Jahresrückblick 2016

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  • #10048987  | PERMALINK

    vorgarten

    Registriert seit: 07.10.2007

    Beiträge: 12,010

    @nail75

    ich habe ein bisschen das gefühl, dass du diesmal zur abwechslung einen stein in mein ruhiges gewässer werfen wolltest, aber so ruhig ist dieses gewässer gar nicht. ich weiß auch, dass der einzige effiziente weg, den ich persönlich habe (sofern ich nicht in gremien sitze, die stipendien verteilen), heutige jazzmusiker_innen zu unterstützen, ist, ihre livekonzerte zu besuchen. (und vielleicht noch, sich darüber auszutauschen, insofern würde ich gerne mehr über deine live-erlebnisse lesen.) bei einigen leuten, die mich interessieren, müsste ich aufgrund merkwürdiger besteuerungspraxen in nachbarländer fahren, um sie sehen zu können – oder große festivals besuchen, was ich dieses jahr zumindest in einem fall gemacht habe. ich kritisiere mich aber ja selbst dafür, das angebot in meiner stadt nicht genug wahrzunehmen, in der es ein historisches zusammenwachsen von zwei szenen gegeben hat, in die internationale musiker ziehen, weil sie sich hier noch die mieten leisten können, und ebenfalls junge deutsche musiker, wenn sie eine relevante szene mit austausch und auftrittsorten suchen.

    ansonsten unterscheide ich (heute) natürlich nicht zwischen jazz mit marktwirtschaftlicher relevanz und solchem ohne. mich interessieren musikalische aussagen, die angesichts der marktwirtschaftlichen irrelevanz gemacht und dokumentiert werden. deine logik von kanon, qualitätspyramide und materiellem reichtum finde ich reichlich naiv, wünsche aber viel spaß mit den klassikeralben von kenny g. und david sanborn, die mit jazz reich geworden sind, deshalb wohl zu den ganz außergewöhnlichen jazzern gehören und sich durch die qualität ihrer musik im oberen pyramidenstockwerk einrichten konnten. und sicherlich war auch lou donaldson der sehr viel bessere altsaxophonist als eric kloss, männliche musiker grundsätzlich besser als musikerinnen und weiße besser als nicht ganz so weiße.

    natürlich sind sun ra und alice coltrane 2017 halbwegs kanonisiert. aber als sie ihre musik produzierten, waren sie es nicht. impulse hat coltrane zwar aufgenommen, das aber von liner notes begleiten lassen, die nahegelgt haben, sie als musikerin nicht ernst zu nehmen. sun ra wurde zwar in den 70ern auf impulse wiederveröffentlicht, aber 1965 fehlten ausgerechnet seine aufnahmen auf NEW WAVE IN JAZZ, war slug’s der erste jazzclub, der das arkestra (unter ausnahmenbedingungen) buchte. das finde ich nicht per se spannend, aber als kontext schon wichtig mitzuhören, wenn man eine heute auf pitchfork abgefeierte singles-collection mit arkestramaterial hört, das im wesentlichen vor den 1970ern entstanden ist.

    solltest du wirklich mich gemeint haben mit der warnung, keinen grundfehler zu begehen und die nische in der nische zu suchen, bevor mann die klassiker kennt, kann ich dich beruhigen: zumindest aus den 1960ern kenne ich wohl alle klassiker ziemlich gut (nur darüber schreiben fände ich jetzt nicht so spannend). und letztlich ist das, was ich suche, ja meine sache.

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    #10049033  | PERMALINK

    nail75

    Registriert seit: 16.10.2006

    Beiträge: 44,729

    Ich wollte dir nicht unterstellen, die Klassiker nicht zu kennen. Deine obige Aussage bezüglich des Randständigen habe ich vermutlich missverstanden. Allerdings bin ich auch der Überzeugung, dass sich die Beschäftigung mit dieser Musik nach wie vor lohnt – da muss man gar nicht die wirklich obskuren Sachen suchen, wenn ich nur an jemanden wie Andrew Hill oder das Duo Bradford/Carter denke. Natürlich können auch Nebenwege und wirklich obskure Musiker lohnen, manchmal kommt es aber auch vor, dass Leute die Obskurität ob der Obskurität feiern.

    Und das meine ich mit der Qualitätspyramide, die du in unzulässiger Weise mit kommerziellem Erfolg zusammenwirfst. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun – und ich weiß auch nicht, was Kenny G mit Jazz zu tun hat oder mit Klassik oder allgemein mit Musik, aber da kennst du dich sicher besser aus ;).

