100 beste Jazzalben des Rolling Stone, kommentiert

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  • #12546193  | PERMALINK

    vorgarten

    Registriert seit: 07.10.2007

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    gypsy-tail-wind
    Noch ein Nachgedanke @.vorgarten: die Mühe, die Du mit den Themen oder Motiven oder Kürzeln bekundest, erinnert mich ein wenig an frühere Äusserungen zu Monk … täuscht das oder nimmst Du Monks Themen und das Material auf „Out to Lunch“ (und ev. andere Dolphy-Stücke, er hat ja noch weitere ganz kurze, nahezu rudimentäre Sachen komponiert) ähnlich wahr?

    das trifft es total und ging mir beim hören auch durch den kopf – obwohl das mit mir und monk in diesem thread eigenartig oft klickt. ich kann jedenfalls überhaupt nicht beschreiben, warum ich bestimmte einfache themen nervig, andere als kick empfinde („una muy bonita“ von ornette z.b.). bei dolphy gibt es oft nur simple wiederholungen (ganz platt beim closer), mit denen gar nichts weiter passiert, außer dass dann irgendwann die soli anfangen. aber natürlich setzen sie eine atmosphäre, setzen ein zeichen, aus dem sich das stück dann weiterentwickelt.

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    #12546227  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
    Moderator
    Biomasse

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    Ich kann das ja nachvollziehen – auch bei Monk, von wo ich es kenne (und stimmt, hier im Thread war das ja gar nicht so ein Ding, hat mich auch überrascht), auch wenn ich das anders höre/wahrnehme.

    Was denkst Du wegen dem Punkt mit der Transparenz, dem Klangbild? Dass die jüngeren Leute sich eher auf anderes beziehen, ist mir ja auch klar, aber dass es gerade zwei Altsaxer sind, die da zu den wichtigsten Exponenten gehören und Dolphy halt auch Altsaxer (u.a., aber schon irgendwie vor allem, wenn es um die Verortung in der Jazztradition geht, weil er an den anderen Instrumenten ja eher Pionier war, an der Flöte natürlich weniger als an der Bassklarinette) finde ich das zumindest bedenkenswert, ohne dass ich sagen könnte, wie viel da dran ist oder ob das eher einfach so ein „aus dem Kontinuum kommen“ (zu dem natürlich – direkter – auch Jackie McLean gehört) ist?

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #166: First Visit: Live-Dokumente aus dem Archiv von ezz-thetics/Hat Hut Records - 14.10., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #12546241  | PERMALINK

    vorgarten

    Registriert seit: 07.10.2007

    Beiträge: 13,209

    4

    KARMA
    sanders, thomas, spaulding, watkins, smith, workman, davis, carter, hart, waits, bettis, thiele, simpson (14. & 19.2.1969)

    im jahr 1968 war pharoah sanders ein bisschen verloren. und da war er nicht der einzige nach dem tod coltranes. er spielte – nach mehrmonatiger pause – mit verschiedenen leuten um ein vakuum herum, mit albert ayler, alice coltrane, dem jazz composer’s orchestra, don cherry, dave burrell und gary bartz. im sommer stellte er für eine kleine europa-tour ein quartett zusammen, mit lonnie liston smith, sirone und majid shabazz. sie spielten „leo“ von coltrane, „venus“ vom TAUHID-album und den pop-hit „sunny“. zum ersten mal tauchte aber auch „the creator has a master plan“ im programm auf. es hat ein entspanntes tempo, sanders etabliert die legendäre basslinie zum einstieg und spielt dann eigentlich ein pop-thema darüber. das publikum wunderte sich wahrscheinlich kurz über die sanftheit und melodienseligkeit dieses wildesten aller coltrane-partner, aber auch hier, z.b. in antibes, ist die harmonie eingebettet in hymnisches anrufen und jähe explosionen. die gewalt, das chaos sind nie fern. auf den filmaufnahmen der konzerte sieht man in sanders halbgeöffneten augen keine pupillen mehr. ein vielschichtiger text, der unvorbereitet in trancen führt und genauso unvorbereitet wieder heraus, in den soul-loops der band, die ihre musik in die zeit setzt: coltrane ist tot, der vietnamkrieg eskalierte mit der tet-offensive, im april wurde martin luther king ermordet. sanders re-etabliert die harmonie als musikalisches zentrum und utopisches konzept und entwirft eine kleine friedenshymne, die ihren desaströsen hintergrund, vor dem sie sich abheben soll, präsent lässt.

    die quellen sind – für diese zeit und diese szene typisch – hybrid. sanders ist in einer baptistengemeinde aufgewachsen, hatte musik in der kirche gelernt, bekam in der new yorker zeit inspirationen aus imaginärer afrikanischer antike und einen entsprechenden neuen vornamen, aus der jazz-community den bezug zum ahmadiyya-islam, der ja aus indien kommt, von dort wiederum speisten die beiden coltranes ihre ideen, die über die alltägliche misere hinausführten (OM), da hat auch alice weitergemacht und sich zu der zeit, als sanders seinen masterplan entwickelte, schließlich entschieden. die gemeinsame japantournee dürfte auch spuren hinterlassen haben. bei sanders wird das alles anfang 1969 zu einem großen utopischen rausch: upper and lower egypt, venus, isis and osiris, tauhid, karma, hum-allah, prince of peace, peace and happiness for every man.

