Notizen zu Aufnahmen klassischer Musik

Ansicht von 3 Beiträgen - 1 bis 3 (von insgesamt 3)
  • Autor
    Beiträge
  • #9943273  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
    Moderator
    Biomasse

    Registriert seit: 25.01.2010

    Beiträge: 67,066

    Ich starte das hier mal als „vanity project“, mehr oder weniger spontan, weil ein halbfertiger Text zu ausführlich wurde, um ihn im Hörthread zu versenken … es soll um CDs gehen, primär um welche, die sich hier angehäuft haben, teils halb angehört, teils ganz, aber grossteils noch überhaupt nicht. Ein Versuch also, abzuarbeiten – doch das klingt anstrengender als es ist, denn Arbeit ist Lust – il faut imaginer Sisyphe heureux, n’est-ce pas? Und wo ein Stein gerollt wird, kommt natürlich auch die Ewigkeit ins Spiel.

    Keine Ahnung, ob das Projekt gedeihen wird, aber ich will es mal versuchen – und bin natürlich gar nicht abgeneigt, wenn jemand anderes sich anschliessen und mitmachen will!

    An dieser Stelle soll ein Index stehen, damit auch rasch ersichtlich wird, welche Aufnahmen hier schon verhandelt wurden.

    ~ ~ ~ ~ ~

    Johannes Ciconia: Opera Omnia – Diabolus in Musica/Antoine Guerber (Ricercar, 2011)

    Edwin Fischer – The Legacy of a Great Pianist: Concert Performances and Broadcasts, 1943-1953 (Music & Arts)
    Yaara Tal – Franz Xaver Mozart, Frédéric Chopin: Polonaise (Sony Classical, 2017)

    --

    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    Highlights von Rolling-Stone.de
    Werbung
    #9943327  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
    Moderator
    Biomasse

    Registriert seit: 25.01.2010

    Beiträge: 67,066

    Edwin Fischer – The Legacy of a Great Pianist: Concert Performances and Broadcasts, 1943- 1953
    Music & Arts, 6 CD, 2001

    BACH
    Klavierkonzert Nr. 2 E-Dur BWV 1053
    Klavierkonzert Nr. 4 A-Dur BWV 1055
    Klavierkonzert Nr. 5 f-Moll BWV 1056 (II & III)
    Konzert für 3 Klaviere d-Moll BWV 1063
    Konzert für Flöte, Violine und Klavier a-Moll BWV 1044

    BEETHOVEN
    Fantasie Op. 77
    Klavierkonzert Nr. 1 C-Dur Op. 15
    Klavierkonzert Nr. 4 G-Dur Op. 58

    BRAHMS
    Klaviersonate Nr. 3 f-Moll Op. 5
    Variationen über ein eigenes Thema, Op. 21 No. 1

    MOZART
    Fantasie c-Moll KV 475
    Klavierkonzert Nr. 2 d-Moll KV 466
    Quintett für Klavier und Bläser Es-Dur KV 452
    Romanze As-Dur KV Anh. 205
    Symphonie Nr. 40 g-Moll KV 550

    WASSENAER (arr. FRANKO)
    Concerto Armonico f-Moll

    Die Kurzversion, nachdem der Post verloren ging, der seit heute Mittag in Arbeit war – ich lerne es nie, aber gerade im neuen Forum das Zeuch in Word zu schreiben ist noch mühsamer … hatte geglaubt, die Zwischenspeicherung sei inzwischen funktionstüchtig, aber falls sie es mal war, ist sie es nicht mehr.