    Auch wenn du die Aussage für naiv hältst, es ist nicht so leicht die These abzubügeln, dass Werke von höherer Qualität auf Dauer Bestand haben. Wie gesagt: Meine Aussage bezog sich auf die 1960er. Wie viele Werke von Jazzmusikern gibt es da nach fünfzig Jahren tiefgehender kollektiver Beschäftigung noch zu entdecken?

    Was Sun Ra und Alice Coltrane angeht, stimme ich dir zu. Das war damals sicher Musik, die von vielen nicht ernstgenommen wurde – woran auch Sun Ra selbst ein wenig Anteil hatte – diese Saturn-Sache war schon sehr abgefahren. Würde mich interessieren, wie du das siehst.

    Was meine Liveerlebnisse angeht, hier findest du vieles:
    https://www.regioactive.de/themen/enjoy-jazz

    zuletzt geändert von nail75

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    Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.
    #10049103  | PERMALINK

    vorgarten

    Registriert seit: 07.10.2007

    Beiträge: 12,010

    danke für den link & die klarstellungen.

    ich schätze nicht grundsätzlich jede obskurität um ihrer obskurität willen, weiß aber, dass das, was zu bestimmten zeitpunkten als „qualität“ gilt, ein produkt sehr komplexer und oftmals zufälliger prozesse ist, die vor allem damit zu tun haben, wer gerade die definitions- und diskursmacht hat. dazu muss man nicht unbedingt foucault lesen und noch nicht mal meine queere perspektive haben, mit der ich grundsätzlich kanonskeptisch auf kunst schaue. das heißt natürlich nicht, dass ich es unwichtig finde, wenn nach 50 jahren und vielen geschmacksveränderungen, archiventdeckungen, neuen zirkulationsformen und zugangsmöglichkeiten, immer noch ein spezifisches album als klassiker gilt.

    dass man 2017 nicht mehr viel randständiges aus den 1960ern entdecken kann, stimmt. das kann aber auch nur heißen, dass bestimmte entwürfe nicht dokumentiert sind und damit eine beschäftigung und würdigung damit unmöglich ist. oder sie ist es nur in unzureichendem maße (von solchen fällen reden wir hier eigentlich.) es gibt wohl mehr fälle von vereitelten oder strukturell verhinderten meisterwerken als von tatsächlich exekutierten. meinetwegen stehen sich manche künstler_innen da auch selbst im weg, aber sun ra ist da ein schlechtes beispiel, er wird ja heute gerade wegen seiner far-out-ness kanonisiert.

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    #10049165  | PERMALINK

    nail75

    Registriert seit: 16.10.2006

    Beiträge: 44,729

    dass man 2017 nicht mehr viel randständiges aus den 1960ern entdecken kann, stimmt. das kann aber auch nur heißen, dass bestimmte entwürfe nicht dokumentiert sind und damit eine beschäftigung und würdigung damit unmöglich ist. oder sie ist es nur in unzureichendem maße (von solchen fällen reden wir hier eigentlich.) es gibt wohl mehr fälle von vereitelten oder strukturell verhinderten meisterwerken als von tatsächlich exekutierten. meinetwegen stehen sich manche künstler_innen da auch selbst im weg, aber sun ra ist da ein schlechtes beispiel, er wird ja heute gerade wegen seiner far-out-ness kanonisiert.

    Ja, da kann ich komplett zustimmen. Aber ich würde auch sagen, dass zahlreiche damals schon kanonisierte Künstler keineswegs so umfassend dokumentiert sind, wie wir uns das heute wünschen würden. Dass so etwas wie systemische Hürden gab und gibt, ist unbestritten. Wir haben eben heute eine andere Sichtweise als die Zeitgenossen, aber das ist eher die Regel als die Ausnahme. Das bekannteste Beispiel sind sicher die handschriftenanfertigenden Mönche. Wir müssen ihnen sehr dankbar sein, denn ansonsten wäre das literarische Erbe der Antike weitgehend verloren, aber wir wünschten doch, dass sie mehr Bewusstsein für die heidnischen Texte gehabt und uns mehr überliefert hätten.