    TAUHID ist von 1966, da war er noch mit coltrane unterwegs. drei jahre später wird das impulse-angebot wieder aufgegriffen. ein vakuum soll auch dort gefüllt werden, und sanders hat seit dem sommer des vorjahres den masterplan dafür. liston smith kommt mit, der vom pygmäen-gesang inspirierte leon thomas aus einer strata-east-session dazu, waldhornist watkins aus dem jazz composer’s orchestra, nat bettis war schon bei TAUHID dabei. bob thiele und sein ingenieur bob simpson haben von teo macero gelernt und setzen zusätzliche klangräume ein: instrumente wechseln die kanäle, es gibt overdubs, flexible vor- und hintergründe, in denen sich balaphone, bass-ostinati, soul-klavier, r&b-jodeln, eine vorderasiatisch anmutende flöte, und sogar schlittenschellen bewegen. gott lässt sich von den rentieren absetzen und versichert, von weit oben: es gibt ihn, den masterplan, fürchtet euch nicht – bevor simpson den sänger in die band herunterfahren lässt, um dort ein ums andere mal überspült und mitbewegt zu werden.

    die 32 minuten haben mehrere teile, eine rubato-hymne, die zwischendruch wiederkommt, das eigentliche thema, eine doppelt so schnelle latin-jazz-entwicklung und ein kakofonisches zusammenstürzen im letzten drittel. wie das zusammenhängt und in welche ordnung das fällt, bestimmt einzig und allein (und wahrscheinlich spontan) die stimme des tenorsaxofons, die – in haltung, sound, mix und ansatz – von einer fast überiridischen präsenz ist. wie sanders mit zusätzlichen melodiefragmenten spielt, diese wiederum aufsplittet und explodieren lässt, radikalisiert, hat nichts z.b. mit dem irdischen abrutschen einer ayler-hymne zu tun. bei sanders geht es um mantren, das hat er von sun ra und john coltrane gelernt. sie müssen wiederholt werden und die frage ist nur: wie. mantren sind in musikalische loops übersetzbar. und der weg zum hiphop-sample ist kurz. der trip auf KARMA (sanskrit für: das universum kommt wieder ins gleichgewicht) geht weit darüber hinaus, auch wenn er von jähen montagen lebt und nicht einem romantischen steigerungs-, höhepunkt- und entspannungsprinzip folgt.

    es gibt noch ein stück, das taucht auch schon im liveprogrammd es quartetts 1968 auf: colors. da schickt der creator noch einen regenbogen hinterher. so viel sinn fürs schöne muss sein.

    --

    #12546245  | PERMALINK

    vorgarten

    Registriert seit: 07.10.2007

    Beiträge: 13,209

    friedrich
    Das rumpelige Titelstück und das karikaturhafte Caravan auf der einen Seite, die zarten und zerbrechlichen Stücke Fleurette Africaine, Warm Valley oder Solitude auf der anderen Seite.
    Sehr lebhaft, spontan, offensichtlich viel improvisiert, voller Gegensätze, mit Ecken und Kanten. Gut, dass man das so stehen gelassen und nichts mehr abgeschliffen und poliert hat.

    letzteres ist, glaube ich, der entscheidende punkt. wobei ich auch nicht ganz verstehe, warum die tontechniker da mit einem klaviertrio so viele probleme hatten. vielleicht waren auch sie überrumpelt, ellington hatten sie bestimmt viel leiser eingepegelt ;-)

    interessant, dass „caravan“ hier karikaturhaft rüberkommt. das kann man so hören. und das ist ja auch ganz schön freigeistig, da den respekt abzulegen und (aus ellingtons perspektive) das zuzulassen.

    --

    #12546253  | PERMALINK

    vorgarten

    Registriert seit: 07.10.2007

    Beiträge: 13,209

    gypsy-tail-windich höre da eine faszinierende Transparenz, vielleicht eine Art „kalte“ Hitze (wie bei Miles Davis) (…) … und die Musik auch nicht als besonders „verkopft“. Hier eine Nachfrage: klar hat Ornette einen anderen Flow, aber Steve Coleman, Lehman, Fieldwork, die wir gerade hören, beziehen sich schon auch auf Dolphy, vermute ich (und vielleicht in der vorherrschenden Klarheit des Klangbildes gerade auf „Out to Lunch“)? vielleicht nicht explizit, aber ich höre da schon Linien …

    ich denke darüber nach… ich denke nicht, dass z.b. steve coleman sich musikalisch auf dolphy bezieht. gleichwohl sagt er ein paar interessante sachen im interview mit zev feldman für die MUSICAL PROPHET compilation. einerseits das übliche: idiosynkratische stimme, abenteuerlicher geist, zu früh gestorben, deshalb vielleicht keine schule ausgebildet (interessant: coleman meint, dass dolphy und booker little gemeinsam eine musikalische sprache entwickelt hätten, bevor little zu früh starb). aber er spricht auch von einem „sonic universe“ der kompositionen und des spiels von dolphy, das ihm am anfang ziemliche schwierigkeiten bereitet hätte. er erwähnt dass noch die außermusikalischen einflüsse, bei dolphy die orientierung am vogelgesang für die intervallsprünge, aber das ganze bleibt sehr auf respektvoller distanz.

