Konzertimpressionen und -rezensionen

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  • #10579363  | PERMALINK

    soulpope
    "Ever Since The World Ended, I Don`t Get Out As Much"

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    vorgarten

    letzteres würde ich bezweifeln, aber trotz kleiner preise, dem besuch eines star-ensembles und einem noch recht neuen konzertsaal von frank gehry war auch dieses konzert nicht bis auf den letzten platz gefüllt – und das publikum sah jetzt auch nicht anders aus als bei beethovensonaten oder schubertliederabenden. aber: das war ein wahnsinnig tolles konzert (alban berg: vier stücke für klarinette und klavier op. 5 | gérard grisey: vortex temporum für klavier und fünf instrumente | pierre boulez: le marteau sans maître für altstimme und sechs instrumente). nach den berg-stücken war das gehör geschärft, die huster und raschler konnten sich schon mal bemerkbar machen (dann gibt es ja noch die, denen ständig das programm aus den händen fällt), und es gab zwei kammermusikalische schwergewichtswerke, die zwei unterschiedliche wege von messiaen aus gingen und wiederum vierzig jahre auseinander liegen. für mich war es eine sehr persönliche angelegenheit, vortex temporum wiederzuhören, nachdem ich vor 22 jahren (mit 22 jahren!) bei der uraufführung in witten war. damals hat mich diese musik völlig unvorbereitet getroffen und tief bewegt (sie soll ja auch verschiedene schwindelgefühle erzeugen), und es war sofort klar, dass hier ein neuer musikgeschichtlicher akzent gesetzt war (es gab sogar – in witten völlig unüblich – buh-rufe) – umso verrückter, das stück jetzt zwischen berg und boulez eingeklammert zu sehen, als teil des großen kanons – es gibt ja auch schon eine choreografie von ana teresa de kaersmakers dazu, wahrscheinlich taucht es bald in filmen auf. die aufnahme aus witten (ensemble recherche unter kwame ryan) gibt es auf cd, ich kenne sie in- und auswendig. aber es war wirklich toll, was wiederum pintscher daraus gemacht hat. fast mit spätromantischem gestus (oder man hatte den berg noch im ohr), aber mit genauem gespür für die klangfarben und verschmelzenden resonanzen – das maschinell rhythmische ging dabei ein bisschen verloren. und dann gibt es ja noch dieses unglaubliche klaviersolo – ich saß genau drüber und sah dimitri vassilakis völlig begeistert bei der arbeit zu. als er hinterher von pintscher abgeknutscht wurde, zuckte er nur verlegen mit den schultern. was für ein toller pianist. boulez‘ meister ohne hammer danach kam mit ähnlich spannenden klangverschmelzungen aus disparatesten quellen aus der pause, blieb aber rhythmisch so abstrakt, dass es nach grisey fast banal wirkte. trotzdem toll, wie die stimme eingesetzt wird (ich kannte das stück auch schon recht gut vorher). auf jeden fall ein toller kontrast und eine spannende aufgabe für’s gehör. falls jemandes interesse geweckt wurde: deutschlandfunk kultur hat das konzert aufgenommen und strahlt es am übermorgen um kurz nach acht aus (kann man auch problemlos aufnehmen) – https://www.deutschlandfunkkultur.de/programmvorschau.282.de.html?drbm:date=13.09.2018vorgarten

    Liest sich sehr spannend …. werde ergo via Deutschlandfunk nachhören ….

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      "Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit" (K. Valentin)
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    #10579375  | PERMALINK

    vorgarten

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    soulpopeLiest sich sehr spannend …. werde ergo via Deutschlandfunk nachhören ….

    bin sehr gespannt, was du davon hältst. die aufnahme des uraufführungsensembles (ist keine live-aufnahme, sondern kurz vorher/danach in freiburg im studio eingespielt worden, also leider ohne huster und raschler meinerseits) findest du hier.

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    #10579379  | PERMALINK

    soulpope
    "Ever Since The World Ended, I Don`t Get Out As Much"

    Registriert seit: 02.12.2013

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    vorgarten

    soulpopeLiest sich sehr spannend …. werde ergo via Deutschlandfunk nachhören ….

    bin sehr gespannt, was du davon hältst. die aufnahme des uraufführungsensembles (ist keine live-aufnahme, sondern kurz vorher/danach in freiburg im studio eingespielt worden, also leider ohne huster und raschler meinerseits) findest du hier.

    Danke – werde mir das kaufen (allerdings erst ca. in einem Monat, wenn ich wieder aus dem Gartenhaus in meine Wohung mit Postadresse zurückgekehrt bin) ….

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      "Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit" (K. Valentin)
    #10580814  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    @vorgarten Das liest sich tatsächlich super … ich hätte gerne öfter die Gelegenheit, Musik des 20. Jahrhunderts (äh, nicht Mahler, Ravel, Debussy, Prokofiev und Schostakowitsch – aber die alle auch gerne häufiger) im Konzert zu hören … der Tag in Luzern mit Stockhausen sowie Nono und Messiaen war ja wirklich toll, auch das gelegentliche zeitgenössische Programm oder die gelegentliche aktuelle Oper („Lunea“ von Holliger hat sich auf ewig eingebrannt, ich hoffe Kurtágs „Fin de partie“ im November wird ähnlich eindrücklich).

    Die NZZ hat inzwischen auch noch was über das Stockhausen-Wochenende geschrieben – der verhaltene Einstieg in „Gruppen“ fiel mir auch auf, fand ich aber eigentlich ganz passend, denn das Ding entwickelt einen solchen Sog, eine solche Wucht und Vielfalt, dass ein etwas fahler Einstieg ganz gut passt (aber der für Pintscher eingesprungene Jaehyuck Choi war von den drei Dirigenten eindeutig der uncharismatischste, wobei Rattle auf mich auch nicht gerade charismatisch wirkt, Duncan Ward hatte die beste Ausstrahlung, was das betraf, aber Rattle war Zentrum und Angelpunkt und wohl Seele der Aufführung):
    https://www.nzz.ch/feuilleton/was-ist-ein-ton-das-lucerne-festival-stellt-grundfragen-ld.1419523

    Hier gibt es zahlreiche Konzertberichte zu Berlin und auch ein paar zu Luzern (teils wurde natürlich an beiden Orten dasselbe aufgeführt, auch das Programm mit den Berlinern unter Petrenko, das ich hörte, gab es davor natürlich anderswo – u.a. in Berlin selbst – schon), aber leider nicht zu den Konzerten, die vorgarten oder ich besucht haben:
    http://seenandheard-international.com/category/concert-reviews/international-concerts/

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #158 – Piano Jazz 2024 - 19.12.2024 – 20:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #10582002  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    gypsy-tail-wind

    … Sehen konnte ich allerdings nicht viel, auch nicht gegen Ende, als Scimone wohl umkippte, die Leute sich erhoben, ein paar nach vorne rannten – Chor und Orchester brachten die letzten Takte aber zu Ende, alles setzte sich wieder … und danach gab es zwei Zugaben, die der Maestro (*1934) dann aber sitzend dirigierte. Einen Besetzungswechsel gab es auch noch, wenn ich die Ansage, die Scimone zu Beginn ohne Mikrophon und ins unruhige Publikum hinein machte: der Tenor war nicht wie angekündigt Aldo Caputo sondern ein anderer Sänger (Marco irgendwas?) – ich konnte leider im Netz nirgendwo etwas über das Konzert finden, bloss diverse Vorankündigungen.

    Claudio Scimone ist vor über einer Woche, am 6. September, im Alter von 84 Jahren gestorben.

    http://www.repubblica.it/spettacoli/musica/2018/09/06/news/addio_a_claudio_scimone_direttore_e_fondatore_dei_solisti_veneti-205732461/

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    #10584385  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Kammermusik-Soiree mit Jordi Savall und Le Concert des Nations
    Zürich, Tonhalle-Maag – 16.09.2018

    Le Concert des Nations
    Marc Hantaï
    Flöte
    Manfredo Kraemer Violine
    David Plantier Violine
    Balázs Máté Violoncello
    Xavier Puertas Violone
    Pierre Hantaï Cembalo
    Jordi Savall Leitung, Alt- und Bassgambe

    Johann Sebastian Bach „Musikalisches Opfer“ BWV 1079

    Ein seltsames Ding, diese musicalische Opfergabe an einen vierleseits verklärten, flötespielenden (echt jetzt?) König … so richtig warm werde ich damit auch nach dem feinen Konzert gestern nicht. Es war aber enorm lehrreich, das Ding mal im Konzert zu erleben, denn das machte den Effekt des Zusammensetztens, das Wechselspiel der Stimmen, das gegenseitige Zuhören und Antworten, das Schichten der Elemente, der Fugen, sehr handgreiflich.

    Los ging es damit, dass Marc Hantaï nach vorne trat und das kurze „Thema regium“ spielte von dem Schönberg glaubte, es könne eigentlich nur von Carl Philipp Emmanuel Bach stammen. Anlass für das ganze Werk war, dass der „alte Bach“ drei Jahre vor seinem Tod den Besuch bei Friedrich II. nicht mehr zurückweisen konnte – sein Sohn Carl Philipp Emmanuel Bach, einer der eminenten Vertreter der neuen „galanten Stils“, war an dessen Hof tätig. Bach senior mit seinem religiösen Verständnis von Musik stammte aus einer vergangenen Epoche und die Begegnung mit Friedrich II. kann wohl ebenso wie jene mit CPE als die eines Generationenkonflikts gelesen werden. Die Geschichte dazu, inklusive der Ansicht Schönbergs, ist bekannt (Quelle des folgenden Zitats):

    What happened the evening they met is, thanks to contemporary reports, fairly clear. Frederick gave Bach a complex theme of 21 notes and asked him to use it as the basis of an extemporaneous three-part fugue. It was a fiendishly difficult subject for development in counterpoint – so difficult, in fact, that Arnold Schoenberg, the greatest practitioner of counterpoint in the 20th century, wrote an article in 1950 that set forth the theory that the „Royal Theme“ could only have been devised by Bach’s son CPE, the only musician present with enough understanding of counterpoint to trump his father’s.

    Dann präsentierte Pierre Hantaï am Cembalo das dreistimmig Ricercar, das angeblich eine Art Notation aus dem Gedächtnis der Improvisation ist, die Bach vor dem König spielte. Dessen Aufforderung, danach eine sechsstimmige Fuge zu improvisieren, schlug Bach dann aus – und machte sich an die Komposition des ganzen Werkes, das gespickt ist mit Seitenhieben gegen den König und die von ihm verkörperte Ablehnung organisierter Religion (wofür Bach ja während der längsten Zeit seiner Karriere stand) und der entsprechenden musikalischen Dogmen, Regelungen, Werkzeugen. Wie Bach in die Werkzeugkiste greift, wird im zitierten und verlinkten Artikel weiter vertieft.