    --

    Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.
    #10049175  | PERMALINK

    soulpope
    "Ever Since The World Ended, I Don`t Get Out As Much"

    Registriert seit: 02.12.2013

    Beiträge: 56,402

    vorgarten dass man 2017 nicht mehr viel randständiges aus den 1960ern entdecken kann, stimmt. das kann aber auch nur heißen, dass bestimmte entwürfe nicht dokumentiert sind und damit eine beschäftigung und würdigung damit unmöglich ist. oder sie ist es nur in unzureichendem maße (von solchen fällen reden wir hier eigentlich.) es gibt wohl mehr fälle von vereitelten oder strukturell verhinderten meisterwerken als von tatsächlich exekutierten. meinetwegen stehen sich manche künstler_innen da auch selbst im weg, aber sun ra ist da ein schlechtes beispiel, er wird ja heute gerade wegen seiner far-out-ness kanonisiert.

    Kann man durchaus so sehen …. natürlich besteht die Möglichkeit des Auftauchens insbesondere von qualitativen Livemittschnitten, aber auch das wird sich wohl immer mehr auf Einzelfälle reduzieren ….

    Ich bin ja wohl hier im Jazzeck als – vornehm ausgedrückt – sehr zurückhaltender Käufer von Neuerscheinungen amtsbekannt und dies wird sich wohl auch heuer kaum ändern …. es ist weniger die Skepsis bezüglich der Güte von neuen Stimmen oder Produktionen, sondern wohl auch die Einsicht daß ich viele der in meinen Schränken lagernden „klassichen“ Aufnahmen nicht richtig zu kennen ….

    Wobei was ist hier „richtig“ …. ich habe natürlich in Laufe der vergangenen Dekaden viele Aufnahmen gehört und danach innerlich kategorisiert, dies oft ohne Querkontext bzw nicht unter der Berücksichtigung spezieller Aspekte …. so habe ich deshalb folgerichtig auch gewisse zeitliche Einschnitte festgelegt, ab wann mich das Schaffen eines Künstlers nicht mehr nachhaltig interessiert …. auch dies unterziehe ich nunmehr verstärkt neuen Hörerfahrungen – als Beispiel das Euvre von David Murray ab Mitte der 80er (über welches wir uns ja hier bereits ausgetauscht haben ….) – und so ist, natürlich auch durch die zwischenzeitliche eigene persönliche Entwicklung, ein Eintauchen in neue Musik durchaus möglich ….

    Ich verfolge nichtdestotrotz gerne und interessiert euren Austausch über zeitgenössiche Jazzmusik – was aber auch meiner Nähe zum Lesen geschuldet ist ….

    --

      "Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit" (K. Valentin)
    #10049447  | PERMALINK

    vorgarten

    Registriert seit: 07.10.2007

    Beiträge: 12,010

    soulpopeals Beispiel das Euvre von David Murray ab Mitte der 80er (über welches wir uns ja hier bereits ausgetauscht haben ….)

    haben wir? erinnere mich gerade gar nicht…

    gypsy-tail-wind
    : : Jazz Nekrolog 2016 : :

    Der letzte für mich wirklich traurige Abgang war am zweiten Weihnachtstag der – lieder zu erwartende – Tod von Alphonse Mouzon, den ich nie live sehen konnte. Und wenn ich die Liste studiere, merke ich auch, warum Janusz Stefanski am Konzert mit Makaya Ntshoko nicht dabei war: er verstarb Anfang November. Ebenso Lucky Ranku, der Gitarrist, und wenige Tage davor die Sängerin Pinise Saul, beide aus Südafrika – auch das hatte ich nicht mitgekriegt. Andere bedauerte Abgänge: Bobby Hutcherson, Don Friedman, Charles Davis, Bobby Wellins, Mose Allison, Bob Cranshaw, Hod O’Brien, Louis Smith, Claude Williamson, Häns’che Weiss, Sir Charles Thompson, Elsie Bianchi, Marco Eneidi (der nun wirklich zu früh!), Johannes Bauer, Jeremy Steig, Gétatchèw Mèkurya, Gato Barbieri, Ernestine Anderson, Claus Ogerman, Léon Francioli – und schon ganz zu Beginn des Jahres Paul Bley.

    hier muss man leider noch naná vasconcelos (9. märz) ergänzen.

    --

    #10049665  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
    Moderator
    Biomasse

    Registriert seit: 25.01.2010

    Beiträge: 67,069

    vorgarten hier muss man leider noch naná vasconcelos (9. märz) ergänzen.