    ich glaube, ich verstehe, was du meinst, aber den größten einfluss auf osby und coleman höre ich bei bunky green, und bei lehman natürlich bei mclean. die sound-transparenz hat für mich viel mit doug hammonds schlagzeugspiel zu tun (geht das auf williams zurück? vielleicht ein bisschen…) und dem supercleanen bass von dave holland. und dann die kühleren funk-konzepte der frühen 80er, auch prime time… ich sehe die verbindung zu dolphy nicht so recht.

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    #12546257  | PERMALINK

    friedrich

    Registriert seit: 28.06.2008

    Beiträge: 5,445

    vorgarten

    friedrich
    Das rumpelige Titelstück und das karikaturhafte Caravan auf der einen Seite, die zarten und zerbrechlichen Stücke Fleurette Africaine, Warm Valley oder Solitude auf der anderen Seite.
    Sehr lebhaft, spontan, offensichtlich viel improvisiert, voller Gegensätze, mit Ecken und Kanten. Gut, dass man das so stehen gelassen und nichts mehr abgeschliffen und poliert hat.

    letzteres ist, glaube ich, der entscheidende punkt. wobei ich auch nicht ganz verstehe, warum die tontechniker da mit einem klaviertrio so viele probleme hatten. vielleicht waren auch sie überrumpelt, ellington hatten sie bestimmt viel leiser eingepegelt
    interessant, dass „caravan“ hier karikaturhaft rüberkommt. das kann man so hören. und das ist ja auch ganz schön freigeistig, da den respekt abzulegen und (aus ellingtons perspektive) das zuzulassen.

    Ich meine das gar nicht in erster Linie in Bezug auf die Aufnahmetechnik. Man hätte ja auch eine ganz konventionelle Piano-Trioaufnahme mit Ellington, begleitet von Mingus und Roach, machen können. Ein paar Ellington-Standards und ein zwei neue Kompositionen. Ein paar mal geprobt, flüssig und gefällig eingespielt. Hätte sich sicher gut verkauft. Stattdessen rumpeln die 3 drauflos, dass es kracht!

    Der Produzent hätte nach der Aufnahme des Titelstücks ja mal zu den dreien gehen können: „Äh, okay, das war ja schon sehr schön. Aber vielleicht kriegen wir das noch etwas eleganter hin. Mingus, ganz toll, wie du da in die Saiten greifst. Das macht dir wirklich keiner nach. Aber manchmal ist weniger auch mehr, verstehst Du? Dann muss der Duke auch nicht so sehr gegen dich anspielen.“ Aber dann hätte der Produzent wahrscheinlich von Mingus was auf die Mütze gekriegt. ;-)

    Nein, man hat das alles so stehen lassen. Und auch die zarten Stücke haben etwas rohes und naturbelassenes. Ist auch gut so!

    Caravan hat eigentlich im Original schon was karikaturhaftes. Exotica. Aber macht Spaß!

    --

    “There are legends of people born with the gift of making music so true it can pierce the veil between life and death. Conjuring spirits from the past and the future. This gift can bring healing—but it can also attract demons.”                                                                                                                                          (From the movie Sinners by Ryan Coogler)
    #12546259  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
    Moderator
    Biomasse

    Registriert seit: 25.01.2010

    Beiträge: 69,529

    Vielen Dank für Deine Einordnung – da steckts Du ja viel tiefer drin. Ging mir einfach durch den Kopf, auch bei der Lektüre der „Einwände“ gegen „Out to Lunch“ und weil ich schon irgendwie auch im Altsax-Spiel eine gewisse Nähe herauszuhören glaube (Lehman lief ja die Tage gerade ein paar Male, Coleman schon eine Weile nicht mehr, der hat schon eine andere Vorstellung von Flow, bei Osby wollte ich seit unserer 90er-Strecke mal ein wenig was nachholen aus den letzten Jahren).

    Danke für den schönen Text zu „Karma“!

    (Bei den „sleigh bells“ muss ich natürlich immer gleich an Mahler 4 denken – klick.)

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    #12546267  | PERMALINK

    vorgarten

    Registriert seit: 07.10.2007

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    gypsy-tail-wind
    (Bei den „sleigh bells“ muss ich natürlich immer gleich an Mahler 4 denken – klick.)

    haha, stimmt. da fahren die schlitten ja auch durch den himmel.

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