    Also, von vorne. Den Auftakt machen Brahms‘ Variationen über ein eigenes Thema, eingespielt Ende 1949 – und ich bin versucht zu sagen, dass es sich allein deshalb lohnt, auf die Suche nach dieser längst gestrichenen Box zu gehen. Music & Arts und sein kanadischer Ableger West Hill Radio Archives sind wohl ziemlich am Ende, jüngst gab es zwar noch ein paar Boxen, aber die Booklets nur noch als PDF … carpe diem! Wer sich für historische Aufnahmen z.B. von Dirigenten wie Munch, Monteux, Reiner, Mitropoulos, Szell oder Horenstein interessiert, für Aufnahmen von Gruppen wie dem Juilliard Quartet, der Pianisten Artur Schnabel oder Claudio Arrau, dem seien die entsprechenden Veröffentlichungen ans Herz gelegt, auch die Haydn-Box mit dem Schneider Quartet, das nur zur Einspielung vieler Haydn-Streichquartette bestand, sei allerwärmstens empfohlen. Aber gut: Brahms – was Fischer hier bietet ist schlichtweg grandios, zupackend, bestimmt, und mit dem für ihn so kennzeichnenden immensen Farbenreichtum.

    Weiter geht es mit der Fantasie Op. 77 von Beethoven, eingespielt 1952, ein selten gespieltes Stück, in dem Fischers samtener Ansatz schön zur Geltung kommt. Den Rest der ersten CD nimmt dann Beethovens erstes Klavierkonzert ein, das Fischer am 7. oder 8. März 1943 mit den Berliner Philharmonikern vom Klavier aus leitet. Er spielt dabei wie üblich seine eigenen Kadenzen und es gelingt ihm, eine beeindruckende und äusserst stringente Lesart des Werkes zu formen.

    Die zweite CD öffnet mit zwei kürzeren Stücken Mozarts, am 29. Mai 1941 in den Electrola Studios in Berlin eingespielt. An dieser Stelle daher der kurze Exkurs zum leidigen Thema: Fischer kehrte erst 1943 in seine Heimat, die Schweiz, zurück, nach fast vierzig Jahren in Berlin (wo er in frühen Zeiten u.a. beim selben Lehrer war wie Claudio Arrau, der Berlin auch zu seiner Heimat machte – Fischer war neben Artur Schnabel und Walter Gieseking der herausragende Interpret des deutsch-österreichischen Kern-Repertoires für das Klavier, sie wurden alle in den 1880er-Jahren geboren, jeweils im Abstand von zwei Jahren. Fischer kam in Basel am 6. Oktober 1886 zur Welt). Nach den Mozart-Stücken, von denen v.a. die Romanze leider arg unter klanglichen Defiziten leidet, gehört die zweite CD ganz dem gigantischen zweiten Klavierkonzert Johannes Brahms‘. Es gibt davon auch eine bekanntere Studio-Einspielung unter Wilhelm Furtwängler, doch hier steht Hans Münch (ein Cousin von Charles) am Pult des Basler Symphonieorchesters. Die Einspielung stammt vom 16. Februar 1943 und überzeugt mit expressivem, kraftvollem Spiel. Fischer, so ist man versucht zu sagen (und dabei eins dieser unzulässigen Gegensatzpaare zu schaffen), überwindet seinen Lyrismus gegen Ende des ersten Satzes – und man glaubt beinah, zu erleben, wie der monumentale norddeutsche Elephant zu tanzen beginnt.

    Die dritte CD beginnt mit Bachs Klavierkonzert E-Dur BWV 1053, das erste von gleich drei Bach-Konzerten, die am 10. Oktober 1945 in Lausanne (mit dem Kammerorchester) entstanden. Es folgt direkt das Konzert für drei Klaviere d-Moll BWV 1063. In beiden springt Fischer (der wieder vom Klavier aus dirigiert) frei mit dem Notentext um, so spielt er zum Beispiel die Wiederholung des Themas im langsamen Satz von BWV 1053 eine Oktave tiefer (wie auch in der anderen existierenden Aufnahme, so Farhan Malik in seinen Liner Notes). Sehr schön ist, wie Fischer und seine beiden – heute noch vergesseneren – Kollegen Paul Baumgartner und Adrian Aeschbacher sich die Melodien weiterreichen.

