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vorgarten
nochmal zum octet und dem zeitpunkt, an dem du gerade mit murray bist (und lotterlotta ja irgendwie auch):das finde ich von der genese her schon sehr interessant – ich habe dieses mal mehr über die kompositionen von murray nachgedacht, die ja im trio oft nur als catchy themen funktionieren, die für die soli allenfalls gefühlte anker bilden. erst im london concert (das quintett mit pullen ist anders, eher ein free happening, das klavier ist kein harmonsiches begleitinstrument) kommen klavier und harmonische gerüste dazu, das haben vorher die bassisten situativ erledigt. im octet greift murray dann seine kompositionen nochmal auf und erfindet neue harmonien dazu, die musik wird dadurch mainstreamiger, seine soli erfüllen einen anderen zweck (verankerte ausbrüche, manchmal auch sprengungen), das wird nochmal subtiler mit pianisten wie hicks (verdichtung) und burrell (unvorhersehbarkeit). und die big band ist für all das wahrscheinlich das experimentierfeld, wobei da die live-show mit rein spielt, das kommt im octet erst später.
was sich noch entwickelt (neben der frage, welche funktion ein murray-solo im ganzen hat), ist sein sound, das finde ich auch sehr spannend, aber das wird vielleicht an der wende 80er/90er deutlicher. also: sound, komposition, arrangement und live/studio als parameter, die sich in den 15 jahren interessant verändern. und bei mir dann auch immer noch die frage, wie sich das zum rest der zum jeweiligen zeitpunkt aufgenommenen musik im gleichen feld verhält, also zum jazz, seinem publikum, seinen festivals, seinen aufnahmebedingungen und den musikalischen linien.
Das sind alles Gedanken, die ich gut nachvollziehen kann – ich höre gerade in den Arrangements echt einen Fortschritt. Auf „Ming“ kommt mir das recht planlos und rudimentär vor. Dass Murray öfter zum Aufnehmen ins Studio geht, kann natürlich auch zur Entwicklung, dass er weniger aufs Publikum und die unmittelbare Reaktion schielt. Das Einbinden des Klaviers finde ich auch ein interessantes Thema. Ich mag Davis‘ Beiträge mit dem Oktett ja wirklich sehr, auch wenn er oft wie ein Besucher aus Weltall wirkt – oder gerade deswegen. Da höre ich eine Sensibilität (oder ein Sensorium?), die weit über den Jazzhorizont hinaus lauscht.
Und wenn ich jetzt (zum ersten Mal überhaupt) mit der David Murray Big Band Live at „Sweet Basil“ bin, habe ich das Gefühl, dass die Entwicklungslinie sich hier weiter zieht? Jedenfalls ist es eine gute Idee, recht klassisch mit einer Ballade, die zum mittelschnellen Stück wird, zu beginnen, nicht mit einem Kracher. Im Arrangement ist Vincent Chanceys Horn schön herauszuhören, die Bläser (Olu Dara, Baikida Carroll, Craig Harris, Chancey, Bob Stewart, John Purcell, Steve Coleman) sind „lush“ arrangiert, das klingt voll und doch sehr weich, plüschig fast. Murray nimmt sich seinen Platz und tritt total souverän auf – und dazwischen ein gutes Trompetensolo von Baikida Carroll (das sagt Murray an, drum weiss ich’s). „Bechet’s Bounce“ ist dann wie schon im Lower Manhattan Ocean Club eine Art liebevolle New Orleans-Persiflage. Bei den Stücken mit so ähnlicher Atmosphäre – um die Frage, wie sich das zu anderer zeitgleich aufgenommener Musik verhält, aufzugreifen, denke ich bei solchen Stücken an Lester Bowies Brass Fantasy, die den Crossover zum Pop (Murray erwähnte ja inzwischen schon Stevie Wonder und Marvin Gaye) noch konsequenter anpeilt (und mit Phillip Wilson auch einen Drummer dabei hat, der auch bei Murray zu hören ist, nicht zuletzt zusammen mit Bowie im Ocean Club).
Hier höre ich Murrays Approach als deutlich ruppiger, lebendiger, agiler – weniger auf strahlenden Glanz aus, mehr am Menschlichen interessiert. Jedenfalls finde ich das ein ziemlich gutes Arrangement – mit tollem Posaunensolo, starker Klarinette (Purcell) und vielen schönen Touches im Hintergrund, zum Beispiel, wie die Tuba eingebunden ist … Dr. John mit Ray Draper oder The Band mit Bläsersection inkl. Howard Johnson sind da manchmal auch nicht weit – die Pop-Sensibilität spielt also auch da rein, wo quasi Traditionspflege betrieben wird (das ist bei Bowie ja durchaus vergleichbar, denke ich). Fred Hopkins ist zwar etwas tief im Mix (präsenter als das Piano von Rod Williams – den kenne ich überhaupt nicht), funktioniert aber mit dem recht dicht aufspielenden Billy Higgins super. Das Schlagzeug ist oft von der Art, dass man „smilin‘ Billy“ durchaus vor Augen hat. Nach dem stimmungsmässig etwas verhaltenen dritten Oktett-Album gibt es hier jedenfalls wieder viele Parties zu feiern und das ist ja definitiv ein Aspekt, der immer zu Murray gehört hat, gehören dürfte. Higgins ist dann im Thema von „Silence“ (haha) der Solist, spielt im Wechsel mit boppigen Riffs der Bläser unbegleitete Passagen. Murray legt dann über die Rhythmusgruppe los, das Klavier ist knapp zu hören, klingt aber mässig interessant. Das stört Murray nicht, der ein ziemlich wildes Solo bläst, Falsett-Schreie, sich überstürzende Linien, Flatterzunge, ein Auf und Ab, da doch nur eine Richtung kennt: schneller, höher, lauter, mehr. Das ist toll, verursacht auch etwas Atemnot – aber dass ausgerechnet dieses Schlagzeugthema dafür verwendet wird, will mir nicht einleuchten, ich höre da einen starken Bruch zwischen dem Thema und dem Solo, das wirkt etwas beliebig.