    Im Konzert entfaltet sich das Werk allmählich, nimmt immer neue Formen an, das königliche Thema blitzt immer wieder auf. Die beiden Violinen, die Gambe, das Barockcello kommen solistisch zum Zug. In der Mitte stand die Triosonate für Flöte, Violine und Basso continuo. Geschrieben wurde sie wohl mit Gedanken, dass König sie selbst spielen würde – allerdings wählte Bach die Form eine „sonata da chiesa“, die wiederum von der neuen Generation als hoffnungslos antiquiert betrachtet wurde. Im gestrigen Konzert war das der Moment, an dem am ehesten die Grenze deutlich wurde, die der heutige Konzertbetrieb einem Ensemble mit alten Instrumenten aufzeigt: die Austarierung stimmte nicht, die Flöte war zu leise. Und das im transparenten Saal der Tonhalle-Maag. Im grossen Tonhalle-Saal wäre das Konzert sowieso ein klangliches Debakel gewesen, ob der kleine Saal der Tonhalle besser gewesen wäre, wage ich ebenfalls zu bezweifeln.

    Es folgte die zweite Hälfte der Kanons, wie schon davor ergab sich immer wieder ein Wechseln zwischen Cembalo solo und dem Ensemble, das in verschiedenen Besetzungen aufspielte – die Violone kam nur selten zum Einsatz, das Cello setzte auch öfter aus, manchmal hatte auch die zweite Geige Pause, Savall wechselte zwischen der sehr kleinen Alt-Gambe und der Bassgambe, die in etwa die Grösse eines Cellos hat. Gemeinsame Stücke von Streichern und Flöte sowie Cembalo gab es nur wenige, aber die dauernden Besetzungswechseln sorgten dafür, dass das Geschehen lebendig blieb.

    Am Ende gab es drei Zugaben, zunächst zwei Sätz aus irgendeinem Werk (aus einem Flötenkonzert?), bei dem ich beim zweiten, rasanten Satz unweigerlich an Jethro Tull denken musste … alberne Musik (in der Reihe neben mir stapfte sogar jemand mit dem Fuss dazu), die überhaupt nicht passen wollte. Danach folgte ein Stück aus den Festivitäten zur Geburt des späteren Louis XIII., das sehr schön war (und mich sofort denken liess: ein Konzert mit französischer Musik hätte mich mit diesem Ensemble wesentlich mehr gefesselt), und als Rausschmeisser einen Marsch (von Marais? Savall sprach Deutsch, etwas leise leider), der am Ende sogar noch eine kleine Temposteigerung beinhaltete – aber dann doch viel zu gesittet war, um als ordentliches Trinklied durchzugehen.

    Ein paar Kritikpunkte gibt es schon: eben, erstmal die Balance, wann immer die Flöte dabei war (das wurde in der Zugabe auch wieder deutlich). Dann fand ich den Ton des ersten Geigers (Manfredo Kramer) deutlich weniger ansprechend als den des zweiten (David Plantier). Kramers Ton war manchmal so brüchig, dass er aussetzte, auch das Vibrato vielleicht eine Spur zu stark. Savall selbst glänzte ebenfalls nicht mit dem schönsten Ton, aber dazu muss man bei ihm wohl einfach zu den älteren Aufnahmen greifen. Sehr beeindruckend war allerdings Pierre Hantaï – gerade im Wechsel mit dem Kammerensemble wurde immer wieder deutlich, welchen Klangreichtum das Cembalo zu bieten hat, in den Händen von Hantaï wird es wahrlich zu einem ganzen Ensemble von Instrumenten!

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #158 – Piano Jazz 2024 - 19.12.2024 – 20:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #10584527  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Hier ist jetzt auch noch eine ausführliche Rezension zu Aimard mit Stockhausens Klavierstücken I-XI erschienen, zum Auftritt in Berlin, nicht jenem, den ich in Luzern gehört habe – habe sie noch nicht gelesen:
    http://seenandheard-international.com/2018/09/the-performance-of-a-lifetime-pierre-laurent-aimards-mastery-in-stockhausen/#more-81851

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    #10586585  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Und hier auch noch ein weiterer Bericht zum Konzert mit Savall:
    http://seenandheard-international.com/2018/09/love-of-form-is-still-love-concert-des-nations-elucidates-bachs-musikalisches-opfer/

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    #10590989  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Zürich, Tonhalle-Maag – 20.09.2018
     
    Tonhalle-Orchester Zürich
    Bernard Haitink
    Leitung
    Till Fellner Klavier
     
    Wolfgang Amadeus Mozart Klavierkonzert Nr. 22 Es-Dur KV 482

    Anton Bruckner Sinfonie Nr. 7 E-Dur
     
    Doch noch ein paar Sätze nachgereicht zu einem sehr feinen Konzert. Zwei ähnliche Doppelprogramme leitete Haitink vor etwas weniter als zwei Jahren bzw. Ende letzten Jahres schon. Noch in der alten Tonhalle spielte András Schiff das Krönugnskonzert von Beethoven und nach der Pause erklang Bruckner Neunte (ich schrieb darüber ein paar ungelenke Sätze), letzten Dezember gab Maria João Pires anscheinend ihr europäisches Abschiedskonzert mit Mozarts wunderbarem Konzert B-Dur KV 595 und danach folgte Bruckners Vierte (auch darüber habe ich berichtet).

    Ganz so prominent war die heurige Besetzung mit Till Fellner natürlich nicht, aber im Publikum sassen viele junge Leute, die wohl in erster Linie seinetwegen gekommen waren – er ist schon seit einigen Jahren Dozent an der hiesigen Musikhochschule. KV 482 also, eines der schönsten von Mozarts Klavierkonzerten, letzte Saison etwas unglücklich durch Kit Armstrong mit der Camerata Bern aufgeführt (klick). Strukturelle Probleme – dass vor lauter Detailliebe der Blick auf das Ganze getrübt wird – gibt es mit Haitink natürlich nicht. Fellner spielte sehr schön, mit einer manchmal fast stupenden Leichtigkeit, sehr unaufgeregt, relativ flach, aber mit zartem Ton und glasklarem Anschlag. Da und dort fächerte er die Rhythmen etwas auf, es gab im Zusammenspiel mit dem Orchester die eine oder andere Unsauberkeit, aber alle waren bei der Sache und am Ende schien Fellner geradezu gelöst aufzuspielen. Ich würde nicht sagen, dass das eine grosse Aufführung war, es war wohl eher eine darstellende, zurückhaltend, die Musik für sich sprechen lassend – was bei Mozart aber oft, finde ich, sehr gut kommt. Und so war es auch mit Fellner und Haitink.

    Nach der Pause wuchs das Orchester stark, und nun sassen sie alle auf den Stuhlkanten, reagierten wie üblich exakt auf Haitinks minimales Dirigat – ein eingespieltes Team bzw. ein Orchester, das diesen Dirigenten, die Zusammenarbeit mit ihm, ganz offensichtlich schätzt. Was ja auf Gegenseitigkeit beruht. Und das zeigt wiederum auch, wie gut das Tonhalle-Orchester nach wie vor sein kann, wenn denn alles passt. Und ja, an dem Abend, dem zweiten und letzten mit diesem Programm, passte auch wirklich alles. Mich jedoch überforderte die Symphonie ein wenig, die schon im zweiten Satz ihren Höhepunkt findet und dann noch so lange dauert. Ich bin wohl gerade nicht in der richtigen Laune für solche riesigen Trümmer (habe auch zuhause seit Monaten keinen Bruckner mehr gehört, überhaupt fast nichts Symphonisches). Will sagen, die vermutlich nahezu perfekte Aufführung, die in Sachen Tempo, Dynamik, Freilegen von Strukturen und Durchblick durch das Ganze, ohne Details zu verwischen, nichts zu wünschen übrig liess, vermochte mich eher wegzupusten als zu packen.

    Ich kenne das ja längst von Werken dieses Kalibers, das war immerhin die vierte Bruckner-Konzerterfahrung (Welser-Möst dirigierte letzten November eine sehr tolle Aufführung der Achten, d.h. es „fehlen“ im Konzert noch Nr. 5 und Nr. 6, auf Aufführungen von Nr. 1-3 bin ich nicht gerade erpicht, ich finde auch Nr. 4 weiterhin, Konzerterlebnis mit Haitink hin oder her, nicht wahnsinnig toll) – und etwas Wagner gab es letzte Saison ja auch (einen Besuch der Wiederaufnahme des „Tannhäuser“ in der gerade beginnenden Saison habe ich nicht vor). Aber egal, es war ein eindrücklicher Abend, der stärker als Pires/Bruckner 4, ähnlich wie Schiff/Bruckner 9, auch an der Grenze zur Überforderung der Aufnahmekapazität vorbeischrammte – aber so scheint Haitink es zu mögen und andere Konzerte sind mir manchmal auch etwas zu kurz, ich will also nicht klagen (in dem Fall war es aber sinnvoll, wie Welser-Möst es mit Bruckner 8 tat, nur ein einziges Werk zu spielen – was überdies Zinman mit Mahler 6 und Rattle mit Mahler 9 auch so hielten).

    Ein Eindruck noch zum Schluss, auch wenn er vielleicht dämlich ist: mir kam die Musik Bruckners in ihrer Schroffheit und zugleich Reinheit recht deutlich wie Alpenmusik, Musik der Berge vor – es drängten sich Bilder auf von schroffen Klippen und Wasserfällen, von Auen und kleinen Seen mit diesem unglaublich klaren Wasser … klar ist das keine Programmusik, aber eben: die Bilder waren irgendwann einfach da, gerade auch in den Kontrasten zwischen den fast schon lüpfigen melodischen Momenten und dann diesen brutalen Einbrüchen, die mit gewaltiger Kraft über die sanfteren Passagen hineinbrechen, sie (und mich) überrollen.

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    gypsy-tail-wind
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    Die NZZ hat auch berichtet (wohl vom ersten Abend):
    https://www.nzz.ch/feuilleton/tonhalle-wenn-aura-und-altersweisheit-zusammenkommen-ld.1421743

    Und auch auf Seen and Heard International gibt es einen Bericht (vom zweiten Abend):
    http://seenandheard-international.com/2018/09/till-fellners-authoritative-mozart-and-ageless-bernard-haitinks-lucid-bruckner/

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    gypsy-tail-wind
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    Liederabend Anna Stéphany – Zürich, Opernhaus – 24.09.2018
     
    Anna Stéphany Mezzosopran
    Sholto Kynoch Klavier
     
    «Nature’s Songbook»
     
    ROBERT SCHUMANN
    Röselein, Röselein

    JOHANNES BRAHMS
    Nachtigallen Schwingen
    An die Nachtigall
    Lerchengesang

    ROBERT SCHUMANN
    Die Blume der Ergebung
    Aus den östlichen Rosen

    JOHANNES BRAHMS
    Juchhe!