    Den Abschluss des CD macht Beethovens viertes Klavierkonzt, eingespielt am 23. Januar 1949 mit dem Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire unter Anatole Fistoulari. Es handelt sich dabei um eine Amateur-Aufnahme ab dem Radio, und leider hört man das ein wenig (die ganze Box ist jedenfalls nichts für Audiophile, aber das ist ja klar). Fischer mag in den schnellen Passagen im Kopfsatz etwas Mühe bekunden, doch wie er die Phrasen fliessen lässt und eine kohärente Lesart des Konzertes formuliert, ist einmal mehr toll – er spielt im ersten Satz seine eigene Kadenz, im Schlusssatz jene von d’Albert.

    Die vierte CD öffnet mit dem dritten Bach-Konzert aus Lausanne (10. Oktober 1945) – und damit beginnt die für ich wohl schwierigste CD der Box. Die Kombination von Querflöte (Edmond de Francesco) und Violine (Giovanni Bagarotti) ist nicht meine liebste. Wenn ich solche Bach-Konzerte für mehrere Solisten hören will (und das kommt bisher selten vor), greife ich zu den Einspielungen von Café Zimmermann, und zwischen denen und Fischer liegen natürlich Welten. Allerdings spielt das Lausanner Orchester ziemlich schnörkellos und oft durchaus kammermusikalisch auf … aber gut, vielleicht begreife ich diese Werke Bachs ja irgendwann (es irritiert mich ja selbst, da ich vieles anderes von Bach über alle Massen schätze, aber auch die Klavierkonzerte zählen da bisher nur beschränkt dazu). Gegen Ende, v.a. im dritten Satz, gefällt mir die Einspielung dann ganz ordentlich, wirkt weniger verzärtelt (oder ich habe mich ans Klangbild gewöhnt, wer weiss).

    Weiter geht es dann mit dem nächsten Stück, zu dem ich bisher keinen richtigen Zugang finden kann, dem Quintett Es-Dur für Klavier und Bläser von Mozart (KV 452). Fischer spielte es ca. 1943 mit Mitgliedern seines Kammerorchesters (also wohl noch in Berlin – er kehrte später 1943 zurück in die Schweiz, als sein Haus bei einem Luftangriff zerstört wurde) ein: Wilhelm Meyer (ob), Paul Blöcher (cl), Gerhard Burdach (horn), Josef Zutter (bsn). Das Spiel ist direkt und zupackend und könnte mir den Zugang durchaus öffnen, vielleicht versuche ich es bald mal wieder …

    Auch das letzte Werk auf der vierten CD ist problematisch, aber weniger weil ich es nicht mag (es interessiert mich aber auch nicht sonderlich), sondern weil Fischer im Scherzo anscheinend eine grössere Abkürzung nimmt: sein Gedächtnis spielte ihm einen Streich, als er am 14. September 1948 für die RAI die dritte Klaviersonate von Brahms einspielte.

    Die fünfte CD gehört dann wieder dem Barock, und das heisst bei Fischer in erster Linie Bach. Das vierte Klavierkonzert (BWV 1055) macht den Auftakt, es ist das erste von drei Werken, die am 25. Oktober 1948 erneut in Lausanne mit Fischer in der Doppelrolle als Solist und Dirigent und dem Kammerochester Lausanne entstanden. Es folgt das damals noch Pergolesi zugeschriebene Concerto Armonico f-Moll von Wassenaer (arr. Franko – damit ist wohl der amerikanische Geiger Sam Franko gemeint), eine etwas langfädige Angelegenheit, in der es aber auch ein paar bezaubernde, intime Momente gibt (seit ein paar Tagen liegt die Koopman-Einspielung von Wassenaers sechs Concerti Armonici auf dem Stapel, mal schauen ob die mir mehr taugt).

