterwegs zum unfassbar souveränen Performer. Im „Morning Song“ bewegt sich das irgendwo zwischen Funk (Peterson bringt am Schlagzeug wuchtige Härte, Morris klingt trocken und so funky wie selten) und Retro, das ist alles sehr flashy und sind auch die Soli. Das bleibt auch in der zweite Hälfte so. Das Titelstück – die inzwischen längst obligatorische 3/4-Nummer – präsentiert eine strahlende Trompete (Ragin, nehme ich an), ein Solo des Leaders an der Bassklarinette und ein kurzes Klaviersolo – das ist fast schon beschaulich. Der Closer dreht nicht viel mehr auf, ist einfach etwas schneller und im 4/4. Purcell am schwer klingenden Altsax öffnet den Solo-Reigen. Nach einem weiteren strahlenden Trompetensolo ist Harris dran, für einmal gradlinig und mit wenigen Effekten und Klangmanipulationen. Auch Murray spielt ein zunächst gradliniges Solo, das erst mit der Zeit ins Falsett ausbricht, den Rahmen etwas sprengt, den aber die riffenden Bläser darunter bekräftigen – immerhin nochmal ein starkes Statement gegen Ende des sonst eher mittelmässigen Albums. Auf dieser zweiten Hälfte des Albums dünkt mich die Distanz zum Retro-Jazz der Neo-Traditionalisten gar nicht mehr so weit. Aber das blieb ja zum Glück nicht die Richtung, die Murray einschlagen sollte.

    Flirt mit dem Publikum, Live-Atmosphäre? Total. Das Oktett war zumindest 1982 (mit Carter/Bradford und Pullen im Line-Up), 1983 (mit Roy Campbell) und 1990 (mit Graham Haynes) in Europa, von 1984 ist auch ein Live-Mitschnitt im Umlauf (Montréal, mit Oliver Lake und Donald Smith). Und zumindest 1987 war auch die Big Band mal auf Tour (es gibt einen Mitschnitt vom Jazzfestival Zürich u.a. mit James Spaulding und auch mit Peterson am Schlagzeug). Die Arrangements finde ich hier wieder eher lieblos – ohne die gute, manchmal überbordende Stimmung, würde das nicht allzu viel hermachen.

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    #12349083  | PERMALINK

    vorgarten

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    danke, schöne texte. den surreale mingus als referenz bei „death“ finde ich überraschend und sehr nachvollziehbar. bei „david – mingus“ ist aber eher der sohn, mingus murray, gemeint, eines der „children“ des albumtitels (aber warum der damals „mingus“ genannt wurde, ist natürlich auch die frage).

    murray & pullen waren, glaube ich, total eng verbunden, und nicht erst seit dem gastauftritt im bimhuis. bei murray probiert pullen ja immer irgendwas aus, so höre ich das klaviersolo hier und die orgel-beiträge zu shakill’s warrior – wahrscheinlich weil sie sich so gut kannten. das pullen/adams-quartet als parallelband mit ähnlichen gospel-anspielungen hör ich auch ganz nah, dann denke ich natürlich an das wirklich ergreifende requiem auf den pianisten, „the long goodbye“.

    mit dem unsauberen plaxico habe ich nach wie vor schwierigkeiten, ich finde ihn woanders immer absolut auf dem punkt (im opener hier ja auch), ungeheuer druckvoll… auch hier denke ich: der probiert was aus.

     

    ich habe gerade mal wieder das schönste jazzalbum seit 1980 gehört, aber schreiben werde ich darüber erst morgen, wenn der blutdruck wieder normal ist ;-)