    CLAUDE DEBUSSY
    Trois Chansons de Bilitis:
    1. La Flûte de Pan
    2. La Chevelure
    3. Le Tombeau des Naïades

    JEAN SIBELIUS
    Bellis (Klavier solo)
    Marssnörn
    Campanula (Klavier solo)
    Demanten pa marssnörn
    Iris (Klavier solo)
    Svarta rosor
     

     
    MAURICE RAVEL
    Histoires naturelles:
    1. Le Paon
    2. Le Grillon
    3. Le Cygne
    4. Le Martin-pêcheur
    5. La Pintade

    GABRIEL FAURÉ
    Le Papillon et la fleur

    GEORGES BIZET
    La Coccinelle

    CHARLES GOUNOD
    Au Rossignol
    Envoi des fleurs

    CAMILLE SAINT-SAËNS
    La Cigale et la fourmi
     

     
    Encore:

    PERCY GRAINGER
    The Spring of Thyme

    WOLFGANG AMADEUS MOZART
    Voi che sapete (Arietta des Cherubino aus „Le nozze di Figaro“, KV 492)
     
    Am Sonntag begann hier auch die Saison in der Oper, und ich freute mich sehr auf meinen heutigen Auftakt, einen Liederabend mit der englisch-französischen Mezzo-Sopranistin Anna Stéphany, die von 2012 bis 2015 zum Ensemble der Oper gehörte. Ich sah sie in der Saison 2016/17 als Charlotte in der phantastischen Produktion von Massnetes „Werther“ und mochte auch ihre letztes Jahr erschienene CD „Black Is the Colour“ (alpha) mit Berios „Folk Songs“, Ravels „Histoires Naturelles“ und „Psyché“ von Falla. Das Labyrinth Ensemble, von dem sie auf der CD begleitet wird, besteht grossteils aus Musikerinnen und Musikern, die zum Orchester der Oper Zürich gehören. Die Lieder von Ravel (auf der CD im Arrangement von Arthur Lavandier zu hören) standen heute Abend auf dem Programm, vom Rest hatte ich keine Ahnung, nur gesehen, dass es Schumann, Brahms und mehr geben würde. Begleitet wurde Stéphany vom Pianisten Sholto Kynoch.

    Los ging es mit Schumann und Brahms, wobei mir die Brahms-Lieder im direkten Vergleich etwas harmlos vorkamen – durchaus auch in ihrer Machart (und mit den läppischen Texten von, der Reihe nach, Hoffmann von Fallersleben, Voss, Candidus und Reinick). Schumanns Lieder hingegen faszinieren mich immer wieder sehr, da muss ich unbedingt mal tiefer schürfen. Die Lieder zwischen dem Brahms, auf Texte von Rückert, gefielen mir sehr, aber auch das erste (auf einen Text von Schöpff) ist toll. Das dritte, „Aus den östlichen Rosen“, klang fast schon ein wenig wie ein Show-Song, wie man ihn aus dem frühen 20. Jahrhundert (und auch dem mittleren) kennt.

    Zum Höhepunkt der ersten Konzerthälfte wurde dann aber der Zyklus von Debussy. Der sprechende Gestus, die flache Sprachmelodie, die eher einem Sing-Sang als einem Singen gleicht, dabei aber stets eine enorm nuancierte Gestaltung verlangt – faszinierend! Stéphanys Diktion und Verständlichkeit auf Deutsch ist sehr gut, auf Französisch ist sie wohl nahezu perfekt. Der Sibelius-Block zum Abschied in die Pause passte ganz gut, Kynoch kriegte hier auch seine Features und gefiel in ihnen so gut wie in der Begleitung, die Sprache klang manchmal so, als würde man vom Deutschen her die Hälfte verstehen, aber das war dann oft doch nur ein Trugschluss.

    Nach der Pause sollte das Programm beim Französischen bleiben – und der Ravel-Zyklus wurde gleich zum nächsten Höhepunkt. Hier wird viel pointierter gesungen als bei Debussy, aber die Nähe zum gesprochenen Wort ist immer noch gegeben, die Verzierungen, das Vibrato etc. viel zurückhaltender eingesetzt als in den deutschen Liedern. Die Texte über den Pfau, die Grille, den Schwan, den Eisvogel und das Perlhuhn aus der Feder von Jules Renard sind schon für sich genommen ziemlich witzig. Gesungen von einer begnadeten Actrice, die den verschiedenen Sprechern in den Texten obendrein wo nötig auch noch verschiedene stimmliche Schattierungen gibt, ist das ein köstliches Vergnügen. Die zwei Hugo-Vertonungen von Fauré und Bizet waren ebenso vergnüglich, und hier wurde die Nähe zum Chanson und eben auch allgemein zum populären Lied des 20. Jahrhunderts überdeutlich. Das zog sich durch die zwei Lieder von Gounod (auf Texte von Lamartine und Augier) und den krönenden Abschluss von Saint-Saëns (auf die Fabel von La Fontaine) weiter. Da verläuft eine direkte Linie bis hin zu Jacques Brel. Jednefalls war diese zweite Konzerthälfte durchs Band weg phantastisch, auch in der Agogik, dem Zusammenspiel mit Kynoch – da passte einfach alles.

    Obwohl das Parkett höchstens halbvoll und die Ränge bis auf die vordersten Reihen ziemlich leer waren, gab es am Ende langen Applaus und ohne Zugaben liess man Stéphany nicht gehen. Sie sang als erstes Graingers Volskliedbearbeitung „The Spring of Thyme“, und nach ein paar weiteren Verbeugungen und Ab- und Aufgängen schliesslich noch die Arietta des Cherubino aus Mozarts Figaro, „Voi che sapete“ – natürlich hatte Stéphany in ihrer Zeit als Ensemblemitglied die Rolle auch in Zürich gesungen (leider ohne dass ich sie gesehen hätte). Ein rundum gelungener Abend jedenfalls, dem man ein deutlich grösseres Publikum gewünscht hätte.

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    Vicenza, Chiesa di San Michele ai Servi – 27.09.2018

    Franz Hauk, Orgel

    BACH: Toccata und Fuge d-Moll BWV 565
    KERLL: Capriccio sopra il Cucù
    STORACE: Ballo della Battaglia
    PASQUINI: Toccata con lo scherzo di Cuccò
    PACHELBEL: Fuga C-Dur („Nachtigall“)
    MOZART: Fantasia f-Moll KV 608
    BACH: Choralvorspiel „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ BWV 645
    BACH: Choralvorspiel „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ BWV 647
    LEFÉBURE-WÉLY: Sortie Es-Dur

    Zum Auftakt im Urlaub in Norditalien gab es im Rahmen des XX: Festival Concertistico Internazionale – Organi storici del Vicentino, das vom 9. August bus zum 16. Dezember an diversen Orten stattfindet, ein etwas über eine Stunde dauerndes Orgelkonzert in einer der zahlreichen Kirchen von Vicenza mit dem deutschen Organisten Franz Hauk. Wie der Liste der gespielten Stücke (es folgten noch ein oder zwei Zugaben) unschwer zu entnehmen ist, war es wenigstens teils ein ziemlich tierisches Programm mit eher leichteren Stücken von ordentlichem Unterhaltungswert. Eine feine Sache, doch ist Orgelmusik insgesamt mir noch immer sehr wenig vertraut, so dass ich eigentlich überhaupt nichts weiter sagen kann. Das erste von gleich zwei Konzerten, in deren Genuss ich völlig ungeplant kam.

    Matinée al Chiericati – Vicenza, Palazzo Chiericati – 30.09.2018

    Archi dell’Orchestra del Teatro Olimpico:
    Filippo Lama (Einstudierung), Rececca Innocenti
    Violine
    Nicola Sangaletti Viola
    Leonardo Duca Cello
    Fabio Maini Klarinette

    SCHUBERT: Streichtrio Nr. 1 B-Dur
    BRAHMS: Klarinettenquintett h-Moll Op. 115

    Am Sonntagmorgen um 11, dem Tag, an dem die Reise mich dann schon weiter nach Treviso führte, fand im Salone d’Onore, dem grossen Saal im ersten Stock des Palazzo Chiericati, eins der Matinée-Konzerte statt, die das Orchester des nebenan liegenden Teatro Olimpico veranstaltet. Das Theater ebenso wie der Palazzo stammen von Palladio, dem vermutlich wichtigsten Sohn der Stadt. Der Palazzo stand einst direkt neben der Anlegestelle der Schiffe, die auf dem damals noch schiffbaren Bacchiglione von Chiogga und/oder mit Abzweigung in den Naviglio del Brenta von Venedig her kamen. Der Palazzo mit der repräsentativen Fassade und den offenen Loggien, von denen aus das Treiben an der Anlegestelle beobachtet werden konnte, sollte das erste sein, was bei der Ankunft von Vicenza erblickt wird.

    Filippo Lama, der beim Konzert die (erste) Violine spielte, wirkt beim Orchester als „Tutor“, was immer das genau heisst. Jedenfalls studierte er mit den anderen das unvollendete Streichtrio von Schubert und das grosse Klarinettenquintett von Brahms ein. Auch das ein kurzes Konzert, sehr unterhaltsam, mit viel Gusto gespielt vor dem wie üblich eher unruhigen Publikum, das in raschelnden Jacken da sass (es waren ja nur noch 20-25 Grad, da braucht man halt schon die Dauenjacke) und hustete. Dennoch auch das schön, vor allem wegen dem feinen Stück von Brahms, das ich im Konzert vor vielen Jahren mal gehört habe, seither aber auch auf Aufnahmen nicht – muss ich bald wieder nachholen. Bei Schubert war der zweite Satz, das (unvollendete?) Andante, ziemlich toll. Das Orchester wird übrigens vom Pianisten Alexander Lonquich geleitet, den ich schätze (z.B. Mozart mit Frank Peter Zimmermann oder auch – im Konzert letzte Saison – die fünf Cello-Sonaten von Beethoven mit Nicolas Altstaedt).

    An den nächsten Stationen, Treviso und Udine, wo ich nur drei bzw. zwei Nächte war, gab es wie in Vicenza einiges zu sehen, Udine gefiel mir insgesamt sehr gut (Vicenza ist zu touristisch, Treviso zu provininziell, aber beides sind Städte, in denen man einiges anschauen kann, in Treviso gab es z.B. in der Casa dei Carrarresi gerade eine hochkarätige Ausstellung mit Malerei des Cinquecento „Da Tiziano a Van Dyck“ und im obersten Teil des Gebäudes zudem eine tolle Fotoausstellung mit Hundebildern des Magnum-Photographen Elliot Erwitt. Ein Besuch ist auch das Museo Civico Lucio Ballo wert, das Kunst aus dem 20. Jahrhundert und vornehmlich aus der Gegend zeigt (einigen Namen begegnete ich dann in Udine in der Casa Cavazzini noch einmal, wo es zudem gerade eine ziemlich tolle Ausstellung mit Kunst – Installationen, Videos – aus Korea zu sehen gab). In Udine sollte man natürlich die Tiepolo-Galerie im Palazzo Patriarcale nicht verpassen, aber generell gefiel mir dort die Stimmung sehr gut. In Treviso fand ich übrigens den einzigen wirklich lohnenswerten Musikladen der Reise, er heisst Mezzoforte und ich deckte mich mit ein paar Jazz-CDs und ein klein wenig Klassik ein (die Läden, die ich in Vicenza, Udine und Triest fand, waren entweder enttäuschend oder nicht für mich – ausser natürlich die Filiale von La Feltrinelli in Triest, die Läden sind ja eigentlich immer gut).

