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David Byrne hat in der Reihe Brazil Classics noch weitere Compilations zusammengestellt. Vol. 2 – O Samba hatte ich mal, konnte ihr aber nichts abgewinnen, Vol. 3 widmet sich dem Forro. Kenne ich aber nicht. In sofern konnte mich diese Reihe bis dahin nicht für brasilianische Musik begeistern.
Es gehört zu den schönen Erlebnissen eines Musiknerds, an einem Sonntagnachmittag über einen Flohmarkt in Berlin-Neukölln zu schlendern, ohne große Erwartungen in Plattenkisten zu stöbern und dort überraschend Brazil Classics Vol. 4, eine Best of Tom Zé zu finden. Da ich davon ausging, dass die Platte unerschwinglich ist, fragte ich zunächst gar nicht erst nach dem Preis, stellte sie zurück und wollte schon gehen. Aber fragen kostet nichts, dachte ich und versuchte dann doch mein Glück. Der Händler rief mir entgegen “5 Euro!” Ich verzichtete aufs Feilschen und trug die Platte freudig nach hause.
Tom Zé – The Best Of Tom Zé (Compilation, 1990)
Tom Zé ist der Bastard von Tom Jobim, Frank Zappa, Brian Wilson (SMiLE-Phase) und Kurt Schwitters. Oder so. Einerseits offenbar tief in traditioneller brasilianischer Musik verwurzelt, dreht er diese andererseits lustvoll auf links und vermischt sie mit allerlei anderen Einflüssen. Cultural cannibalism nennt David Byrne das in den liner notes. Da gibt es ein rhythmisch eigenartig zerhacktes, collagiertes Instrumentalstück (Toc), einen Schmachtfetzen mit (ins Englische übersetzten) Zeilen wie “Whoever looses his roof / Receives the stars in return” (So / Solidao) , einen jubilierenden Chor (Dói), ein völlig zerspieltes A Felicidade und so manch andere Eigenartigkeit. Der Soundtrack von “people watching soap operas on televison in the jungle who a year before didn’t even have electricity. Modern highways running alongside shantytowns. Musical hybrids that combine Afro-Brazilians rhythms with electric guitars. A european lyric and melodic sensibility in combination with the rhythm of the sambas from the Rio favelas.” (liner notes)
Tom Zé mischte Ende der 60er bei den Tropicalistas mit, machte einige Alben, hatte aber nur wenig kommerziellen Erfolg und verschwand dann jahrzehntelang von der Bildfläche. Erst diese Compilation zog ihn wieder in die Öffentlichkeit und läutete ein Comeback ein.
Ob The Best Of Tom Zé wirklich eine repräsentative Compilation ist obwohl sie 15 Stücke von nur drei der insgesamt sieben von 1968 bis 1984 erschienen Alben enthält, muss ich dahingestellt lassen, zumal ich mich mit Tom Zé nur rudimentär auskenne. In jedem Fall macht die Platte neugierig – und erfüllt den Anspruch, den David Byrne in den liner notes von Brazil Classics Vol. 1 – Beleza Tropical formuliert hatte: Eine schöne wilde bittere und süße Panscherei aus Zutaten unterschiedlichster Herkunft.
Btw.: Dank @vorgarten kannte ich das Album schon bevor meinem Besuch auf dem Flohmarkt. Aber es ist einfach was anderes, die Platte als gutes altes Vinyl in der Hand zu halten.
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WerbungMachen wir doch einfach mal mit Tom Zé weiter.
Tom Zé – dto. (1970)
Titel und Cover dieses Albums täuschen ein wenig: es ist weder Tom Zés Debut (das erschien bereits 1968) noch ist es die Arbeit eines nachdenklichen Singer-Songwriters der Lieder zur aktustischen Gitarre vorträgt.
Die Musik von Tom Zé scheint immer igendwie um die Ecke gedacht zu sein: Da gibt es eigenartige Brüche mit abrupten Stimmungswechseln mitten im Stück, Wortspielereien – zumindest was den Klang der Worte betrifft, denn inhaltlich verstehe ich das nicht –, Arrangements zwischen akustischer Gitarre, Streichern und Bläsern und ein deutlicher Rock-Einfluss ist auch nicht zu überhören. Voll-eklektizistisch und dabei originell. Manches klingt tieftraurig, anderes ironisch, kabarettistisch oder einfach nur albern. So ganz genau weiß man nie, wie man mit Tom Zé dran ist – was ihn etwas sperrig aber umso interessanter macht. Oder – warum nicht mal geradeaus gesagt: Tom Zé ist subversiv und hat Spaß dabei. Und das hört man auch, ohne den Wortlaut seiner Texte zu verstehen.
