Antwort auf: Notizen zu Aufnahmen klassischer Musik

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Edwin Fischer – The Legacy of a Great Pianist: Concert Performances and Broadcasts, 1943- 1953
Music & Arts, 6 CD, 2001

BACH
Klavierkonzert Nr. 2 E-Dur BWV 1053
Klavierkonzert Nr. 4 A-Dur BWV 1055
Klavierkonzert Nr. 5 f-Moll BWV 1056 (II & III)
Konzert für 3 Klaviere d-Moll BWV 1063
Konzert für Flöte, Violine und Klavier a-Moll BWV 1044

BEETHOVEN
Fantasie Op. 77
Klavierkonzert Nr. 1 C-Dur Op. 15
Klavierkonzert Nr. 4 G-Dur Op. 58

BRAHMS
Klaviersonate Nr. 3 f-Moll Op. 5
Variationen über ein eigenes Thema, Op. 21 No. 1

MOZART
Fantasie c-Moll KV 475
Klavierkonzert Nr. 2 d-Moll KV 466
Quintett für Klavier und Bläser Es-Dur KV 452
Romanze As-Dur KV Anh. 205
Symphonie Nr. 40 g-Moll KV 550

WASSENAER (arr. FRANKO)
Concerto Armonico f-Moll

Die Kurzversion, nachdem der Post verloren ging, der seit heute Mittag in Arbeit war – ich lerne es nie, aber gerade im neuen Forum das Zeuch in Word zu schreiben ist noch mühsamer … hatte geglaubt, die Zwischenspeicherung sei inzwischen funktionstüchtig, aber falls sie es mal war, ist sie es nicht mehr.

Also, von vorne. Den Auftakt machen Brahms‘ Variationen über ein eigenes Thema, eingespielt Ende 1949 – und ich bin versucht zu sagen, dass es sich allein deshalb lohnt, auf die Suche nach dieser längst gestrichenen Box zu gehen. Music & Arts und sein kanadischer Ableger West Hill Radio Archives sind wohl ziemlich am Ende, jüngst gab es zwar noch ein paar Boxen, aber die Booklets nur noch als PDF … carpe diem! Wer sich für historische Aufnahmen z.B. von Dirigenten wie Munch, Monteux, Reiner, Mitropoulos, Szell oder Horenstein interessiert, für Aufnahmen von Gruppen wie dem Juilliard Quartet, der Pianisten Artur Schnabel oder Claudio Arrau, dem seien die entsprechenden Veröffentlichungen ans Herz gelegt, auch die Haydn-Box mit dem Schneider Quartet, das nur zur Einspielung vieler Haydn-Streichquartette bestand, sei allerwärmstens empfohlen. Aber gut: Brahms – was Fischer hier bietet ist schlichtweg grandios, zupackend, bestimmt, und mit dem für ihn so kennzeichnenden immensen Farbenreichtum.

Weiter geht es mit der Fantasie Op. 77 von Beethoven, eingespielt 1952, ein selten gespieltes Stück, in dem Fischers samtener Ansatz schön zur Geltung kommt. Den Rest der ersten CD nimmt dann Beethovens erstes Klavierkonzert ein, das Fischer am 7. oder 8. März 1943 mit den Berliner Philharmonikern vom Klavier aus leitet. Er spielt dabei wie üblich seine eigenen Kadenzen und es gelingt ihm, eine beeindruckende und äusserst stringente Lesart des Werkes zu formen.