    Triest, Teatro Lirico Giuseppe Verdi – 6.10.2018

    Orchestra della Fondazione Teatro Lirico Giuseppe Verdi di Trieste
    Lera Auerbach
    Klavier & Leitung

    HAYDN: Ouvertüre „L’isola disabitata“
    MOZART: Klavierkonzert Nr. 20 d-Moll KV 466 (Kadenzen: Auerbach)

    AUERBACH: Eterniday (Homage to W.A. Mozart)
    HAYDN: Symphonie Nr. 49 f-Moll („La Passione“)

    In Triest war ich dann fünf volle Tage (sechs Nächte) und das war eine gute Entscheidung. Einerseits bietet die völlig untouristische Stadt ziemlich viel (dass die ganze Uferpromenade wegen der stets am zweiten Wochenende im Oktober stattfindenden Regatta La Barcolana völlig verstellt war, hätte nicht sein müssen, war am Ende aber auch nicht weiter schlimm), andererseits war es nach den drei ziemlich provinziellen Städten eine gute Abwechslung. Am Samstagabend, meinem zweiten Abend dort, ging es ins grosse Theater (die Oper, von der Fassade abgesehen nach Plänen vom gleichen Architekten wie La Fenice in Venedig), wo die Pianistin Lera Auerbach mit dem Orchester des Hauses auftrat. Das Programm wurde schon am Freitag geboten, es bot einen etwas seltsamen Mix von Werken der Wiener Klassik und Auerbach selbst, deren „Eterniday“ nach der Pause erklang, ein ca. zwanzigminütiges Werk für ein Streichquartett (2 v, vla, vc, b), Celesta (glaub ich) und grosse Trommel sowie Streicher. In der Klangsprache bewegt sich das wohl irgendwo zwischen Schostakowitsch und stilleren zentral- und osteuropäischen Klängen (Kancheli, Pärt, was weiss ich). Auerbachs Auftreten als Dirigentin fand ich nicht sehr ansprechend, aber das war unerheblich, denn das Orchester schien mir sehr ordentlich, gerade in der feinen Haynd-Symphonie zum Abschluss, und der grosse Brocken im ersten Teil stellte Auerbach auch als Pianistin vor. Da ging es im feinen d-Moll-Konzert Mozarts viel flamboyanter zu, mit grösseren Gesten und mehr Bewegung als kurz davor hier in Zürich mit Till Fellner/Bernard Haitink, die KV 482 aufführten (s.o.). Der Clou – oder die Katastrophe? – waren aber Auerbachs zwei eigene Kadenzen, ausufernd, die harmonische Sprache der Wiener Klassik weit hinter sich lassend, vermutlich doppelt so ambitioniert und pompös als die Kadenzen von Busoni, die ich wissentlich nie gehört habe (gibt es Aufnahmen, in denen sie erklingen?) … sie waren ermüdend (die zweite weit mehr als die erste, obwohl sie kürzer war – hatte der Effekt des Neuen sich da schon etwas abgenutzt?), sie waren unpassend, aber schlecht waren sie nicht, und sei es, weil sie zum Denken anregten. Am Ende fragte ich mich, ob Auerbach vielleicht nicht – analog zu ihrem Arrangement von Schostakowitschs 24 Préludes Op. 34 für Klavier und Bratsche – sogar das ganze Konzert besser komplett neu arrangiert, in ihre eigene Tonsprache übertragen hätte? Blasphemie? Warum denn, ein unverkrampfter Umgang mit den kanonischen Werken kann doch nicht schaden, gerade wenn dabei etwas Neues entsteht, eine Fortschreibung vielleicht. Das eigene Werk von Auerbach gefiel mir zudem ziemlich gut – ich habe aber leider keine Ahnung, ob es über ihre ECM-CD von letztem Jahr („Arcanum“, mit Kim Kashkashian als Partnerin in der erwähnten Bearbeitung von Schostakowitschs Op. 34 sowie in Auerbachs Sonate für Viola und Klavier, die den Titel „Arcanum“ trägt) hinaus schon Aufnahmen von bzw. mit ihr gibt.

    Triest, Ridotto del Teatro Verdi (Sala „Victor de Sabata“) – 8.10.2018

    Giuseppe Albanese Klavier

    CLAUDE DEBUSSY
    5 Préludes: Des Pas sur la neige, Brouillard, La Terrasse des audiences du clair de lune, La Sérénade interrompue, Ondine
    aus Images (1er série): Reflets dans l’eau
    2 Préludes: Feux d’artifice, Ce qu’a vu le vent d’Ouest

    Suite bergamasque
    Pour le piano
    L’Isle joyeuse

    Encores: Ravel: La Valse + unbekanntes Stück

    Zwei Tage später spielte der Pianist Giuseppe Albanese (der einen Posten am Konservatorium von Triest innehat, und wie bei Fellner in Zürich sassen wohl zahlreiche Studenten im Publikum) im Rahmen des 17. Festival Pianistico der Associazione Chamber Music Trieste ein ganz der Klaviermusik Claude Debussy gewidmetes Rezital. Ich tue mich – von Marcelle Meyers Aufnahmen und wenigen andern abgesehen – mit der Klaviermusik Debussys immer noch relativ schwer. Sie scheint mir oft flach, emotionslos, sie zieht an mir vorüber. Als ich das Konzert entdeckte, dachte ich, dass das Live-Erlebnis vielleicht neue Zugänge öffnen könnte – und ich hoffe, dass dem so ist, denn das Konzert war sehr toll. Im ersten Programmblock wurde mir bald klar, wie physisch die Musik ist, allein schon wegen ihrer Schwierigkeit. Leichter verständlich fand ich auf jeden Fall den zweiten Konzertteil mit den beiden mehrteiligen Werken, in denen Debussy sich auf die Cembalo-Musik von Couperin oder Rameau bezieht, die mir bisher viel näher ist als Debussys Klaviermusik. Auch hier öffnete das Konzert mir die Augen und Ohren. Ob ich, wieder daheim beim CD-Regal, daran anknüpfen kann, weiss ich noch nicht, aber ich werde hoffentlich bald einmal die Zeit und Laune haben, es auszuprobieren. Das Ende des Konzertes mit der Toccata und der noch virtuoseren „Isle“ fand ich dann ziemlich irre. Und dass er dann gleich noch Ravels „La Valse“ nachlegte, obwohl er sich längst alle Finger kreuz und quer gebrochen haben musste … Albanese war aber an dem Punkt völlig entspannt, er hatte sein Programm – soweit ich das hörte ohne Schnitzer – überstanden und war wohl darüber selbst nicht unglücklich. Toll!

    Zürich, Tonhalle-Maag – 12.10.2018

    Tonhalle-Orchester Zürich
    Paavo Järvi
    Leitung
    Khatia Buniatishvili Klavier

    DEBUSSY: Prélude à l’après-midi d’un faune
    RACHMANINOV: Klavierkonzert Nr. 2 c-Moll Op. 18

    BRAHMS: Symphonie Nr. 2 D-Dur Op. 73

    Zugaben: BRAHMS: Ungarische Tänze Nr. 1 und Nr. 3

    Kaum zurück – ich fuhr am Donnerstag vor knapp zwei Wochen heim, die Fahrt über Mailand ist fast tagesfüllend, aber das (Zug-)Fahren gehört zum Reisen mit, Fliegen ist mir immer weniger geheuer und hilft der Welt auch herzlich wenig – ging es am Freitagabend in die Tonhalle. Der Grund für die frühe Rückkehr bzw. die zweieinhalb Wochen Urlaub, um gut zwei Wochen zu verreisen, war eben, dass ich den Quasi-Einstand von Paavo Järvi miterleben wollte, der seinen Posten als Chefdirigent des Tonhalle-Orchesters zwar erst in einem Jahr antritt, aber diese Saison schon zweimal da ist und mit den zwei Programmen, die am an diesen Tagen aufgeführt wurden (das erste besteht aus Liszts erstem Klavierkonzert mit der Solistin Zee Zee und Mahlers fünfter Symphonie – das habe ich leider verpasst, wobei mich da nur Mahler wirklich interessiert hätte) geht er gerade mit dem Orchester auf eine grössere Asien-Tournee.

    Los ging es mit Debussy – und sofort wurde deutlich, wie klar und konturiert es hier zur Sache geht. Mit Elan ging es zur Sache, mit klaren Konturen, aber auch in enger Verzahnung mit dem Orchester – das wirkte keinesfalls so, als gebe hier nur einer den Ton an (wie man manchmal über Järvi liest). Die Rezension in der NZZ, mit der ich nicht einverstanden bin, ist mit „Muskulöse Zukunft“ überschrieben. Dann stiess Khatia Buniatishvili dazu, Rach 2 – Edelkitsch oder grosses Drama? Spielt es eine Rolle? Es gab tatsächlich, wie John Rhodes schreibt, ein paar Unstimmigkeiten im Zusammenspiel, die an der emotionsgeladenen Herangehensweise von Buniatishvili gelegen haben mögen, die sich auch hier wieder völlig der Musik hingab. Das glitzerte, atmete, bebte – und beeindruckte schon sehr. Als Zugabe spielte Buniatishvili dann, wenn mich nicht alles täuscht, dann Bachs Arie „Schafe können sicher weiden“ – ein raffinierter Schachzug, denn das Stück klang nach dem knalligen Rachmaninov fast wie ein Schlaflied und zeigte, wie zart Buniatishvili auch zur Sache gehen kann.

    Nach der Pause gab es dann – schon wieder, dachte ich – die zweite Symphonie von Brahms, über die man da und dort liest, sie sei seine beliebteste. Bei mir ist sie das gerade nicht, die Hauptthemen des ersten Satzes sprechen nicht zu mir. Ich hörte die Symphonie schon im letzten Winter mit David Zinman am Pult seines alten Orchesters, wo ich eben die manchmal fehlende Präzision auch wahrnahm – was wohl an Zinmans nicht mehr so präziser Schlagtechnik lag. Bei Järvi nichts davon, die Symphonie kam kantig daher, mit klaren Konturen aber auch Liebe zum Details, er holte und bremste die einzelnen Stimmen, das Orchester folgte ihm, brachte, was er wollte. Die Aufstellung übrigens – und das lässt für die Zukunft hoffen – in der alten Stereo-Geigen-Formation, in der die Celli, die mich in Zürich immer wieder sehr stark dünken, das Orchester aus der Mitte hinaus stützen können, statt dass die vorne rechts am Rand des Klangkörpers sitzen. Jedenfalls dünkte mich diese Interpretation insgesamt dann doch ziemlich toll, auch wenn die Symphonie nach wie vor keine ist, die mir besonders nahe wäre.

    Sowohl die NZZ wie auch Rhodes auf Seen and Heard International berichteten auch über das erste Konzert von Järvi mit der Fünften von Mahler. Peter Hagmann schrieb nur über das erste Programm. Fazit ist: auch da, wo es kritische Töne gibt, überwiegt bei weitem die Hoffnung – es ist allenthalben die Rede vom Aufbruch. Und so empfinde ich das ja auch – ich war ja Ende 2016 bei Järvis Debut am Pult des Tonhalle-Orchesters und fand schon damals: Das ist genau der Mann, den das Orchester braucht. Ich freue mich sehr darauf, das in den kommenden Jahren zu beobachten – und ich freue mich auf seinen zweiten Gastauftritt später in der gerade gestarteten Saison, bei dem auch die diesjährige artist in residence mitwirken wird, die Geigerin Janine Jansen, die ich noch nie im Konzert gehört habe.