Klar, das kann man vielen Big-Band-Nummern vorwerfen, aber wer im April 1984 sowas macht, wird halt an den besten gemessen. Der Closer, „Duet for Big Band“, dauert 16 Minuten und geht stotternd mit tiefem Blech und leisen Drums los, bis nach etwas über einer Minute das Thema erklingt. Craig Harris spielt dann das erste Solo, Rod Williams tritt am Klavier stellenweise in einen Dialog mit ihm, die Bläser fangen zu riffen an, Hopkins/Higgins sind sehr gradlinig, aber toll. Dann folgt eine Art Bond-Passage mit solierendem Piano im Hintergrund und begleitendem tiefen Blech im Vordergrund. Das Risiko bei einer Live-Aufnahme wohl – aber solche Unstimmigkeiten werden locker wettgemacht durch die tolle Stimmung, die hier herrscht. Murray spielt dann selbst noch einmal ein tolles Solo, wie Harris wird er von der Band mit Rufen angespornt, bald riffen die anderen hinter ihm, in klassischer Big Band-Section-Manier mit Tuba in der hohen Lage … bis alles aufbricht ausser Higgins, der das Tempo weiterhin hält, in einer Art Marsch-Beat, bis dann auch das wegfällt und Murray über vermutlich von Dirigent Butch Morris koordinierte Auf- und Ab-Bewegungen der anderen Bläser weitersoliert. Irgendwann greift die Rhythmusgruppe den Beat wieder auf, eine gestopfte Trompete übernimmt, nachdem sich alles beruhigt hat. Doch das Piano-Riff wird bald von den anderen Bläsern aufgegriffen, der Solist spielt mit dem Dämpfer und dem Mikrophon, die Sections überlagern sich wieder, das wirkt irgendwie asynchron, swingt aber auf Teufel komm raus. Die Trompete spielt sich frei, steigt in die Höhe, während Harris dahinter ein paar Elefantenstösse einstreut – im letzten Drittel erinnert mit das ein wenig an Mingus, der Atem, der hier stets zu hören ist, das Gewebe aus eigenwilligen Stimmen, die sich zusammenfügen, ohne ihre Persönlichkeit zu verleugnen – auch in der Hinsicht ist das wirklich nicht weit vom Oktett entfernt.
Volume 2, 1986 nachgereicht, ist 10 Minuten länger und öffnet mit einer neuen Version von „Dewey’s Circle“ („Low Class Conspiracy“, Bimhuis, „Ming“) los – das ist jetzt eher etwas gar locker arrangiert, doch durch das tiefe Blech, v.a. wieder Chanceys Horn, kommt ein neuer Sound dazu und wie Higgins da antreibt, ist schon super. Dara (tippe ich mal) spielt dann ein tolles Solo, das zunächst aus Phrasen mit kleinen Tonmanipulationen am Schluss besteht, dann immer beweglicher wird, den Ton ständig verändert auch innerhalb der Phrasen, was dem Spiel einen sehr vokalen Touch gibt. Ich weiss gar nicht, ob hier nicht beide Trompeten (bzw. Trompete und Kornett) zu hören sind, jedenfalls geht das immer weiter, das Ensemble rifft, die Klarinette von Purcell, das Horn, die Posaune … das geht ziemlich ab und hat live wohl viel mehr Spass gemacht als auf CD, denke ich. „Roses“ klingt dann wieder nach Ellington via Mingus mit den frei umherschweifenden Bläsern im Arrangement, später dem Stoptime-Teil hinter dem Horn (? davor Tuba?). Irgendwie wird das im zweiten Album für meine Ohren etwas langfädig. Selbst Murray, der am Ende auch noch soliert, wirkt etwas müde – und für einmal fast schon konventionell. Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass das hier Butch Morris‘ einer kompositorischer Beitrag zwischen vier Murray-Originals ist (ein nachträglich ergänzten Detail, 1986 steht noch auf den Hüllen, dass alle Stücke von Murray stammen würden). Oder auch nicht, denn das folgende „David Tune“ ist ähnlich konventionell, aber etwas attraktiver arrangiert. Hier finde ich Purcell (am Alt – ich verlass mich auf @vorgarten, dass hier Coleman nicht zu hören sei!) fast besser als Murray, der zuerst soliert. Murray ist in „Great Piece“ wieder gut – aber auch hier bleibt die Musik ziemlich konventionell. Auch die Freude, die Hopkins und vor allem Higgins vermitteln, will hier nicht so richtig aufkommen. Als Outro folgt dann noch „Four Minute Marvin“ für Marvin Gaye, das Murray für Band-Intros nutzt, bevor er nochmal kurz am Tenorsax in die Höhe fliegt – und tief in die Erde zugleich, weil das ja immer auch Roots-Musik ist. Ich bin mir fast sicher, dass auch Vol. 2 live grossen Spass gemacht hat … aber auf CD kann ich mit Vol. 1 deutlich viel anfangen.
Was mich hier wundernehmen würde – weil Murray ja schon länger diese Big Band leitete und entsprechend mit dem Material für sie beschäftigt gewesen sein muss: von wann welche Arrangements stammen, ob es hier wirklich eine Entwicklungslinie gibt (nach der dann manches von Vol. 2 vielleicht schon ein paar Jahre auf dem Buckel gehabt haben dürfte, als die Big Band im Sweet Basil erstmals dokumentiert wurde)?
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #160: Barre Phillips (1934-2024) - 11.2., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba