Antwort auf: David Murray

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gypsy-tail-wind
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In Runde drei, Murray’s Steps, ein Jahr nach „Ming“ im Juli 1982 aufgenommen (inzwischen im Barigozzi Studio in Mailand) gibt es die ersten Mutationen: Bobby Bradford, Craig Harris und Curtis Clark ersetzen Dara, Lewis und Davis. Im öffnenden Titelstück, einer Art Variante über „Giant Steps“, kriegt Harris nach dem Leader das erste Solo, er geht mehr aus sich heraus, passt so gesehen vermutlich besser zur Band, was man auch für Clark sagen kann – aber ich finde gerade Davis und die paar Male, wo man ihn hören kann, auch Lewis, überaus interessant in diesem Kontext, v.a. Davis als eine Art irrlichternden Gegenpol. Clark kommt nicht von ausserhalb und guckt vorbei sondern taucht aus der Mitte der Band auf – vielleicht ist er drum auch deutlich präsenter im Mix? Die erste Trompete im Opener ist wohl gleich die von Bradford, und Morris ist dann nach Threadgill an der Reihe? Dieser verschiebt das anarchische Potential noch weiter von der Tongestaltung in seine Linien, was ich ziemlich gut finde. Nat Hentoff schreibt in den Liner Notes, die Band habe vor dem Studiotermin eine kleine Europa-Tour mit sechs Konzerten gespielt, und vielleicht führte das zum flüssigeren Groove, in dem sich hier all zu befinden scheinen. In „Sweet Lovely“ werden Bassklarinette/Posaune gegen gestopfte Trompeten/Flöte gesetzt – nicht das erste Mal, dass im Oktett ein 3/4 zu hören ist. Das hat einen verführerisch-trägen Flow, McCall ist super, der Bass ist minimal unterwegs, aber trägt das alles. Ein Flötentriller markiert den Einstieg in die Soli, sparsam von Clark begleitet, dann übernimmt der erste Trompeter (oder Kornettist) mit Dämpfer und sehr toll, bevor Murray die Bassklarinette auch mal kurz jaulen lässt und ins Falsett geht, aber ohne die Stimmung zu durchbrechen. Morris am Bass folgt. Auch hier: sehr gekonnt gemacht, ein echtes Highlight, wie Murray hier zarteste Töne und feinste Stimmungen zusammenbringt mit dem immer noch hörenden Geist der Avantgarde. Die Flöte (nicht mehr Bassflöte) von Threadgill ist auch in „Sing Song“ wieder präsent, eigentlich ein Big-Band-Stück, doch lustigerweise ist die Band hier wieder fast im Unisono unterwegs über einen Latin-Beat – „It’s like a pop song“ sagt Murray in den Liner Notes und verweist auf Stevie Wonder und Marvin Gaye als Einflüsse. Vom Arrangement her also wieder ziemlich einfallslos (auch hinter den Soli gibt es nur ein einziges kleines Riff), aber einmal mehr entsteht eine schöne Stimmung und das alles ist so gesehen sehr sachdienlich. Und Harris spielt ein tolles Solo, etwas flashy, sprechend, stotternd, sich überstürzend, in die Höhe ausbrechend. Danach wohl Bradford mit „Star Eyes“-Zitat? Dann Murray – und er katapultiert das alles gleich auf ein anders Level mit wilden Sprüngen und Läufen, die bis ins Falsett führen. Als Closer „Flowers for Albert“ in einer Latin-Version, eröffnet von Harris mit einem Riff. Hier entsteht wieder ein dichtes Stimmengeflecht aus nicht wirklich unisono und auch rhythmisch nicht einheitlich phrasierten Linien – vermutlich ist es sowas, was Crouch mit Kontrapunktik meint. Gefällt mir sehr, sehr gut. Ein tolles, singendes Trompetensolo zum Einstieg – das an „Willow Weep for Me“ vorbeischrammt, und da tippe ich dann eher wieder auf Bradford, weil’s sowas auf all denn Alben bis dahin von Morris nie gab (aber irgenwie denk ich dennoch, dass das hier Morris ist? Ich sehe, dass @vorgarten keine Solo-IDs macht, hast Du eine klare Meinung hier bzw. im ganzen Album? Hentoff hilft uns ja nicht, vermutlich weiss er’s selbst nicht). Vom Ton her finde ich die zwei total schwer auseinanderzuhalten. Murray übernimmt dann und lässt sich vom Gesang inspirieren. Das kriegt bei ihm fast eine Calypso-Qualität, er reitet den Groove sehr präzise und bleibt auch im Falsett wenngleich nicht ganz sauber intoniert (klar, kein Vorwurf!) Linear, baut Ayler-artige Singsang (ha!)-Linien ein, aber mit sehr klarem, gradlinigen Ton. Harris übernimmt, und hier wird im Ablauf der Soli klar, wie die alle ähnlich ticken und die Fäden aufgreifen können, die vom Vorgänger gesponnen wurden. Hinter der Posaune tauchen dann die anderen Bläser wieder auf, Clark rifft, McCall ist hier wieder toll, immer in Bewegung, aber ohne je in den Vordergrund zu drängen – bis er dann ein Solo kriegt, das von Morris am Bass weiterbegleitet wird, wie es 20 Jahre früher Max Roach oft haben wollte. Der Fade-Out hier klingt handgemacht, jedenfalls kehrt das Riff von Harris wieder zurück und schliesst eine total stimmige Performance ab. Nach dem etwas schnelleren Opener ist das hier alles super entspannt und echt schön, aber ich glaube von diesen ersten drei Alben ist das mittlere heute ganz knapp mein liebstes.

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