    Neue Konzertreihe Zürich – Zürich, Tonhalle-Maag – 22.10.2018

    Arcadi Volodos Klavier

    FRANZ SCHUBERT
    Sonate E-Dur D 157
    Six Moments musicaux D 780

    SERGEI RACHMANINOV
    Préludes cis-Moll op. 3/2, Ges-Dur op. 23/10 & h-Moll op. 32/10
    „Zdes‘ choroso“ (Wie schön dieser Platz) op. 21/7 (Arr. A. Volodos)
    Étude-Tableaux c-Moll op. 33/3

    ALEXANDER SCRIABIN
    Mazurka Nr. 3 e-Moll op. 25/3, aus Neuf Mazurkas (1899)
    Caresse dansée op. 57/2
    Enigme op. 52/2
    Flammes sombres op. 73/2
    Poème op. 71/2
    Vers la flamme op. 72

    Ich hatte im Hörthread schon ein paar schnelle Kommentare geschrieben, weil ich ja wusste, dass soulpope, der dasselbe Programm demnächst auch hören wird, auf Eindrücke gespannt war. Müde war ich, verdammt müde – was schade war, aber Volodos war gut genug, als dass ich nicht abdriftete. Schubert in der ersten Konzerthälfte – ich nannte es im Hörthread „russischen Schubert“ und bleibe dabei, obwohl ich das mit Worten schwer fassen kann. Schroff war das nicht unbedingt, aber mit grosser Breite zwischen lauten, intensiven Passagen und sehr leisen, zerbrechlichen. Was ich auch schon erwähnte, ist die unglaubliche Anschlagkultur von Volodos: auch die lautesten Passagen sind makellos gespielt und im nur noch gehauchten Pianissimo ist ebenfalls alles deutlich artikuliert, bei der grössten Zartheit, auch wenn alles nur noch vorbeizuhuschen scheint: nichts wird verwischt, alles ist da, man kann die Töne fast mit den Händen greifen.

    Nach der Pause ging es dann wirklich russisch weiter und – auch das erwähnte ich schon – ich merkte, dass mir zumal bei den kleinen Stücken Rachmaninov bisher in aller Regel näher ist als Skrjabin, auch wenn ich von letzterem schon längst über die zehn Sonaten hinaus fasziniert bin. Seine Stücke erschliessen sich mir jedenfalls noch nicht so unmittelbar, wie ich bei Rachmaninov den Eindruck hatte. War mir in beiden Konzerthälften vielleicht am besten gefiel, war gerade die Zartheit, die bei Schubert aber auch in Stücken der zweiten Konzerthälfte fast schon unerträglich wurde. So zerdehnt schienen die hingehauchten Töne, dass es kaum auszuhalten war, wie ganz feines Glas, das jeden Moment zu bersten droht, aber dann eben doch nicht zerbricht.

    Was bei dem Konzert, dem ich nicht die Höchstnote geben würde – wegen einer irgendwie doch nicht vollständig gelungenen Dramaturgie und vielleicht auch einem da und dort nicht ganz eingemitteten Auftritt – zudem wirklich sehr klar wurde war, dass Volodos einfach sein Ding macht, nicht nach links oder recht guckt sondern kommt, spielt und wieder geht. Dabei ist sein Kleidungsstil vielleicht sowas wie die Konzertbühnen-Version der Schlampigkeit von Jazzern wie Tony Malaby oder Tim Berne – nicht unsympatisch, aber dennoch ein klein wenig irritierend, weil ja nun mal vor Jahrzehnten der Beschluss gefasst wurde, in der Unterhaltung tätig zu sein, also ein Leben darauf aufzubauen, dass andere Leute einen dabei beobachten, wie man Dinge tut, in die diese Leute wiederum Dinge hineindeuten oder die diese Leute vielleicht gern selbst tun können würden … eben: nicht unsympathisch, aber es fällt halt doch auf und man fragt sich, ob es denn gut sei so oder halt doch nicht so richtig.

    Zürich, Opernhaus – 23.10.2018

    Die Gezeichneten
    Oper in drei Aufzügen von Franz Schreker (1878-1934)
    Libretto vom Komponisten

    Musikalische Leitung – Vladimir Jurowski
    Inszenierung – Barrie Kosky
    Bühnenbild – Rufus Didwiszus
    Kostüme – Klaus Bruns
    Lichtgestaltung – Franck Evin
    Choreinstudierung – Janko Kastelic
    Dramaturgie – Kathrin Brunner

    Herzog Antoniotto Adorno / Der Capitaneo di giustizia – Christopher Purves
    Graf Andrae Vitelozza Tamare – Thomas Johannes Mayer
    Lodovico Nardi, Podestà der Stadt Genua – Albert Pesendorfer
    Carlotta Nardi, seine Tochter – Catherine Naglestad
    Alviano Salvago – John Daszak
    Guidobald Usodimare – Paul Curievici
    Menaldo Negroni – Iain Milne
    Michelotto Cibo – Oliver Widmer
    Gonsalvo Fieschi – Cheyne Davidson
    Julian Pinelli – Ildo Song
    Paolo Calvi – Ruben Drole
    Diener – Jungrae Noah Kim
    Ein Jüngling – Thobela Ntshanyana
    Ein Mädchen – Sen Guo
    Erster Senator – Nathan Haller
    Zweiter Senator – Dean Murphy
    Dritter Senator – Alexander Kiechle

    Philharmonia Zürich
    Chor der Oper Zürich
    Statistenverein am Opernhaus Zürich

    Weil ich keine ordentliche Besprechung dazu hinkriege, sei auch hier noch der gestrige Opernbesuch (wieder müde, noch müder eigentlich) rasch erwähnt. Die Kritiken waren nicht so gut, gestern fand die letzte Aufführung statt – wobei ich mich fragte, ob vielleicht das eine oder andere, besonders der bemängelte Mangel an Feinheiten, was die Lautstärke betraf, in der Zwischenzeit verbessert wurde. Es handelt sich immerhin um den ersten Auftritt von Vladimir Jurowski an der Oper Zürich. Allerdings fand ich Barrie Koskys Kontrast-Inszenierung – ein fast schon klinisch grell ausgeleuchteter Einheitsraum, dem jegliches Erotische, Sexuelle, Abgründige, Obsessive vollkommen abgeht – nicht sehr überzeugend, auch wenn die Grundidee, dass diese so dichte, das Publikum schwebend umgarnende, ja verführende Musik auf der Bühne nicht auch noch ein Pendant braucht, an sich schon überzeugte. Aber die Lösung, die Kosky fand, kann dann eben doch nicht die Antwort sein.

    Das Ensemble auf der Bühne fand ich alles in allem aber hervorragend, bis in die kleinen Rollen stark. Daszak und Naglestad glänzten in den Hauptrollen, vor allem letztere hat wohl die schönsten Passagen in der ganzen Oper zu singen, mal allein, dann im Duett mit Alviano oder dem Tamer Mayers. Die Textverständlichkeit war nicht sehr gut, was aber wohl auch an Schrekers Musik liegt (Naglestads bemängelten Akzent etwa fand ich nicht weiter schlimm), die halt sehr üppig ist und den Stimmen manchmal den Raum nimmt.

    Und die Musik? Man liest von Korngold, Zemlinsky und Schreker – den abgesägten österreichischen jüdischen Komponisten, die vielleicht der deutsch-österreichischen Musik des 20. Jahrhunderts eine ganz andere Richtung gegeben hätten, wenn nicht das elende Untermenschentum der Germanenteutonen an die Macht gespült worden wäre und so vielem in Zentraleuropa den Garaus gemacht hätte. Ich kenne da nur Korngold ein wenig, und so üppig-überladen schien mir Schrekers Musik nie zu sein, auch nicht so deutlich auf die Wirkung hin gerichtet. Eher schienen mir eine unterschwellige, stark zu spürende Wellen am Werk zu sein, die durchaus das Zeug dazu haben, süchtig zu machen (ohne jedoch das ungute Gefühl zu erzeugen, dass man dabei komplett manipuliert würde, was ich ja bei Wanger so verdammt unangenehm finde). Süffig ist das, warm, weich, und vor allem enorm farbenreich – und in der Tat traditioneller als es der zweiten Wiener Schule lieb sein konnte, das wiederum leuchtet sofort ein.

    Auf Tonträger habe ich von Schreker noch praktisch nichts („Die Gezeichneten“ unter James Conlon, und irgendwo wohl noch das frühe Kammermusikwerk „Der Wind“ – beides noch nicht angehört) – eine andere Inszenierung der „Gezeichneten“ oder einer anderen Schreker-Oper würde ich aber sofort wieder anschauen gehen.

    --

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    Ein verspäteter Kurzbericht über ein paar feine Konzerte der letzten Wochen …

    Basel, Martinskirche – 29.10.2018

    Kammerorchester Basel
    Heinz Holliger
    , Leitung
    Patricia Kopatchinskaja, Violine

    Franz Schubert (1797–1828)
    Sinfonie Nr. 4 c-Moll D 417 („Tragische“)

    Sofia Gubaidulina (*1931)
    «Die Leier des Orpheus» für Violine, Schlagzeug und Streichorchester

    Zugaben:
    Heinz Holliger: Das kleine Irgendwas (Text: Alice Fierz), Tröpfli-Musig (aus: Duöli für 2 Geigen)

    Franz Schubert (1797–1828)
    Sinfonie Nr. 6 C-Dur D 589 («kleine C-Dur Sinfonie»)

    Ist es wirklich schon einen Monat her? Sehr lebendig ist der Abend noch, in meiner Erinnerung. Nach der Arbeit in den Pendlerzug nach Basel, dort in eine zum Glück halbwegs beheizte Kirche, die, so hörte ich später, für ihre Akustik vielgelobt sei. Ich sass wie so oft ganz vorn, konnte davon daher wohl nur begrenzt profitieren. Es gab vor dem Konzert eine erhellende Einführung von Roman Brotbeck, der zu den frühen sechs Schubert-Symphonien meinte: Stammten sie aus weniger bekannter Hand, würden sie heute als Wunderwerke eines genialen Komponisten gefeiert.