    Das dritte Konzert vom 25. Oktober 1948 folgt dann auf CD 6, es handelt sich um Bachs fünftes Klavierkonzert, von dem leider der erste Satz fehlt. Wie schon in BWV 1055 zeigt Fischer im langsamen Satz seine unglaubliche Farbenpalette – und in beiden Konzerten spielt er fast ohne Legato, ohne darob das Gestalten fliessender Linien aus den Augen zu verlieren. Nach dem fünften Konzert ist übrigens noch Fischers eigenes Arrangement des Ricercare a 6 aus dem Musikalische Opfer (BWV 1079) zu hören.

    Der Rest der letzten CD gehört dann Mozart – und nun zwei Werken, die zu meinen allerliebsten gehören. Eingespielt wurden sie beide mit dem Orchestre Municipal de Strasbourg am 11. Juni 1953. Da ist zuerst Mozarts wohl zweitschönstes Klavierkonzert, jenes in d-Moll, Nr. 20, KV 466 – die Blume geht an KV 491, das andere in Moll, aber an sich sind ja wenigstens die mittleren und späten alle irgendwie in Moll, diese immer spürbare Trauer, egal wie tänzerisch fröhlich sie sich an der Oberfläche gerade geben mögen – das macht sie ja gerade so faszinierend. Fischer bekundet keine nennenswerten Probleme, gerade im Schlusssatz glänzt er. Danach hören wir Fischers Lesart der zweitletzten Symphonie Mozarts, auch sie in einer Moll-Tonart geschrieben. Fischer dirigierte sie häufig, überhaupt war er zu Lebzeiten als Dirigent angesehen, was leider heute noch vergessener ist als es sein Klavierspiel ist – aber einfach zu erklären: es gibt kaum Einspielungen, die ihn nur als Dirigenten präsentieren.

    Als Fazit, so das denn nötig ist, liesse sich wohl sagen: eine faszinierende Box, die Einblick ein eine ganz andere Ära des Musizierens erlaubt, als jene in der wir uns heute befinden. Manches mag fremd klingen, „gross“, „romantisch“ – doch wird hier aufrichtig musiziert, Fischer Kunst ist eine überaus menschliche, sein Spiel zeugt von grosser Wärme. Fischer, das sollte nicht vergessen gehen, war auch der erste, der in den Dreissigerjahren das komplette Wohltemperierte Klavier einspielte – eine Aufnahme, die sich neben den durchgeknallten Brandenburgischen Konzerten Alfred Cortots oder den überaus überraschenden Orchestersuiten Adolf Buschs durchaus sehen lassen können.

    --

    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #10460313  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
    Moderator
    Biomasse

    Registriert seit: 25.01.2010

    Beiträge: 67,066

    aus dem Hörthread hier rübergeholt:

    Polonaisen also, hmmm. Gestern lief noch einmal die erste CD aus der Magaloff-Box (die älteren Cover aus den Siebzigern sind fast sämtlich grauenvoll, drum immer wieder die Box) mit den ersten – bzw. den bekannten (das sind eigentlich nur sieben: die je zwei aus Opp. 26 und 40, dann Op. 44, die „Heroische“ Op. 53 sowie die Polonaise-Fantaisie Op. 61, mit den drei aus Op. posth. 71, von denen bei Magaloff die erste am Schluss der besagten CD steht, beginnen die weniger bekannte – acht von Chopin, die zweite CD enthält weitere, die kaum bekannt sind und selten (ein)gespielt werden, soweit ich weiss. Solche umfassenden Einspielungen habe ich nur drei an der Zahl: Ugorski (von ihm sind die seltenen in der DG-Chopin-Edition, die hier steht – die betreffende CD noch ungehört; für die bekannten hat man dort Pollini), Magaloff und Fiorentino.

    Ich kann weiterhin nicht sagen, dass mir diese Dinger besonders nah gehen, aber ich halte Magaloff auch weiterhin nicht für den geeigneten Polonaisen-Mann. Von denen, die den ganzen Chopin gemacht haben, vielleicht am ehesten Rubinstein, Samson François auch eher nicht, Fiorentino habe ich nicht im Ohr, und Pollini brauche ich da wohl eher auch nicht. Aber eben: Malcuzynski war der Mann, bei dem sich mir die Dinger wirklich erschlossen, und auf dem Weg dahin, zwischen M. und Rubinstein quasi, noch György Cziffra.