Die zweite CD öffnet mit zwei kürzeren Stücken Mozarts, am 29. Mai 1941 in den Electrola Studios in Berlin eingespielt. An dieser Stelle daher der kurze Exkurs zum leidigen Thema: Fischer kehrte erst 1943 in seine Heimat, die Schweiz, zurück, nach fast vierzig Jahren in Berlin (wo er in frühen Zeiten u.a. beim selben Lehrer war wie Claudio Arrau, der Berlin auch zu seiner Heimat machte – Fischer war neben Artur Schnabel und Walter Gieseking der herausragende Interpret des deutsch-österreichischen Kern-Repertoires für das Klavier, sie wurden alle in den 1880er-Jahren geboren, jeweils im Abstand von zwei Jahren. Fischer kam in Basel am 6. Oktober 1886 zur Welt). Nach den Mozart-Stücken, von denen v.a. die Romanze leider arg unter klanglichen Defiziten leidet, gehört die zweite CD ganz dem gigantischen zweiten Klavierkonzert Johannes Brahms‘. Es gibt davon auch eine bekanntere Studio-Einspielung unter Wilhelm Furtwängler, doch hier steht Hans Münch (ein Cousin von Charles) am Pult des Basler Symphonieorchesters. Die Einspielung stammt vom 16. Februar 1943 und überzeugt mit expressivem, kraftvollem Spiel. Fischer, so ist man versucht zu sagen (und dabei eins dieser unzulässigen Gegensatzpaare zu schaffen), überwindet seinen Lyrismus gegen Ende des ersten Satzes – und man glaubt beinah, zu erleben, wie der monumentale norddeutsche Elephant zu tanzen beginnt.

Die dritte CD beginnt mit Bachs Klavierkonzert E-Dur BWV 1053, das erste von gleich drei Bach-Konzerten, die am 10. Oktober 1945 in Lausanne (mit dem Kammerorchester) entstanden. Es folgt direkt das Konzert für drei Klaviere d-Moll BWV 1063. In beiden springt Fischer (der wieder vom Klavier aus dirigiert) frei mit dem Notentext um, so spielt er zum Beispiel die Wiederholung des Themas im langsamen Satz von BWV 1053 eine Oktave tiefer (wie auch in der anderen existierenden Aufnahme, so Farhan Malik in seinen Liner Notes). Sehr schön ist, wie Fischer und seine beiden – heute noch vergesseneren – Kollegen Paul Baumgartner und Adrian Aeschbacher sich die Melodien weiterreichen.

Den Abschluss des CD macht Beethovens viertes Klavierkonzt, eingespielt am 23. Januar 1949 mit dem Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire unter Anatole Fistoulari. Es handelt sich dabei um eine Amateur-Aufnahme ab dem Radio, und leider hört man das ein wenig (die ganze Box ist jedenfalls nichts für Audiophile, aber das ist ja klar). Fischer mag in den schnellen Passagen im Kopfsatz etwas Mühe bekunden, doch wie er die Phrasen fliessen lässt und eine kohärente Lesart des Konzertes formuliert, ist einmal mehr toll – er spielt im ersten Satz seine eigene Kadenz, im Schlusssatz jene von d’Albert.

Die vierte CD öffnet mit dem dritten Bach-Konzert aus Lausanne (10. Oktober 1945) – und damit beginnt die für ich wohl schwierigste CD der Box. Die Kombination von Querflöte (Edmond de Francesco) und Violine (Giovanni Bagarotti) ist nicht meine liebste. Wenn ich solche Bach-Konzerte für mehrere Solisten hören will (und das kommt bisher selten vor), greife ich zu den Einspielungen von Café Zimmermann, und zwischen denen und Fischer liegen natürlich Welten. Allerdings spielt das Lausanner Orchester ziemlich schnörkellos und oft durchaus kammermusikalisch auf … aber gut, vielleicht begreife ich diese Werke Bachs ja irgendwann (es irritiert mich ja selbst, da ich vieles anderes von Bach über alle Massen schätze, aber auch die Klavierkonzerte zählen da bisher nur beschränkt dazu). Gegen Ende, v.a. im dritten Satz, gefällt mir die Einspielung dann ganz ordentlich, wirkt weniger verzärtelt (oder ich habe mich ans Klangbild gewöhnt, wer weiss).