    Was Holliger und das KOB dann im Konzert lieferten, begeisterte mich sehr. Die vierte klang enorm frisch und wurde schwungvoll gespielt. Wie Holliger gerade die feine Instrumentierung Schuberts betonte und hervorhob, die Schichtungen, die stets changierenden Klänge hörbar machte: klasse! Dann betrat Patricia Kopatchinskaja die Bühne, um Sofia Gubaidulinas „Die Leier des Orpheus“ zu spielen, 2006 ebenfalls in Basel zum ersten Mal aufgeführt und wie schon das Violinkonzert „Offertorium“ (1980) Gidon Kremer gewidmet, der es noch 2006 mit seiner Kremerata Baltica eingespielt hat. Ich hörte das Stück im Konzert zum ersten Mal, es handelt sich eher um eine Art Dialogkonzert, in dem ein solistisches Cello, die Primgeige (Daniel Bard vom KOB) und stellenweise auch ein Kontrabass in den Dialog mit der Solostimme treten. Weitere Streicher und Schlagzeug sind ansonsten dabei, die ersteren spielen stellenweise alle ihre eigenen Stimmen, was ein chaotisch-dichtes Klanggeflecht erzeugt, das jedoch nie beliebig wirkt. Erstaunlich ist dann, wie das Schlagzeug, das recht heftig zur Sache geht, ebenfalls völlig in das Gewebe eingebunden ist, gar nicht als Gegenpol zu den Streichern wirkt sondern mit ihnen verschmilzt. Grosser Applaus für die tolle Darbietung Kopatchinskajas und des Orchesters, dann zwei kleine Zugaben, zuerst das „Kleine Irgendwas“, das auch auf dem Album „Take Two“ zu hören ist: ein Text von Kopatchinskajas Tochter, von Holliger zu einer Art Dada-Poem verdichtet (Stimme und Geige solo), dann eine Miniatur von Holliger, bei der wieder Bard zum Zug kam, und ganz zum Schluss auch noch der Kontrabass-Solist. Nach der Pause folgte dann die sechste Symphonie von Schubert, eine Art Oper im Gewand einer Symphonie, ungeheuer vergnüglich und vermutlich in der Tat besser als alles, was Rossini, der Platzhirsch, damals so an Instrumentalem (und an Instrumentierungen) zustande brachte. Hochdramatisch, verdichtend, zuspitzend, entspannend, eine Kette von Einfällen und Ideen, die sich wie ein Faden fortspinnt, mit starker Einbindung wieder der Bläser – und voll mit den unglaublichen Melodien, die es bei Schubert ja sowieso in überraschender Zahl gibt. Ein phantastisches Konzert, für das die etwas weite Anreise (und die baustellenbedingt sehr mühsame Rückreise) sich zweifellos gelohnt hat.

    Die Woche darauf verbrachte ich in Bern, Weiterbildung. Neben einem Kinobesuch („Wolkenbruch“, ziemlich witzig, für Zürcher natürlich auch wegen der Schauplätze) ging es am 7.11. ans Festival „Tanz in Bern“, an die zweite (von zwei) Aufführungen einer beeindruckenden Performance (ohne Live-Musik) von Julie Cunningham, zunächst mit einem Solo, in dem der weibliche Körper aus anderem Blick gezeigt, ein anderer Blick als der männliche auf ihn evoziert werden soll (Musik: ein Song von Fever Ray und Stücke von Neil Catchpole), danach mit ihrer Company in „To Be Me“, in dem zwei mal zwei Tänzerinnen die gesellschaftlich eingeübten und sanktionierten Verhaltensweisen der Geschlechter, aufs Korn nehmen, in Frage und bloss stellen und daraus ein starkes Plädoyer abgeben: diese Grenzen sind fluide, das Eingeübte und Eingetrichterte muss hinterfragt werden. Als Tonspur gab es hier verschiedene Texte von Kate Tempest, die sich zu einem Komplex über den blinden Propheten Teireisias, der für sieben Jahre in eine Frau verwandelt wurde.

    Zürich, Tonhalle-Maag – 11.11.2018

    Lisa Batiashvili, Violine
    Renaud Capuçon, Violoncello
    Jean-Yves Thibaudet, Klavier

    Dmitri Shostakovich Klaviertrio Nr. 1 c-Moll Op. 8
    Maurice Ravel Klaviertrio a-Moll

    Felix Mendelssohn Klaviertrio Nr. 2 c-Moll Op. 66

    „Kammermusik mit absoluter Hingabe“ lautet die Überschrift, des Berichtes in der NZZ (Link unten) – und das trifft ins Schwarze. Wie die drei ohne Allüren auf die Bühne kamen und es den ganzen Abend nur um die Musik ging und um nichts anderes, das war bemerkenswert – da haben sich offensichtlich drei gefunden. Die Eröffnung mit dem kurzen Shostakovich-Trio (das davor anscheinend noch nie in der Tonhalle aufgeführt worden war) funktionierte gut, dass darauf Ravel folgte und nicht wie im Programm angegeben Mendelssohn, war ein sehr guter Entscheid, denn so baute die erste Konzerthälfte eine grosse Intensität auf, mit Passagen, die stellenweise fast schon ruppig wirkten. Capuçon liess seinen Ton immer wieder schneidend scharf werden – dünn, aber mit grosser Projektionskraft. Nach der Pause dann das Mendelssohn-Trio, das für sich gleich noch einmal einen Steigerungslauf bedeutet und wieder mit viel Feuer gespielt wurde. Die drei schienen über weite Strecken gemeinsam zu atmen – auch wenn das ein „All Star“-Projekt ist: eine Fortsetzung wäre grossartig!

    Bericht in der NZZ:
    https://www.nzz.ch/feuilleton/mit-absoluter-hingabe-ld.1436644

    Zürich, Tonhalle-Maag – 12.11.2018

    Il Giardino Armonico
    Giovanni Antonini, Leitung & Blockflöte

    Patricia Kopatchinskaja, Violine

    Antonio Vivaldi Concerto für Streicher und Basso continuo g-Moll RV 157
    Luca Francesconi „Spiccato il Volo“ für Streicher (EA)
    Antonio Vivaldi Concerto für Violine, Streicher und Basso continuo C-Dur RV 191
    Simone Movio „Incanto XIX“ für Blockflöte und Barockorchester (EA)
    Giacinto Scelsi L’Âme ouverte für Violine solo
    Antonio Vivaldi Concerto für Violine, Streicher und Basso continuo Es-Dur Op. 8/5 RV 253 „La Tempesta di Mare“

    Aureliano Cattaneo „Estroso“ für Violine solo, Blockflöte und Barockorchester (EA)
    Antonio Vivaldi Concerto für vier Violinen, Streicher und Basso continuo e-Moll Op. 3/4 RV 550
    Salvatore Sciarrino Capriccio Nr. 2, aus 6 Capricci per violino (solo)
    Giovanni Sollima „Moghul“ für Violine, Streicher und Basso continuo (EA)
    Antonio Vivaldi Concerto für Violine, Streicher und Basso Continuo D-Dur RV 208 „Grosso Mogul“

    Einen Tag später und exakt zwei Wochen nach dem Konzert in Basel, wieder am Montagabend, spielte Kopatchinskaja dann in Zürich Konzerte von Vivaldi – mit dem Mailänder Giardino Armonico und seinem Leiter, Giovanni Antonini, der in den kurzen Auftragswerken, die zwischen den Konzerten erklangen, auch zur Blockflöte griff. Ein fulminantes Konzert, zu dem Kopatchinskaja ihre eigenen Kadenzen mitbrachte, die gerade in „La Tempesta di Mare“ Vivaldi gegen den Strich bürstete – aber mit einer so verblüffenden Präsenz und Überzeugungskraft gespielt, dass sich keine Fragen mehr stellten. Die Spielfreude des harmonischen Gartens ist ja sowieso legendär, mit ihnen Vivaldi zu hören ein pures Glück – das wurde schon beim ersten Konzert klar, das noch ohne die Starsolistin dargeboten wurde.

    Die neuen Werke bezogen sich jeweils auf die direkt danach gespielten Konzerte oder auf Vivaldis Musik im allgemeinen. Eines, Marco Stroppas „Dilanio avvinto“ (ein Anagram von Antonio Vivaldi), wurde nicht rechtzeitig fertig, so spielte Kopatchinskaja nach dem endlos faszinierenden Solo-Stück von Scelsi auch noch eine Solo-Preziose von Sciarrino, was mich natürlich sehr freute. Ein weiteres sehr tolles Konzert – und die Hoffnung, dass daraus mal eine CD entstehen könnte … immerhin ist Antonini wohl inzwischen auch bei alpha gelandet (aber ich nehme an, er ist die Tage nirgendwo exklusiv).

    Bericht der NZZ:
    https://www.nzz.ch/feuilleton/inspiration-vivaldi-ld.1436258


    Danach ging es vom 14. bis zum 18. November nach Mailand, um dort die Premiere und die zweite Aufführung der Oper von György Kurtág, „Fin de partie“ (nach Samuel Beckett, das Photo stammt von der Scala-Website und ist von Ruth Walz) zu sehen – grossartig! Ich wage mich wohl nicht, dazu Weiteres zu schreiben, weil fast alle Rezensenten zu scheitern scheinen (auch der Professor, der vor der Aufführung am 17. eine Einführung machte, laberte ziemlich viel Stuss. Die schönste, weil ohne grosse Gesten und Superlative auskommende und vom eigenen Hören ausgehende Besprechung hat zweifellos Thomas Bächli für die Republik geschrieben:
    https://www.republik.ch/2018/11/22/das-erste-mal
    Die Diskussionen vor und nach der Aufführung mit @clasjaz, der sich mit Beckett so viel besser auskennt als ich, die teilweise Relektüre von „Fin de partie“, die demnächst vollständig wiederholt werden soll, waren ebenfalls sehr bereichernd.

    Samuel Beckett: Fin de partie
    scènes et monologues, opéra en un acte

    Commissioned by Teatro alla Scala
    Versione drammaturgica di György Kurtág dal dramma di Samuel Beckett

    Editore Editio Musica Budapest
    Rappresentante per l’Italia Casa Ricordi, Milano
    World Premiere

    Teatro alla Scala Orchestra
    New Production of Teatro alla Scala in co-production with Dutch National Opera, Amsterdam

    Conductor Markus Stenz
    Staging Pierre Audi
    Sets and costumes Christof Hetzer
    Light designer Urs Schönebaum
    Playwright Klaus Bertisch

    CAST
    Hamm Frode Olsen
    Clov Leigh Melrose
    Nell Hilary Summers
    Nagg Leonardo Cortellazzi

    Zürich, Tonhalle-Maag – 19.11.2018

    Schwedisches Radio-Sinfonieorchester
    Daniel Harding
    , Leitung
    Veronika Eberle, Violine

    Zuletzt hörte ich dann, wieder am Montagabend und in der Tonhalle-Maag, das Schwedische Radiosinfonieorchester mit seinem Leiter Daniel Harding und der Solistin Veronika Eberle, die für die erkrankte Janine Jansen einsprang. Jansen ist heuer Artist in Residence, ich werde sie wohl noch mehrmals hören können (den Saison-Auftakt mit Bergs Konzert liess ich aus, weil mir die Aufführung mit Kopatchinskaja/Currentzis letzte Saison noch so lebending in Erinnerung ist, dass ich davon ausgehen musste, dass Jansen nicht wird mithalten können, spie spielt in drei Wochen Eliassons Violinkonzert „Einsame Fahrt“ und später auch noch KV 219 und Brahms sowie einen Kammermusikabend mit Schumann, Brahms und Franck, wenigstens für Eliasson und den Kammermusikabend habe ich Karten). Eberle spielte denn nicht wie bei Jansen geplant das Violinkonzert von Jean Sibelius, stattdessen stand Schumann auf dem Programm – ein Gewinn, natürlich, aber ich hätte nach der schlechten Sibelius-Aufführung, die Viktoria Mullova letzte Saison bot, doch gerne eine Korrektur davon gekriegt. Das muss jetzt halt noch etwas warten.