Das ist auf diesem Album zwar kein ganz so wilder Mix wie auf der oben beschriebenen Compilation (das sollte nicht wundern – und btw enthält die Compi kein einziges Stück von diesem Album), aber durchgehend amüsant und spannend.
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„Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)Gestern mal wieder gehört bzw. auch angeschaut:
Marisa Monte – Verdade Uma Ilusão
Ein ganz wunderbarer Auftritt, sowohl in Ton als auch in Bild. Meine Lieblingssängerin der jüngeren Generation, wobei jünger auch schon nicht mehr so ganz zutrifft, sie ist ja nun auch schon 30 Jahre dabei.
Gestern habe ich auch gesehen, dass sie sich vor kurzem wieder mit Arnaldo Antunes und Carlinhos Brown zusammengetan hat, um nach 2003 ein zweites Tribalistas Album aufzunehmen, das Ende August in Brasilien erschienen ist und hoffentlich dann irgendwann auch bei uns.
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Wann kommt Horst Lichter mit dem Händlerkärtchen und knallt mich ab?Noch mehr Marisa Monte: Memórias, Crônicas e Declarações de Amor – Ao Vivo
Ebenfalls ein wunderbarer Mitschnitt von 2001 aus Rio. Ein Highlight hier ist ihre Version von Ontem ao Luar, ein alter Catulo da Paixão Cearense Song, über den ich aber nicht viel in Erfahrung bringen konnte. Da es den Track aber nur hier gibt, lohnt alleine schon deshalb die DVD.
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Wann kommt Horst Lichter mit dem Händlerkärtchen und knallt mich ab?Und weiter geht es mit Marisa. Auch ihre Studio Alben sind durchweg empfehlenswert. In den 90ern wurden ihre Alben von Arto Lindsay produziert und auch schon damals arbeitete sie mit Arnaldo Antunes und Carlinhos Brown zusammen und schrieb mit ihnen zusammen Songs. So auch auf dem 1994 erschienenen Verde, Anil, Amarelo, Cor-de-Rosa e Carvão, das international unter dem Titel Rose And Charcoal veröffentlicht wurde, was aber der einzige Unterschied zum brasilianischen Original ist.
Darauf enthalten ist aber auch eine wunderschöne MPB-Version von Pale Blue Eyes.
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Wann kommt Horst Lichter mit dem Händlerkärtchen und knallt mich ab?Von den vier Alben, die ich von Marisa Monte habe (oder fünf, mit Tribalistas), ist Rose and Charcoal sicher mein Lieblingsalbum.
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To Hell with Povertygo1Von den vier Alben, die ich von Marisa Monte habe (oder fünf, mit Tribalistas), ist Rose and Charcoal sicher mein Lieblingsalbum.
Welche sind denn die anderen?
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Wann kommt Horst Lichter mit dem Händlerkärtchen und knallt mich ab?sparch
go1Von den vier Alben, die ich von Marisa Monte habe (oder fünf, mit Tribalistas), ist Rose and Charcoal sicher mein Lieblingsalbum.
Welche sind denn die anderen?
Mais, A Great Noise sowie Memories, Chronicles and Declarations of Love.
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To Hell with PovertyIch mag ihre letzten Alben noch lieber, insbesondere O Que Você Quer Saber de Verdade, auf dem sich auch das oben verlinkte Verdade, Uma Ilusão befindet. Aber letztendlich hat sie bislang kein schwaches Album gemacht.
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Wann kommt Horst Lichter mit dem Händlerkärtchen und knallt mich ab?Os Mutantes (1968)
Klingt so, als hätte man mit Syd Barrett auf dem Karneval in Rio einen LSD-Trip eingeworfen. Dagegen wirken die Beatles und die Stones, die Dead und das Airplane Ende der 60er irgendwie brav.
Os Mutantes mischten damals ebenso wie Tom Zé bei den Tropicalistas mit und trieben den kulturellen Kannibalismus in ungeahnte Höhen. Hier habe ich entdeckt, dass dieser „antropófago culturalmente“ mit Absicht und System betrieben wurde. Und jetzt weiß ich auch, wo sich die retro-futuristischen Politpopper Stereolab 30 Jahre später (u.a.) inspirieren ließen.
Fantastisches Video:
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„Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)Various Artists – Tropicália: Ou Panis et Circencis (1968)
Die Mutter aller Tropicalia-Alben.
Das Cover parodiert nicht nur ein traditionelles brasilianisches Familienfoto sondern ist natürlich auch eine Referenz an Sgt. Pepper. Und der Titel (panis et circensis = lateinisch für Brot und Spiele) deutet auch an, was da auf uns zukommt.
Eine Kirchenorgel, eine Fahrradklingel – und das ist erst der Anfang dieses bunten Mixes: Verspielte Psychedelia, Tango, Rock, großes show business und ist Três Caravelas von Caetano Veloso und Gilberto Gil ein Cha-Cha? Und am Ende, Hino Do Senhor Do Bonfim? Ein Marsch? Eine Hymne? Recherchen ergaben, das es sich dabei um die inoffizielle Nationalhymne von Bahia handelt, dem nördlich gelegenen, ärmeren und kulturell eigenem Bundesstaat Brasiliens, aus dem die meisten der Musiker auf Tropicália stammen und die hier ihren Platz beanspruchen.
Tropicália ist eine Zusammenarbeit von Caetano Veloso, Gilberto Gil, Os Mutantes, Cal Costa u.a., die mit jeweils eigenen Stücken vertreten sind, auch wenn sich Autorenschaft und Interpretation hier und da vermischen. Tom Zé ist auf dem Cover zu sehen, aber nur auf einem Stück als Autor mit dabei.
Rollenspiele, Verkleidungen, Collagen, Ironie, Provokation. Einiges davon versteht man in Unkenntnis des kulturellen Kontexts und fehlender Sprachkenntnisse nicht so ganz. Was – verdammt noch mal – soll eigentlich Bat Macumba heißen? (eine rhetorische Frage, ich weiß das inzwischen, aber dazu später.) Ein Stück heißt Parque Industrial. Kamen solche Songtitel nicht erst in den 80er Jahren auf?
Brasilien in der Ära zwischen Entwicklungsland und Industrieenation mit der neuen modernistischen Hauptstadt Brasilia mitten im Dschungel und Favelas in Rio de Janeiro, Konflikten zwischen oben und unten, links und rechts, Nord und Süd, zwischen Folklore und Fernsehen – und das alles unter den Bedingungen der Militärdiktatur, die 1964 die Macht übernahm. Tropicália ist der Soundtrack dazu. Das mag aus heutiger Sicht nicht mehr so bizarr wirken, wie es damals wohl geklungen hat (aber immer noch aufregender als Sgt. Pepper!), doch im Vergleich zum fröhlichem Samba und gefälligen Bossa Nova der 50er und 60er schüttelt das die MPB kräftig durch und vermutlich hörte sich die MPB danach nie mehr so an wie zuvor.
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„Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)zélia barbosa: brésil – sertão & favelas (le chant du monde, 1968)
zélia barbosa (voc), raquel chavez (g), max hediguer (b), nelson serra de castro (dm).
da dieses album eines meiner absoluten lieblingsalben mit brasilianischer musik ist, auf den bisherigen listen nicht auftaucht, und gestern endlich die vinylausgabe gekommen ist, mit der ich meinen konsum legalisieren kann, ein paar worte dazu.