    Chopin aber, das ist für mich, @clasjaz, in erster Linie einmal: die Nocturnes – die hast Du unterschlagen, ich hoffe, das war bloss ein Lapsus? Dann die Scherzi und Balladen, die Préludes … und dann erst, bei mir, die Études, und zuletzt die Tänze – Walzer, Mazurkas, Polonaisen – mit denen ich mich immer noch etwas abmühe, wobei die Mazurkas manchmal wie Öl runtergehen, aber nur selten gehört werden.

    Aber gut, die Diskussion über die Polonaisen – was sind eigentlich Polonaisen, mal vom Samstagabend-Schlager-TV-Tazelwurm abgesehen? – erinnerte mich an die CD von Yaara Tal, die vor ein paar Monaten erschienen ist (noch 2017 jedenfalls, aber ich habe sie erst im Februar oder so entdeckt). Tal spielt hier zehn Polonaises mélancoliques von Franz Xaver M. (1791–1844), Sohn des Wolferl (Franz Xaver kam allerdings erst vier Monate vor dem Tod des Vaters zur Welt) und der ehrgeizig-einfältigen C., die ihn zu W.A. fils machte und in das Schicksal förmlich presste. Dass er – in Galizien, wohin es ihn mit 17 Jahren verschlug – am Druck nicht zerbrach sondern durchaus in der Lage war, Musik mit eigenem Charakter zu schaffen, zeigen diese zehn Stücke aus den Jahren 1811–14 (6 Polonaises mélancoliques Op. 17) bzw. 1815–18 (4 Polonaises mélancoliques Op. 22). Das Schema der Stücke ist einfach: Moll zum Einstieg und zum Ausklang, dazu ein Mittelteil in Dur.

    Den Durchbruch schaffte Franz Xaver nicht, aber dass er überhaupt in der Lage war, zur „Verheißung“ zu werden, wie Yaara Tal in ihren einleitenden Worten im CD-Booklet schreibt, ist schon mehr, als mancher Sohn geschafft hat:

    Yaara Tal
    Weisen die zahlreichen Variationswerke für Klavier auf die virtuose und eigenwillige Benutzung der Tastatur und der Hand hin, so offenbaren die Polonaisen den Drang und die Sehnsucht nach einer neuen Welt und Ausdrucksweise, die nicht mehr in der Klassik verwurzelt ist. Doch wohin und wie weit die seelische Wanderung noch hätte führen können, bleibt im Ungewissen, da die Zeit und der Geist dafür noch nicht reif waren.

    Aber just dieses Schweben in stilistischer Ungewissheit, das Bekenntnis zum Bezug-Entzug verleiht diesen Piecen ihren eigentümlichen Reiz. Und es mutet beinahe paradox an, dass der Ausdruck einer so vagen Befindlichkeit im Laufe der Entstehungszeit der Polonaisen an Klarheit und Kühnheit noch gewinnt! Besonders charakteristisch sind die unzähligen Ausführungszeichen, die Dynamik und Tempo betreffen. Da könnte es Franz Xaver durchaus mit Mahler und Reger aufnehmen! Die Anweisungen für die Spieler sind bisweilen recht widersprüchlich und deuten in diverse Richtungen – und dies auf engstem Raum. Damit hob er sich klar von der Praxis des Vaters ab, der mit solchen Empfehlungen bekanntlich höchst sparsam umging. Ähnlich hingegen ist Franz Xaver dem Vater, wenn es um die perfekte Bildung der Harmonie auf der Tastatur, um das Verteilen der Töne, um vollkommene Balance und polyphone Stimmführung geht, die für beide Mozarts gleichermaßen charakteristisch sind.