    Los ging es mit dem Trümmer von Allan Pettersson, seinem „Sinfonischen Satz“, eine knappe Viertelstunde lang und ein ziemlich heftiger Einstieg in das Konzert. Gefiel mir allerdings sehr gut – und die in Mailand geholte Erkältung schlug nicht in Gehuste um – überhaupt war das Publikum bei dem Konzert mal wieder erstaunlich still (im Direktvergleich mit Italien – silenzio! – ist Zürich aber fast immer super). Dann kam Eberle auf die Bühne, hübsch im tief ausgeschnittenen schimmernden Kleid … hmm. Doch die Zweifel verflogen bald: zusammen mit Harding und dem hellwachen Orchester spielte sie eine grosse, romantische (man(n) ist durchaus versucht, noch das Adjektiv „vollbusig“ einzuschmuggeln) Version des Schumann-Konzertes, wie ich sie noch nicht gehört habe (im Konzert bisher nur Isabelle Faust, einmal super mit dem viel schlankeren Zürcher Kammerorchester unter Roger Norrington, das andere mal deutlich weniger gut, wegen des hilflosen Jakob Hrusa am Pult des Tonhalle-Orchesters, das Faust nichts davon gab, was sie gebraucht hätte). Eberle überzeugte sehr, und sie spielte dann noch ein wenig Bach als Zugabe. Nach der Pause ging es mit Beethoven weiter, die „Eroica“. Hätte ich eigentlich gar nicht mehr gebraucht, oder ich hätte mich über etwas ein wenig abgelegeneres gefreut – aber so ist das eben mit Orchestern auf Tour, der Pettersson war ja schon eine tolle Überraschung. Und auch mit Beethoven enttäuschte das Orchester überhaupt nicht. Die Sitzordnung übrigens mit den Violinen am Bühnenrand, Celli neben den ersten Violinen und dahinter die Bässe – das gibt einen so viel besser Klang als die moderne Aufstellung – auch wenn ich die tollen Celli des Tonhalle-Orchesters gerne vorn habe, weil man sie dann halt schlicht etwas besser hört … aber die waren ja nicht dabei und der Gesamtklang gefällt mir in der Stereo-Geigen-Aufstellung fast immer besser. Harding brummte und sang manchmal etwas gar laut mit, da das Konzert aufgezeichnet wurde, würde es mich wundernehmen, ob man das überhaupt noch rausschneiden kann … es ist aber auch Zeugnis für das Feuer, mit dem der Dirigent und sein auf der Stuhlkante sitzendes Orchester zur Sache gehen. Und bei Beethoven kam das natürlich perfekt. Eine sehr überzeugende Darbietung mit einer überraschenden Solistin, die mir sehr gefiel.

    Weiter geht es die nächsten Tage (bis und mit Sonntag in einer Woche) mit dem Unerhört (heute Abend zum Auftakt u.a. Kaja Draksler, die Tage darauf dann u.a. Sylvie Courvoisier, Teju Cole, Marc Ribot und vielleicht wieder einmal Elina Duni), mit Così fan tutte in der Regie von Kirill Serebrennikov (grosse Vorfreude – meine möglicherweise Lieblingsoper erstmals in Echt … NZZ-Rezension der Aufführung), sowie Lisa Larsson und Lalav Shani in der Tonhalle mit Berwald-Liedern und Mahlers Vierter, die ich noch überhaupt nicht kenne.

    --

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    gypsy-tail-wind Danach ging es vom 14. bis zum 18. November nach Mailand, um dort die Premiere und die zweite Aufführung der Oper von György Kurtág, „Fin de partie“ (nach Samuel Beckett, das Photo stammt von der Scala-Website und ist von Ruth Walz) zu sehen – grossartig! Ich wage mich wohl nicht, dazu Weiteres zu schreiben, weil fast alle Rezensenten zu scheitern scheinen (auch der Professor, der vor der Aufführung am 17. eine Einführung machte, laberte ziemlich viel Stuss. Die schönste, weil ohne grosse Gesten und Superlative auskommende und vom eigenen Hören ausgehende Besprechung hat zweifellos Thomas Bächli für die Republik geschrieben: https://www.republik.ch/2018/11/22/das-erste-mal

    Spät, aber ich möchte noch etwas dazu schreiben. Nicht um abzusehen von all den fantastischen Konzerten, die Du da auch noch hattest. Schönes Programm, Schostakowitsch und Mendelssohn, das ist sehr fiebrig. – Die Texte von Bächli finde ich in all dem Rezensentennebel auch sehr fein, zurückhaltend. In irgendeiner der Rezensionen stand, wie hübsch leicht es doch gewesen sei, aus der Scala, der Oper, hinauszugehen in den milden süßen Novembermilanoabend. Ich erinnere das anders: Bei der Scheiß-Galleria, in ihren Erkern, lagen die Obdachlosen. Das war Kurtág, Beckett.

    Es ist ein Elend. Ich weiß nicht, wo sie inzwischen sind bei ihren Berechnungen, wie viel des Textes Kurtág nun „vertont“ habe; sie machen’s in Prozenten, die Rezensenten. Die Auswahl von Kurtág ist präzis, das sollte genügen. Die wichtigsten Sätze werden gesungen. Die große Mülleimertodszene („Poubelle“) ist mächtig und vergeht doch – weil, aufs vorläufige Ganze gesehen, wie im Goldenen Schnitt gemacht – wie nebenher. Hamm ist auch später das Arschloch und also bekommt er den größten Raum; ich wüsste nicht, warum das zu kritisieren sei. Es gibt kein Rechnen, Clov hat nicht gewonnen, Hamm nicht, Nell nicht, Nagg noch am ehesten. Aber ihm wäre das wohl egal mit seinen Schneidergeschichten.

    Es ist ein Endspiel, das heißt, alles ist müßig. Schach. Man kann noch weitermachen. Ich lese bei Beckett, in den Briefen, dass er über Tote nicht trauern kann. Nur über die Überlebenden. Große Anteilnahme, dass sie noch nicht tot sind, dies allerdings mit vollem Ernst. Und dieser Abend in Mailand hat das sehr deutlich gemacht.

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    #10651509  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Noch ein knapper Sammelbericht über ein paar Konzerte der letzten Tage …

    Mozart: Così fan tutte – Zürich, Opernhaus, 28.11.2018
     
    Così fan tutte
    Dramma giocoso in zwei Akten von Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791)
    Libretto von Lorenzo da Ponte

    Musikalische Leitung Cornelius Meister
    Inszenierung, Bühnenbild und Kostüme Kirill Serebrennikov
    Umsetzung Inszenierung, Choreographie Evgeny Kulagin
    Mitarbeit Bühne Nikolay Simonov
    Mitarbeit Kostüm Tatiana Dolmatovskaya
    Lichtgestaltung Franck Evin
    Video-Design Ilya Shagalov
    Choreinstudierung Ernst Raffelsberger
    Dramaturgie Beate Breidenbach

    Fiordiligi Ruzan Mantashyan
    Dorabella Anna Goryachova
    Guglielmo Andrei Bondarenko
    Ferrando Frédéric Antoun
    Despina Rebeca Olvera
    Don Alfonso Michael Nagy
    Sempronio Francesco Guglielmino
    Tizio David Schwindling

    Philharmonia Zürich
    Chor der Oper Zürich
    Chorzuzüger
    Statistenverein am Opernhaus Zürich
    Continuo Hammerklavier Andrea del Bianco
    Continuo Solo-Cello Christine Theus

    Los ging es Mittwoch vor einer Woche mit meiner ersten „Così“ in natura – vielleicht meine allerliebste Oper, also höchste Zeit („Le nozze di Figaro“ kommt später in der Saison auch noch dran, mit Regula Mühlemann als Susanna, auf den „Don Giovanni“ warte ich noch, und eine vernünftige „Zauberflöte“ wird es so bald hier – und anderswo – wohl nicht geben, denn zunächst wird wohl die Produktion von vor ein paar Jahren wieder ausgepackt).

    Die Vorstellungen sind allesamt ausverkauft, was allerdings wohl viel mit dem Wirbel zu tun hat, den das löbliche Festhalten der Intendanz (Andreas Homoki) am Regisseur Kirill Serebrennikov auslöste. Dieser sitzt in Putinstan im Hausarrest und darf nicht einmal einen internetfähigen Rechner verwenden. So brachte sein Anwalt jeweils einen USB-Stick mit Probeaufnahmen vorbei und meldete nach Zürich zurück, was es zu ändern galt. Serebrennikov arbeitete im Vorfeld ein sehr detailliertes Buch aus, nach dem sich das Team in Zürich richten konnte. Das hat denn auch sehr gut geklappt, obgleich ich mir über die Regie nicht wirklich sicher bin. Die beiden Jungs werden – in echt (oder doch nicht?) – in den Krieg eingezogen, sterben. Statt ihrer selbst in Verkleidung tauchen zwei stumme Stellvertreter auf (Sempronio und Tizio, falls jemand sich über die Besetzungsliste gewundert hat), denen die beiden Sänger als Schatten die Stimme leihen. Die beiden Stellvertreter sind perfekte Exemplare des heutigen oberflächlichen Selbstoptimierungsprogrammes (nicht ganz so beeindruckend, wie Putin beim Reiten, aber fast), die Damen fallen – so steht es ja im Libretto – auf sie herein. Als dann Hochzeit gefeiert werden soll (Olvera darf die Despina – ausser in der Verkleidung als Arzt – fast ganz ohne die üblen näselnden Klischees singen), sind die echten Herren wieder da, die Bräute werden in traditionelle russische Brautkleider eingewickelt (ein Kokon, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt), die Auflösung am Ende klappte irgendwie nicht mehr so recht.

    Doch, und das besprach ich auf dem Heimweg in der Strassenbahn dann auch noch mit einer Musikerin aus dem Orchester, mit der sich zufällig eine kurze Unterhaltung ergab: bei Mozart schwingt in der Musik stets so viel mehr mit, ist der Gehalt so viel reicher als die Worte und die Bühne und die Menschen darauf es überhaupt vermitteln können, und gerade in der „Così“ ist diese Ebene so überaus zentral, dass die reine Handlung schon längst zur Nebensache geworden ist. Das auch, wenn das Ensemble auf der Bühne leidlich funktioniert (Mantashyan verhaute ein oder zwei Mal eine Passage mit reichen Koloraturen, aber die Rolle ist auch halsbrecherisch) und obendrein das Orchester so gut auf die Aufgabe eingestimmt ist, wie Cornelius Meister das hingekriegt hat. Sein Klangbild blieb stets klar und durchsichtig, schlank und doch kraftvoll wurde musiziert, besonders zu erwähnen ist Andrea del Bianco, der am Hammerklavier ein tolles Continuo spielte.

    Alles in allem also ein überaus beglückender Abend, auch wenn die Umstände einiges Publikum anlockten, das nicht bei der Sache war (bis ich mich umdrehe und „psst“ zische, dauert es ziemlich lange, aber an dem Abend, im zweiten Akt, liess es sich nicht vermeiden).

