Antwort auf: 100 beste Jazzalben des Rolling Stone, kommentiert

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vorgarten

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KARMA
sanders, thomas, spaulding, watkins, smith, workman, davis, carter, hart, waits, bettis, thiele, simpson (14. & 19.2.1969)

im jahr 1968 war pharoah sanders ein bisschen verloren. und da war er nicht der einzige nach dem tod coltranes. er spielte – nach mehrmonatiger pause – mit verschiedenen leuten um ein vakuum herum, mit albert ayler, alice coltrane, dem jazz composer’s orchestra, don cherry, dave burrell und gary bartz. im sommer stellte er für eine kleine europa-tour ein quartett zusammen, mit lonnie liston smith, sirone und majid shabazz. sie spielten „leo“ von coltrane, „venus“ vom TAUHID-album und den pop-hit „sunny“. zum ersten mal tauchte aber auch „the creator has a master plan“ im programm auf. es hat ein entspanntes tempo, sanders etabliert die legendäre basslinie zum einstieg und spielt dann eigentlich ein pop-thema darüber. das publikum wunderte sich wahrscheinlich kurz über die sanftheit und melodienseligkeit dieses wildesten aller coltrane-partner, aber auch hier, z.b. in antibes, ist die harmonie eingebettet in hymnisches anrufen und jähe explosionen. die gewalt, das chaos sind nie fern. auf den filmaufnahmen der konzerte sieht man in sanders halbgeöffneten augen keine pupillen mehr. ein vielschichtiger text, der unvorbereitet in trancen führt und genauso unvorbereitet wieder heraus, in den soul-loops der band, die ihre musik in die zeit setzt: coltrane ist tot, der vietnamkrieg eskalierte mit der tet-offensive, im april wurde martin luther king ermordet. sanders re-etabliert die harmonie als musikalisches zentrum und utopisches konzept und entwirft eine kleine friedenshymne, die ihren desaströsen hintergrund, vor dem sie sich abheben soll, präsent lässt.

die quellen sind – für diese zeit und diese szene typisch – hybrid. sanders ist in einer baptistengemeinde aufgewachsen, hatte musik in der kirche gelernt, bekam in der new yorker zeit inspirationen aus imaginärer afrikanischer antike und einen entsprechenden neuen vornamen, aus der jazz-community den bezug zum ahmadiyya-islam, der ja aus indien kommt, von dort wiederum speisten die beiden coltranes ihre ideen, die über die alltägliche misere hinausführten (OM), da hat auch alice weitergemacht und sich zu der zeit, als sanders seinen masterplan entwickelte, schließlich entschieden. die gemeinsame japantournee dürfte auch spuren hinterlassen haben. bei sanders wird das alles anfang 1969 zu einem großen utopischen rausch: upper and lower egypt, venus, isis and osiris, tauhid, karma, hum-allah, prince of peace, peace and happiness for every man.

TAUHID ist von 1966, da war er noch mit coltrane unterwegs. drei jahre später wird das impulse-angebot wieder aufgegriffen. ein vakuum soll auch dort gefüllt werden, und sanders hat seit dem sommer des vorjahres den masterplan dafür. liston smith kommt mit, der vom pygmäen-gesang inspirierte leon thomas aus einer strata-east-session dazu, waldhornist watkins aus dem jazz composer’s orchestra, nat bettis war schon bei TAUHID dabei. bob thiele und sein ingenieur bob simpson haben von teo macero gelernt und setzen zusätzliche klangräume ein: instrumente wechseln die kanäle, es gibt overdubs, flexible vor- und hintergründe, in denen sich balaphone, bass-ostinati, soul-klavier, r&b-jodeln, eine vorderasiatisch anmutende flöte, und sogar schlittenschellen bewegen. gott lässt sich von den rentieren absetzen und versichert, von weit oben: es gibt ihn, den masterplan, fürchtet euch nicht – bevor simpson den sänger in die band herunterfahren lässt, um dort ein ums andere mal überspült und mitbewegt zu werden.

die 32 minuten haben mehrere teile, eine rubato-hymne, die zwischendruch wiederkommt, das eigentliche thema, eine doppelt so schnelle latin-jazz-entwicklung und ein kakofonisches zusammenstürzen im letzten drittel. wie das zusammenhängt und in welche ordnung das fällt, bestimmt einzig und allein (und wahrscheinlich spontan) die stimme des tenorsaxofons, die – in haltung, sound, mix und ansatz – von einer fast überiridischen präsenz ist. wie sanders mit zusätzlichen melodiefragmenten spielt, diese wiederum aufsplittet und explodieren lässt, radikalisiert, hat nichts z.b. mit dem irdischen abrutschen einer ayler-hymne zu tun. bei sanders geht es um mantren, das hat er von sun ra und john coltrane gelernt. sie müssen wiederholt werden und die frage ist nur: wie. mantren sind in musikalische loops übersetzbar. und der weg zum hiphop-sample ist kurz. der trip auf KARMA (sanskrit für: das universum kommt wieder ins gleichgewicht) geht weit darüber hinaus, auch wenn er von jähen montagen lebt und nicht einem romantischen steigerungs-, höhepunkt- und entspannungsprinzip folgt.

es gibt noch ein stück, das taucht auch schon im liveprogrammd es quartetts 1968 auf: colors. da schickt der creator noch einen regenbogen hinterher. so viel sinn fürs schöne muss sein.

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