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    #12349125  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Am 1. Mär 1986 wird in Boston im Charlie’s Tope in zweites Quartett-Album mit John Hicks mitgeschnitten, I Want to Talk About You. Ralph Peterson sitzt wieder am Schlagzeug, Ray Drummond spielt den tiefen, voluminösen Bass. Das ist klasse – ich glaube ich habe das noch nie gehört bisher. Die Balladen, der Coltrane-Groove im Bassklarinettenstück (Dolphy höre ich auch als einen Einfluss auf gewisse Aspekte von Murrays Tenorsaxspiel – die wild herumspringenden Linien … ich wage es ja kaum zu schreiben, aber ein paar mal dachte ich heute auch an Bennie Wallace, der ähnliche Aspekte aufgreift), die tighte Rhythmusgruppe … das das Album als solches vielleicht nicht so gut funktioniert, stört mich beim ersten Hören gerade nicht besonders, ich gehe einfach von Stück zu Stück und finde zumindest die Balladen und die Bassklarinettennummer sehr toll und am Rausschmeisser „Morning Song“ ist auch nicht viel zu bemängeln – Peterson finde ich hier ziemlich toll. Und Murray spielt eins dieser perfekten Soli, die er inzwischen einfach so aus dem Ärmel schütteln kann.

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    #12349135  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Da bin ich jetzt mal faul und höre, ohne nochmal was zu schreiben:

    gypsy-tail-wind

    David Murray – Recording NYC. 1986 | Ganz anders die nächste Runde, ein Sideman-Auftritt mit David Murray, aufgenommen am 10. Mai 1986 im Sound Ideas Studio in New York. Mit dem rockenden „Red Car“ von Butch Morris geht es los, Fred Hopkins (b) und Sunny Murray (d) treiben das gekonnt und eigenwillig an – und lassen es so klingen, als gäbe es eine Welt mehr an Platz hier als in der Phalanx (was ja irgendwie in deren Namen schon enthalten ist, da ist einfach kein Platz, das ist ja das Konzept, Platz zu lassen würde alles gefährden). Ulmer findet sich ein zwischen dem toll klingenden Sax von Murray, der in „Long Goodbye“ (wieder Morris) singt, und dem Bass von Hopkins, der auch dann offen und frei klingt, wenn er wie hier sehr viel spielt. Auch Sunny Murray blüht gerade in dieser Ballade auf, steuert ständig Fills bei, die aus allen Richtungen ausser der erwarteten zu kommen scheinen. Das geht so weiter, mal spielen Murray und Ulmer unisono, dann gehen alle vier ihrer eigenen Wege. Hopkins‘ Bass hält zwar alles zusammen, ist aber auch mit Abstand die berechenbarste Stimme hier – und vielleicht manchmal etwas langweilig. Ein Highlight ist sicher auch das von vorgarten angesprochene „Kareem“, in dem die Rhythmusgruppe mal mehr Raum kriegt. Auch in „According to Webster“ gibt es ein längeres Gitarrensolo, in dem das Trio zeigt, wie toll es funktioniert. Murray greift quasi ständig an, droht alles zu überrollen, während die anderen stoisch bleiben, Ulmer mehr an Texturen als an einer Geschichte interessiert ist, Hopkins zwischendurch aus dem starren Trott findet und anger mit anderen beiden zusammenfindet. Nach der wahnsinnig tollen Powerballade „Patricia“ – Murray ist wirklich unfassbar gut um den Dreh herum! – mit ganz schöner Gitarrenpassen, gibt es zum Abschluss das 14minütige, ziemlich freie „Light Years“, in dem Ulmer als erster ran darf, bevor Murray nochmal zu einem irren Höhenflug ansetzt. Hopkins verschmelzt hier super mit Sunny Murray, die beiden treiben das Stück gemeinsam mit irrem Drive voran – und beide kriegen sie dann auch mal ein Solo, zuerst Sunny Murray und dann Hopkins mit dem Bogen im Flageolett. Das Album ist alles andere als perfekt – aber toll!

    Die Music Revelation Ensemble-Alben werde ich nicht wieder hören … aber ich glaub für heute und das Wochenende reicht das hiermit dann eh erstmal. „The Hill“ und das letzte Oktett-Album „Hope Scope“ sowie zwei Nebengleise (Clarinet Summit und Duo mit Randy Weston) stehen noch an, bevor’s zum DIW-Quartett von 1988 geht. Das andere frühe DIW-Album fehlt mir leider noch („In Our Style“ mit Jack DeJohnette und dem verschwiegenen Fred Hopkins).

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