    Zürich, Tonhalle-Maag – 29.11.2018
     
    Tonhalle-Orchester Zürich
    Lahav Shani Leitung
    Lisa Larsson Sopran

    Franz Berwald „Traumreise“ Lieder für Sopran und Orchester (Konzept: Lisa Larsson, Orchestrierung: Rolf Martinsson) Uraufführung

    Gustav Mahler Sinfonie Nr. 4 G-Dur

    Am nächsten Abend verliess ich frühzeitig das Duo-Konzert, das Alexander Hawkins und Yves Theiler im Rahmen des Unerhört-Festival gaben, um rechtzeitig zu einem sehr speziellen Konzert in der Tonhalle zu sein. Lisa Larsson, die der Schweiz seit ihren Studienzeiten in Basel verbunden ist, dort und in Zürich an der Oper auftrat (mit Harnoncourt und Welser-Möst u.a.) und schon 1994 erstmals in der Tonhalle zu hören war, wurde zum 150-Jahre-Jubiläum von der Tonhalle-Gesellschaft mit einem Auftrag versehen – und sollte, so Larsson im Programmheft, „ein ganz besonders schönes Geburtstagsgeschenk“ sein. „Nach langen Recherchen fand ich in der Bibliothek der Königlichen Musikalischen Akademie in Stockholm vergessene Lieder von Franz Berwald. Ich war sofort sehr angetan von der Idee, einer Auswahl davon (in den drei Originalsprachen) neues Leben einzuhauchen, aber in einem neuen Gewand. Ich habe daraus eine „Traumreise“ konzipiert, die ich Rolf Martinsson mit seiner Expertise gebeten habe, für Zürich zu orchestrieren.“

    Neun Lieder (von 19) stellte Larsson am Ende zusammen, in Schwedisch, Französisch und Deutsch. Sie gipfeln in der Uhland-Vertonung „Traum“, bis dahin war es in der Tat eine kleine Reise, die in den zurückhaltenden Orchestrierungen Martinssons und mit seinen Zwischenspielen eine ganze Menge von Träumen – oder auch Gefühlen, Stimmungen – durchschritt. Klangen einzelne Lieder, besonders die französischen, fast nach Show und Musical, wurde anderswo gewalzert, die Stimme von einem Solo-Cello umgarnt, die Begleitung auf ein Streichquartett reduziert oder zwei Strophen durch eine Trommel und eine Trompeten-Fanfare unterbrochen. Auch die Konzertmeisterin Julia Becker kam in einem Solo-Zwischenspiel zum Zug.

    Geleitet wurde der Abend von Lahav Shani, der kein Pult benötigte: er dirigierte alles auswendig. Hielt er sich bei Berwald sachdienlich zurück und überliess Larsson und den Orchestersolisten die Gestaltung, so zog er bei Mahlers vierter Symphonie die Zügel an. Er leitete das Orchester straff und gab zügige Tempi vor, es wurde einmal mehr mit grösster Präzision musiziert, mit einer durchsichtigen Klarheit im Klangaufbau. Susanne Kübler schrieb im Tagesanzeiger vom 1. Dezember, „man hätte die Partitur notieren können nach dieser Aufführung – so genau setzte er Mahlers detailversessene Vorgaben um“ – und schiebt gleich nach: „Das wirkte zuweilen eher buchstabiert als durchfühlt“. Das kann man vielleicht so sehen bzw. konnte man so hören, aber Shani verlor sich nicht in den Details, er behielt das Gesamte im Auge – und das Orchester dankte es ihm und lief zu Bestform auf, gerade auch erneut Konzertmeisterin Julia Becker in ihrem Solo im zweiten Satz. Das Highlight war dann aber ausgerechnet der dritte, der langsame Satz, in dem mit einer zarten Zerbrechlichkeit musiziert wurde – eine eindringliche Atempause auf dem Weg zum Finale, für das Larsson dann erneut auftrat, positioniert zwischen den zweiten Violinen und den Bratschen (es wurde dankenswerterweise wieder einmal in deutscher Aufstellung gespielt, Larsson stand also rechts auf der Bühne, ungefähr in der dritten Reihe). Einen kleinen Makel hörte ich allerdings leider in der Aussprache, wenn Larsson – die anscheinend seit längerem in Zürich lebt – in deutscher Sprache sang. Schon bei Berwald hatte sie da und dort eine ganze Silbe verschluckt, bei Mahler war das dann ähnlich und wurde durch die Positionierung im Orchester etwas problematisch, da die Verständlichkeit etwas litt. Dennoch: ein tolles Konzert und für mich eine phantastische allererste Begegnung mit Mahlers vierter Symphonie.

    Bericht der NZZ:
    https://www.nzz.ch/feuilleton/diese-saengerin-bringt-blumen-aus-schweden-in-die-tonhalle-ld.1440674

    Der erwähnte Artikel von Kübler steht nicht online, soweit ich sehen konnte.

    Wer mehr über die Berwald-Lieder wissen möchte, kann sich das Programmheft voraussichtlich bis Saisonende im nächsten Sommer online holen.

    Winterthur, Stadthaus – 06.12.2018
     
    Musikkollegium Winterthur
    Thomas Zehetmair
    Leitung
    Carolin Widmann Violine

    Wolfgang Amadeus Mozart Ouvertüre zur Oper „Die Zauberflöte“, KV 620
    Dieter Ammann „unbalanced instability“, Konzertsatz für Violine und Kammerorchester (2012/13)

    Johannes Brahms Sinfonie Nr. 4 e-Moll, op. 98

    Am Donnerstagabend schleppte ich mich dann, nach geschaffter, strenger Woche bei der Arbeit und mit heftiger Erkältung, doch noch nach Winterthur. Und zum Glück kapitulierte ich nicht! Es gab direkt vor dem Konzert eine Einführung mit Ammann, der erzählte, wie sein Werk 2012/13 (für die Wittener Tage für neue Kammermusik, wo es 2013 von Carolin Widmann mit dem WDR Sinfonierochester Köln uraufgeführt worden ist – war @vorgarten damals vielleicht dabei?) entstanden ist, überhaupt, wie er beim Komponieren vorgehe. Dazwischen wurden Ausschnitte gespielt, die das Gehör schärften für die folgende Aufführung im seltsamen Saal im Stadthaus Winterthur, einem typischen historistischen Protzbau von Gottfried Semper, der bis 2015 tatsächlich auch Regierungssitz war und parallel seit 1934 als Konzertsaal des Musikkollegiums Winterthur dient, das eine lange Geschichte hat (von 1922 bis 1950 wurde es von Hermann Scherchen geleitet und spielte in den Jahren über 120 Uraufführungen). Die Einführung fand im Stadtratszimmer statt, wo wohl einst die Exekutive tagte – und ein Blatt mit Noten, eine Kopie von Ammanns handschriftlicher Reinschrift der Solo-Kadenz kurz vor dem Ende des Werkes, durfte ich auch noch mitnehmen.

    Thomas Zehetmair ging mit dem Orchester im Herbst schon in seine dritte Saison, und so lange hat es auch gedauert, bis ich es schaffte, endlich Karten für Konzerte zu kaufen (im Frühling höre ich noch Nelson Freire mit Brahms‘ zweitem Klavierkonzert). Die laufende Saison steht im Zeichen von Brahms, dessen Orchesterwerke und Konzerte aufgeführt werden (die vier Symphonien werden auch mitgeschnitten und sollen nächsten Frühling auf CD erscheinen). Doch los ging es, quasi zum Aufwärmen, mit der Ouvertüre zu Mozarts Oper „Die Zauberflöte“. Das kam eher als Aufwärmübung rüber, mit Amman gibt es keine Berührungspunkte. Zudem wurden auch schon gewisse Schwächen des klein besetzten Orchesters (Streicher: 6-5-5-4-3, glaube ich) bzw. von Zehetmairs Dirigat deutlich: es wurde zwar sehr engagiert musiziert (und dirigiert), aber mit der Genauigkeit in der Phrasierung haperte es da und dort ein wenig. Präzise ist Zehetmairs Gestik gerade nicht, eher zielt sie – manchmal mit weit ausholenden Bewegungen – auf die Interpretation, die Gestaltung. Im Kleinen wäre etwas mehr Genauigkeit nicht falsch, aber darunter könnte dann wieder die Gestaltung leider, wer weiss …

    „Caro“, so wird Widmann von Freunden gerufen – und damit fängt Ammans Konzert an: C, A, D („re“), G („sol“ – das „do“ zu wiederholen fand er nicht so interessant), pizzicato von der Solistin gezupft, ganz leise, wiederholt mit anderen Techniken, Abstufungen, schliesslich Reaktionen des Orchesters hervorrufend, die sich allmählich verdichten, stapeln. So entwickelt das Werk sich tatsächlich in einer Art nicht-ausbalancierten Instabilität, es gibt keine Hinweise darauf, wie es weitergehen wird, was folgen mag. Ein langer Satz, in dem die Solistin auch einmal vom Orchester verschluckt wird, in dem das Sehen und das Hören nicht mehr übereinstimmen: die Solistin müht sich sichtlich an schnellen Läufen und Griffen ab, aber zu hören ist: nichts. Dann wieder übertrumpft sie das Orchester scheinbar mühelos, spielt glanzvoll virtuose Passagen, die durchaus an die grosse Konzert-Tradition erinnern, doch auch das ist natürlich nicht das Ende der Weisheit. Klanglich ist der Orchestersatz sehr reich, neben den Bläsern (je zwei Flöten, Oboen, Klarinetten, Fagotte und Hörner, eine Trompete und eine Posaune) gibt es eine Harfe und einiges an Schlagwerk. Daraus mischt Ammann immer wieder neue Klänge zusammen, die Streicher spielten teils auch einzelne bzw. pro Gruppe mehrere Stimmen, was das ganze zu einem ziemlich undurchsichtigen Teppich werden lässt. Widmann glänzt dann ein letztes Mal in der erwähnten Solo-Kadenz, die zum Ende des Werkes hinführt, und in die Ammann Versatzstücke anderer Werke aus Widmanns Repertoire aufgenommen hat, wie er bei der Einführung erläuterte (er nannte leider keins dieser Werke, erkannt habe ich natürlich nichts). Am Ende dann, es gesellen sich wieder einzelne Streicher dazu, spielt die Geige ihren tiefsten Ton, die leere G-Saite, verklingt beinah, und das Cello spielt denselben Ton als eine Art Echo – und mit einem Bartók’schen Pizzicato schneidet die Solistin diesen Ton dann durch. Finis.

    Nach der Pause folgte Brahms‘ vierte Symphonie, und angesichts der Schwächen, die das Orchester davor bei Mozart zeigte, war ich nicht gerade gespannt. Doch fand ich die Sichtwiese als ganze dann ziemlich gut, der schlanke Klang passte, die Unsauberkeiten waren angesichts des engagierten Spiels mehr denn hinnehmbar und gerieten immer mehr in Vergessenheit. Zehetmair übertrieb es vielleicht, wie die NZZ meint (s.u.), da und dort tatsächlich ein wenig, aber obwohl das Programm mit den drei Werken alles andere als zwingend war, empfand ich den Abend als eine durchaus runde Sache.

    Bericht in der NZZ:
    https://www.nzz.ch/feuilleton/carolin-widmann-und-die-geister-die-sie-rief-ld.1442467

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #158 – Piano Jazz 2024 - 19.12.2024 – 20:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
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