    „Das Unbehaustsein“, so Tal weiter, „wurde zum integralen Bestandteil seines Gefühlslebens, das er aushalten musste“ – da war der übermächtige Vater, die ehrgeizige Mutter, und schliesslich die Frau seines Lebens, die bereits vergeben war, aber Franz Xavers Liebe erwiderte. Tal sieht die Polonaisen denn als Werke, die den Weg in die Romantik aufzeigen: „Keiner vor ihm hat dieses so eigentümliche Lebensgefühl der Polonaisen so zu gestalten gewusst wie er, und viele Wendungen, Gesten, Linien und rhythmische Motive, die er miteinander verwob, fanden später den Weg in das, was wir Romantik nennen.“

    Der junge Chopin wiederum komponierte „während seiner Kindheit ausschließlich Polonaisen“. Dass er Franz Xaver Mozarts Zyklen kannte, ist nicht belegt, aber auch nicht auszuschliessen. Ebensowenig, dass Chopin den konzertierenden Mozart in Warschau gehört hat. Ein lustiges Detail erwähnt Tal am Ende ihres Textes noch: John Fields, dessen Einfluss auf Chopin (Nocturnes) inzwischen gut dokumentiert sei, teilt den Geburtstag mit Franz Xaver Mozart (26. Juli).

    Mehr Licht auf die Polonaises mélancoliques wirft Armin Brinzing im zweiten Text im CD-Booklet. Das fängt mit der Übersiedelung nach Galizien an. Nach ersten Anstellungen bei polnischen Adelsfamilien zog er 1813 nach Lemberg, um für die Familie Baroni-Cavalcabò als Klavierlehrer zu arbeiten, im Dezember 1818 begann er eine zweijährige Konzertreise, lebte dann ein Jahr in Wien, war 1822 wieder in Lemberg bei den Baroni-Cavalcabò, mit denen er 1838 schliesslich nach Wien übersiedelte.

    Armin Brinzing
    Mit seiner Übersiedlung nach Galizien begab sich Mozart in ein völlig neues kulturelles Umfeld. Jahrhunderte lang hatte die Region zu Polen gehört, erst seit der ersten Teilung Polens im Jahr 1772 war sie Teil der Habsburgermonarchie. Für Mozart, der seinen Lebensunterhalt vor allem durch Klavierunterricht bestritt, lag es nahe, als Reverenz an seine Dienstherren und seine neue Heimat der Polonaise besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Alle Werke stimmen in ihrem formalen Grundplan überein: Auf einen in Moll stehenden ersten Teil folgt ein kontrastierendes „Trio“ in Dur, worauf der erste Teil wiederholt wird.

    […]

    Mit seinen Polonaises mélancoliques bediente Mozart zwar eine seinerzeit über den polnischen Kulturkreis hinaus populäre Gattung, doch schon ein zeitgenössischer Rezensent betonte im Blick auf die Polonaisen Opus 22 deren besonderen Rang:
    „Ein eigenthümlicher, mannichfaliger, pathetischer Ausdruck herrscht in diesen vortrefflichen Sätzen. Sie heißen mit Recht melancholisch; doch darf man nicht gerade eine finstere Schwermuth oder eine düstere Leidenschaft in wilder Unruhe darin erwartet, sondern nur mehr eine sanfte, gemäßigte Melancholie, oder doch eine solche, die wenigstens mit süßeren Empfindungen wechselt und durch sie gemildert wird, also etwas der elegischen Dichtung Aehnliches.“

    Tatsächlich ist bei vielen der Werke kaum noch etwas vom Ursprung der Polonaise als einem Tanz zu erkennen. Vielmehr herrscht oft ein gesanglicher Charakter vor, der an Äußerungen des Siebzehnjährigen erinnert, als er seinem älteren Bruder Carl Thomas anvertraute, er höre viel lieber die schlichten Lieder seines Vaters „als eine meisterhaft instrumentirte, aber empfindungslose nichts sagende Simphonie.“ Dass sich Mozart in seinem Schaffen auf kleinere Formen konzentrierte, lag also keinesfalls allein an den beschränkten Möglichkeiten seiner neuen galizischen Heimat, wo ihm nur gelegentlich ein größeres Ensemble zur Verfügung stand. Vielmehr erschienen ihm die kleineren, intimen Gattungen (vor allem das Lied und die Klaviermusik) als besonders geeignete Ausdrucksformen.

