Antwort auf: Brasilien

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friedrich

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Various Artists – Tropicália: Ou Panis et Circencis (1968)

Die Mutter aller Tropicalia-Alben.

Das Cover parodiert nicht nur ein traditionelles brasilianisches Familienfoto sondern ist natürlich auch eine Referenz an Sgt. Pepper. Und der Titel (panis et circensis = lateinisch für Brot und Spiele) deutet auch an, was da auf uns zukommt.

Eine Kirchenorgel, eine Fahrradklingel – und das ist erst der Anfang dieses bunten Mixes: Verspielte Psychedelia, Tango, Rock, großes show business und ist Três Caravelas von Caetano Veloso und Gilberto Gil ein Cha-Cha? Und am Ende, Hino Do Senhor Do Bonfim? Ein Marsch? Eine Hymne? Recherchen ergaben, das es sich dabei um die inoffizielle Nationalhymne von Bahia handelt, dem nördlich gelegenen, ärmeren und kulturell eigenem Bundesstaat Brasiliens, aus dem die meisten der Musiker auf Tropicália stammen und die hier ihren Platz beanspruchen.

Tropicália ist eine Zusammenarbeit von Caetano Veloso, Gilberto Gil, Os Mutantes, Cal Costa u.a., die mit jeweils eigenen Stücken vertreten sind, auch wenn sich Autorenschaft und Interpretation hier und da vermischen. Tom Zé ist auf dem Cover zu sehen, aber nur auf einem Stück als Autor mit dabei.

Rollenspiele, Verkleidungen, Collagen, Ironie, Provokation. Einiges davon versteht man in Unkenntnis des kulturellen Kontexts und fehlender Sprachkenntnisse nicht so ganz. Was – verdammt noch mal – soll eigentlich Bat Macumba heißen? (eine rhetorische Frage, ich weiß das inzwischen, aber dazu später.) Ein Stück heißt Parque Industrial. Kamen solche Songtitel nicht erst in den 80er Jahren auf?

Brasilien in der Ära zwischen Entwicklungsland und Industrieenation mit der neuen modernistischen Hauptstadt Brasilia mitten im Dschungel und Favelas in Rio de Janeiro, Konflikten zwischen oben und unten, links und rechts, Nord und Süd, zwischen Folklore und Fernsehen – und das alles unter den Bedingungen der Militärdiktatur, die 1964 die Macht übernahm. Tropicália ist der Soundtrack dazu. Das mag aus heutiger Sicht nicht mehr so bizarr wirken, wie es damals wohl geklungen hat (aber immer noch aufregender als Sgt. Pepper!), doch im Vergleich zum fröhlichem Samba und gefälligen Bossa Nova der 50er und 60er schüttelt das die MPB kräftig durch und vermutlich hörte sich die MPB danach nie mehr so an wie zuvor.

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„Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)