Weiter geht es dann mit dem nächsten Stück, zu dem ich bisher keinen richtigen Zugang finden kann, dem Quintett Es-Dur für Klavier und Bläser von Mozart (KV 452). Fischer spielte es ca. 1943 mit Mitgliedern seines Kammerorchesters (also wohl noch in Berlin – er kehrte später 1943 zurück in die Schweiz, als sein Haus bei einem Luftangriff zerstört wurde) ein: Wilhelm Meyer (ob), Paul Blöcher (cl), Gerhard Burdach (horn), Josef Zutter (bsn). Das Spiel ist direkt und zupackend und könnte mir den Zugang durchaus öffnen, vielleicht versuche ich es bald mal wieder …

Auch das letzte Werk auf der vierten CD ist problematisch, aber weniger weil ich es nicht mag (es interessiert mich aber auch nicht sonderlich), sondern weil Fischer im Scherzo anscheinend eine grössere Abkürzung nimmt: sein Gedächtnis spielte ihm einen Streich, als er am 14. September 1948 für die RAI die dritte Klaviersonate von Brahms einspielte.

Die fünfte CD gehört dann wieder dem Barock, und das heisst bei Fischer in erster Linie Bach. Das vierte Klavierkonzert (BWV 1055) macht den Auftakt, es ist das erste von drei Werken, die am 25. Oktober 1948 erneut in Lausanne mit Fischer in der Doppelrolle als Solist und Dirigent und dem Kammerochester Lausanne entstanden. Es folgt das damals noch Pergolesi zugeschriebene Concerto Armonico f-Moll von Wassenaer (arr. Franko – damit ist wohl der amerikanische Geiger Sam Franko gemeint), eine etwas langfädige Angelegenheit, in der es aber auch ein paar bezaubernde, intime Momente gibt (seit ein paar Tagen liegt die Koopman-Einspielung von Wassenaers sechs Concerti Armonici auf dem Stapel, mal schauen ob die mir mehr taugt).

Das dritte Konzert vom 25. Oktober 1948 folgt dann auf CD 6, es handelt sich um Bachs fünftes Klavierkonzert, von dem leider der erste Satz fehlt. Wie schon in BWV 1055 zeigt Fischer im langsamen Satz seine unglaubliche Farbenpalette – und in beiden Konzerten spielt er fast ohne Legato, ohne darob das Gestalten fliessender Linien aus den Augen zu verlieren. Nach dem fünften Konzert ist übrigens noch Fischers eigenes Arrangement des Ricercare a 6 aus dem Musikalische Opfer (BWV 1079) zu hören.

Der Rest der letzten CD gehört dann Mozart – und nun zwei Werken, die zu meinen allerliebsten gehören. Eingespielt wurden sie beide mit dem Orchestre Municipal de Strasbourg am 11. Juni 1953. Da ist zuerst Mozarts wohl zweitschönstes Klavierkonzert, jenes in d-Moll, Nr. 20, KV 466 – die Blume geht an KV 491, das andere in Moll, aber an sich sind ja wenigstens die mittleren und späten alle irgendwie in Moll, diese immer spürbare Trauer, egal wie tänzerisch fröhlich sie sich an der Oberfläche gerade geben mögen – das macht sie ja gerade so faszinierend. Fischer bekundet keine nennenswerten Probleme, gerade im Schlusssatz glänzt er. Danach hören wir Fischers Lesart der zweitletzten Symphonie Mozarts, auch sie in einer Moll-Tonart geschrieben. Fischer dirigierte sie häufig, überhaupt war er zu Lebzeiten als Dirigent angesehen, was leider heute noch vergessener ist als es sein Klavierspiel ist – aber einfach zu erklären: es gibt kaum Einspielungen, die ihn nur als Dirigenten präsentieren.

Als Fazit, so das denn nötig ist, liesse sich wohl sagen: eine faszinierende Box, die Einblick ein eine ganz andere Ära des Musizierens erlaubt, als jene in der wir uns heute befinden. Manches mag fremd klingen, „gross“, „romantisch“ – doch wird hier aufrichtig musiziert, Fischer Kunst ist eine überaus menschliche, sein Spiel zeugt von grosser Wärme. Fischer, das sollte nicht vergessen gehen, war auch der erste, der in den Dreissigerjahren das komplette Wohltemperierte Klavier einspielte – eine Aufnahme, die sich neben den durchgeknallten Brandenburgischen Konzerten Alfred Cortots oder den überaus überraschenden Orchestersuiten Adolf Buschs durchaus sehen lassen können.

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