    Es ist gut möglich, dass es gerade die Offenheit von Franz Xaver Mozarts Stücken ist, die mich anspricht … die grossen Polonaisen von Chopin haben – nicht nur die so benannte Op. 40 Nr. 1 – oft etwas „Militärisches“, aus dem Tanz wird eine Art unaufhaltsamer Marsch (der Weg von den damaligen Gesellschaftstänzen dahin war ja auch nicht sehr weit, dünkt mich). Die frühen Polonaisen von Chopin, die ich gerade mit Anatol Ugorski, finde ich diesbezüglich auch wieder fast ansprechender, weil bescheidener im Gestus – allerdings neigen sie, um das obige Zitat aufzugreifen, viel eher zur „finstere[n] Schwermuth oder eine[r] düstere[n] Leidenschaft in wilder Unruhe“, was sie wiederum vom Charakter her von den Mozart’schen Stücken deutlich abhebt – und was sie auch, und das ist ja bei Kindheitswerken erstaunlich genug, schon deutlich als Werke Frédéric Chopins erkennen lässt, auch wenn er sich als er sie in Warschau komponierte, noch Fryderyk nannte.

    Man findet diese vom ersten Eindruck her sehr ansprechenden Ugorski-Einspielungen nebst der „Chopin – Complete Edition“ (DG, 17 CD, 2009) auch in einer Doppel-CD, deren Inhalt exakt dem von CDs 9 und 10 der Box entspricht, also auf der ersten die sieben bekannten Polonaisen mit Pollini (1976), auf der zweiten zum Auftakt Marta Argerich (1975) mit dem Andante spianato mit der Grande Polonaise brillante (Op. 22 – das Werk fehlt übrigens in der Einspielung von Magaloff), dann Ugorski (1999) mit den restlichen Polonaisen (Op. posth. 71 Nr. 1-3 sowie sechs weitere ohne Opus-Nummer, ausser jener in g-Moll alles als „Op. posth.“ angegeben. Von diesen insgesamt neun hat Yaara Tal für ihre CD drei ausgewählt (As-Dur KK IVa No. 2 von 1821, h-Moll KK IVa No. 5 von 1826 und Ges-Dur KK IVa No. 8 von 1829 – bei DG gibt man leider keine Jahreszahlen an, die Tonarten allein reichen nicht, denn es gibt zwei b-Moll – und auch Op. posth. 71/2 ist in der Tonart) – aber eben: bei Fiorentino, Magaloff und Urgorski gibt es sie alle (und in diesem Verzeichnis, das ich nicht kenne, lauten die Nummern derjenigen ohne reguläre bzw. posthume Opus-Nr.: KK IIa No. 1 und No. 8 sowie KK IVa No. 1-3 und No. 5 – es gibt die sieben bekannten, die drei posthumen aus Op. 71 und dann die sechs weiteren, in den Jahren 1817 bis 1829 komponierten – die letzte, IIa No. 8 – stammt damit wohl schon aus Frankreich, die anderen fünf stammen aus der Kindheit und Jugend in Warschau). Die Ugorski et al-Einspielung (es scheint, dass Ugorskis Aufnahmen 1999 extra für eine solche Gesamtaufnahme gemacht wurden) enthält von Ugorski auch noch diverse kleinere Stücke – Details.

    Aufmerksam wurde ich auf die CD von Yaara Tal durch Peter Hagmann:
    http://www.peterhagmann.com/?tag=tal-yaara

    --

    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
Ansicht von 3 Beiträgen - 1 bis 3 (von insgesamt 3)

Schlagwörter: ,

Du musst angemeldet sein, um auf dieses Thema antworten zu können.