zélia barbosa ist (war?) eine nicht sehr bekannte sängerin und schauspielerin aus recife, die abseits der kulturellen zentren in rio und são paulo eine kleine karriere hatte (der ebenfalls aus recife stammende nana vasconcelos nannte sie mal „unsere elis regina“). jedenfalls gelangte sie durch ein katholisches austauschprogramm (wenn ich das richtig verstanden habe) 1967 nach paris, wo sie die möglichkeit hatte, für das kommunistische label „le chant du monde“ eine 12“ mit aktuellen brasilianischen songs in z.t. französischer übersetzung aufzunehmen:
nach dem erfolg dieser aufnahmen nahm sie für das gleiche label mit brasilianischen exilmusikern ein jahr später SERTÃO & FAVELAS auf. das material sind politisch engangierte mpb-songs, aus dem opinião-musical, von lobo, buarque, lira, ricardo usw. auf seite 1 geht es um die landarbeiter, auf seite 2 um die bewohner der favelas und die armen arbeiter in den städten. barbosa singt das inspiriert, klar und selbstbewusst, die band hat einen tollen drive und agiert sehr jazzig. das label hat zwar die songs übersetzt, spart sich aber jegliche informationen über die sängerin und die musiker.
es gibt das album seit langem in der blogosphäre, nachdem es jahrzehntelang verschwunden war, ende der 90er gab es auch eine cd-ausgabe, die so aussieht:
barbosa kehrt danach wieder nach brasilien zurück, sang natürlich eher keine protestsongs mehr, mitte der 70er erschien eine 12“ mit nordöstlicher musik, d.h. mit hohem frevo-anteil:
anfang der 2000er wurde mit ihr in recife noch eine ziemlich kitschige cd produziert (PRA SE VIVER UM AMOR MAIOR). mehr weiß ich leider nicht über sie.
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vorgarten
zélia barbosa: brésil – sertão & favelas (le chant du monde, 1968)
zélia barbosa (voc), raquel chavez (g), max hediguer (b), nelson serra de castro (dm).
da dieses album eines meiner absoluten lieblingsalben mit brasilianischer musik ist, auf den bisherigen listen nicht auftaucht, und gestern endlich die vinylausgabe gekommen ist, mit der ich meinen konsum legalisieren kann, ein paar worte dazu.
zélia barbosa ist (war?) eine nicht sehr bekannte sängerin und schauspielerin aus recife, die abseits der kulturellen zentren in rio und são paulo eine kleine karriere hatte (der ebenfalls aus recife stammende nana vasconcelos nannte sie mal „unsere elis regina“). jedenfalls gelangte sie durch ein katholisches austauschprogramm (wenn ich das richtig verstanden habe) 1967 nach paris, wo sie die möglichkeit hatte, für das kommunistische label „le chant du monde“ eine 12“ mit aktuellen brasilianischen songs in z.t. französischer übersetzung aufzunehmen: (…)Huch, hatte ich völlig übersehen / überhört, @vorgarten. Bossa Nova goes politisches Lied? Anfangs war ich mir gar nicht sicher, ob sie Portugiesisch oder Französisch singt, die beiden Sprachen haben mit ihren weichen Zischlauten und Nasalen doch erheblich Ähnlichkeiten. Schöne, volle und selbstbewusste Stimme!
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„Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)vorgarten
zélia barbosa: brésil – sertão & favelas (le chant du monde, 1968)Danke für den Tipp, @vorgarten. Kannte ich noch nicht, gefällt mir aber gut. Sehr klar und reduziert spielende Band. Bossa Nova höre ich im Gegensatz zu @friedrich aber eher nicht raus. Die Gitarre ist ziemlich im Hintergrund, ich höre fast einen Vorläufer von so etwas wie dem Modell „Stimme plus Drum und Bass“.
wahr
vorgarten zélia barbosa: brésil – sertão & favelas (le chant du monde, 1968)
Danke für den Tipp. Kannte ich noch nicht, gefällt mir aber gut. Sehr klar und reduziert spielende Band. Bossa Nova höre ich im Gegensatz zu friedrich aber eher nicht raus. Die Gitarre ist ziemlich im Hintergrund, ich höre fast einen Vorläufer von so etwas wie dem Modell „Stimme plus Drum und Bass“.
kommt darauf an, worüber wir sprechen. @friedrich hat wohl nur das youtube-video mit den z.t. französischen texten angehört (portugiesisch wird aber auch gesungen, z.b. am anfang), das ist im wesentlichen bossa nova. die sachen auf SERTAO E FAVELAS sind bossa-weiterentwicklungen, die man vielleicht besser schon zur mpb rechnen sollte. das komplette album kann man hier anhören (die animierten fotos haben gar nichts damit zu tun):
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Schlagwörter: Bossa Nova, Brasilien, Brazil, MPB
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