    Den liess ich bei meiner quasi Favoriten-Auswahl weg, weil es eine leere Pose wäre, so zu tun als würde ich seinen Tod bedauern – ich kenne bis heute fast nichts (Codona und zwei, drei Sachen mehr) – aber das wird sich irgendwann gewiss ändern.

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #10051057  | PERMALINK

    redbeansandrice

    Registriert seit: 14.08.2009

    Beiträge: 13,486

    2016 hatte für mich ein paar Brüche, und nur die letzten Monate hab ich noch halbwegs klar vor Augen… die Möglichkeit, konzentriert neue Musik aufzunehmen, gab es subjektiv betrachtet nur an vier, fünf Tagen, zumindest gegen Ende (grad läuft Psycho von Element of Crime) und erst gestern wieder war ich endlos auf der Suche nach irgendeiner Musik, die halbwegs passt (am Ende Una Mae Carlisle mit Budd Johnson). Black Orpheus von Kikuchi liegt hier inzwischen, aber der eine Musiker, auf den ich dieses Jahr wirklich aufmerksam geworden bin, ist Julian Lage (angefangen bei der schlichten Frage, wie wohl Downbeats viertbester Gitarrist der Welt heutzutage klingt). Das Album (Arclight) ist sehr gut, aber live war die Band nochmal zwei Spuren besser – bin sehr gespannt auf das neue Album… honorable mention für Aram Bajakians Music inspired by The Color of Pomegranates

    aber ob das noch Jazz ist… (und es mag auch von 2014 sein). Hätte gerne intensiver an vorgartens bft teilgenommen (und die Frage, warum man noch in Foren postet, …), aber da werd ich bei Zeiten (shit) das eine oder andere noch genauer anhören

    zuletzt geändert von redbeansandrice

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    #10051415  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
    Moderator
    Biomasse

    Registriert seit: 25.01.2010

    Beiträge: 67,069

    @redbeansandrice Schön, von Dir auch noch zu lesen … dass es mit dem Berlinbesuch bei @vorgarten und Frühstück, Plattenläden und Bier mit @friedrich und einen Schwatz mit @atom und ein paar Bier mit @udw geklappt hat, gehört ja zum Erfreulichen des Jahres, dass wir keinen gemeinsamen Konzertbesuch oder überhaupt ein Treffen geschafft hat, ist hingegen bedauerlich, das ändert sich hoffentlich 2017 wieder!

    Dass ich Julian Lage mit seinem Trio live verpasst habe, ist schade, aber als er hier (in einem Altersheim in der Agglo, um genau zu sein) spielte, lag ich leider fiebrig im Bett (und der Rahmen wäre wohl eh nicht sonderlich toll gewesen – ist ja schön, wenn Leute „auf dem Land“ solche Konzertreihen ins Leben rufen, aber noch schöner wäre es natürlich, Lage in einer passenden Location hören zu können). Das Duo mit Gavin Riley in Willisau war ja phantastisch, aber halt doch wieder was ganz anderes. Das Lage-Album sank bei mir nach der ursprünglichen Begeisterung doch recht deutlich in der Gunst, nach zehn oder zwölf Hörgängen fühlte hatte es sich irgendwie erschöpft für mich, auch wenn es weiterhin passende Hintergrundmusik für so manches sein wird. Aber live muss Lage ja schon mal wenigstens doppelt so lange spielen, entweder also ausführlicher solieren oder viel mehr Stücke im Repertoire haben – und beides traue ich im natürlich zu. So gesehen ist das Album wohl schon richtig, denn es ist auch wirklich ein Album, ein in sich rundes Ding, das eben nicht nur – wie @nail75 oben nicht unrichtig sagt – ein Souvenir für ein Live-Konzert ist (was man wohl z.B. den meisten Clean Feed-Produktionen nachsagen könnte, auch wenn man das natürlich im Einzelfall betrachten müsste … natürlich weiss man halt nicht, wie dieselben Leute live spielen, wenn man sie nicht kennt, aber ich habe beim einen oder anderen das Gefühl, live könnte mich das nochmal anders packen, bei Eve Risser war das so, bei Niggenkempers septième continent und beim Cerate Urio Orchestra wäre es wohl auch der Fall, auch Harris Eisenstadts Band käme live an einem guten Tag sicherlich toller rüber als auf dem Album etc. – deshalb gibt es heute auch den ersten Abend mit Live-Jazz, der dann in einem Jahr in den Rückblick kommen wird …)

    --

    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
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