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JOHN COLTRANE – Olé Coltrane (Atlantic 1960)
John Coltrane – ts, ss (#1)
George Lane – fl (#1), as
McCoy Tyner – p
Freddie Hubbard – tp
Reggie Workman – b
Art Davis – b (#1,#2)
Elvin Jones – drA1 Olé
B1 Dahomey Dance
B2 AishaJazz zu verstehen fällt mir schwer, über Jazz zu schreiben scheint ein noch schwierigeres Unterfangen, gerade für einen Weißen, der über ein LP schreiben möchte, die vor 50 Jahren für ein komplett anderes Publikum aufgenommen wurde. Jazz war ursprünglich Musik von Schwarzen für Schwarze und im Vergleich zu Popmusik stelle ich mir vor, dass es für die Rezeption der Musik noch wichtiger ist, sich in die Situation des Amerika der 50er und 60er Jahre hineinzuversetzen, um diese Musik zu spüren, zu verstehen, nachzuvollziehen und letztendlich zu lieben.
John Coltrane war ein getriebener und, wie oft beschrieben wird, ein suchender und rastloser Mann. In kürzester Zeit lotete er den Hard Bop und den modalen Jazz bis an seine Grenzen aus, entwickelte seine Sheets of Sounds und driftete ab und auf in Spiritualität und verhalf dem New Thing! zur Popularität. Olé Coltrane war die LP, die entscheidend dazu beitrug, dass meine Faszination von Coltranes Spiel in Begeisterung umschlug. Zeitlich war Olé Coltrane die letzte LP die Coltrane für Atlantic einspielte bevor er zum neu gegründeten Impulse! Label wechselte. Spätestens seit Giant Steps und seiner Mitwirkung an Kind Of Blue war Trane in die Reihen der absoluten Superstars aufgestiegen. Er nahm Richard Rodgers legendäres „My Favorite Things“ auf, welches nicht zuletzt wegen Tranes Reaktivierung des seltenen Sopransaxophons zum Erfolg und Hit wurde. Wie beschrieben war Coltrane nie jemand, der sich auf seinem Erfolg ausruhte und so suchte er immer weiter nach neuen Impulsen. Zwei Tage nach der ersten Session für sein erstes Impulse! Album Africa/Brass, auf welchem er mit einer Big Band experimentierte, traf sich Coltrane mit einem Teil der Big Band, um Olé Coltrane einzuspielen. Möglicherweise angespornt durch Davis Erfolg mit dem von Gil Evans orchestral arrangierten Sketches Of Spain, versuchte Trane auf seine eigene Art spanische Motive in sein Spiel zu integrieren. Dies gelang zwar nicht und wurde doch und vielleicht gerade deswegen so gut:
Olé beginnt mit dem Zupfen tiefer Basstöne und McCoy Tyners monotonen, zwischen Dur und Moll wechselndem Klavierspiel. Trane bediente sich wie auf „My Favorite Things“ dem Sopransaxophons und wurde unterstützt durch den Eric Dolphy (Flöte), der sich aus vertragsrechtlichen Gründen George Lane nannte. Ebenfalls dabei war Freddie Hubbard an der Trompete und mit Art Davis und Reggie Workman zwei Männer am Bass. In über 18 Minuten kreist „Olé“ im 6/8 Takt um die gleichen Akkorde ohne zu langweilen, im Gegenteil, wie ein Strudel zieht es einen in seinen Bann.
Dolphys ekstatischer Flöte hört sich wie ein Schrei nach Freiheit, wie Fernweh nach einem besseren Ort an und auch wenn alles in- und umeinander kreist, spürt man die Entfaltung der Musiker und wie sie einen mit auf eine Reise nehmen. Der etwas zu routinierte Hubbard erinnert mit seinem hymnischen Impetus an Miles Davis und signalisiert eine Aufbruchstimmung die übergreift in Tyners dringliches, teils hektisches abgehacktes, teils subtiles Solo. Mir gefällt besonders gut das celloartige Solo, welches kurz das Thema aufgreift und sich dann auf Wanderschaft begibt. Coltrane selbst umspielt am freiesten das Thema, erinnert in kurzen, schnellen Tonabfolgen an seine alten Klangflächen und wirkt mehr als alle anderen Solisten getrieben. Ein letztes Mal faucht er förmlich in sein Sopran und entlockt diesem flache Blue Notes. Am Ende der Reise scheint er wieder versöhnt und streichelt das Thema ein letztes Mal mit subtilen, leisen Tönen. „Olé“ ist für mich ein Befreiungsschlag gegenüber Diskriminierung und Rassismus, ein Changieren zwischen der Hoffnung auf Besserung in einer fernen Zeit (einem fernen Land) und dem sich nicht Ergeben und Weitermachen.
Die B Seite kann damit nicht ganz mithalten und zeigt doch eine wunderbare, lyrische Seite an Coltrane. Der Sound klingt zufriedener, als sei Trane angekommen an den Ort seiner Wahl. Sein eigenes „Dahomey Dance“ klingt wie das Ende einer Feier mit versöhnlichen Tönen von Hubbard, schrägen Schlangenlinien von Dolphy am Altsaxophon, einer sehr swingenden Rhythmusgruppe während Tyner unglaublich schnelle Läufe am Klavier zelebriert. Tyners „Aisha“ ist die nächtliche Ballade am Schluss, unser Hauptakteur wirkt müde, verletzlich und selten klang sein Tenor im klassischen und besten Sinne so schön wie hier. Was für mich Olé Coltrane zu dem vielleicht stärksten Album Coltrane macht kann ich schwer sagen: Es mag die stimmige Umsetzung der einzelnen Geschichten sein, das tranceartige Dröhnen des Titelsongs oder die unterschwellige Melancholie, die alle Songs durchzieht. Vielleicht war Trane für mich nie zeitgleich dringlicher, schöner, wichtiger als hier.
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WerbungToll, Nikodemus! Ich finde auch, dass es eine Herausforderung ist, über Jazz zu schreiben, aber Dir ist das doch prima gelungen. „Olé Coltrane“ ist übrigens eines der paar Alben von Coltrane, die ich noch nicht kenne. Ist aber nun auf der Liste.
Nicht sicher bin ich mir mit Deiner Aussage, Jazz sei ursprünglich eine Musik von Schwarzen für Schwarze gewesen. Das kann man für die 50s und 60s sicherlich nicht kategorisch sagen, und im Grunde liegt ja schon der Ursprung des Jazz in der Vermischung von schwarzen und weißen musikalischen Formen – und auch zu Gründerzeiten gab es schon weiße Jazz-Musiker und ein weißes Publikum für Jazz.
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I like to move it, move it Ya like to (move it)Vielleicht habe ich mich auch missverständlich ausgedrückt, sicherlich gab es auch viele weiße Jazzmusiker, aber gerichtet war die Musik doch größtenteils an Schwarze und evtl. intellektuelle Weiße, die empfänglich für Jazz waren. Dass es auch wichtige einflussreiche europäische Jazzer gab und eine europäische Szene ist sowieso klar. Ich will mich aber auch nicht zu weit aus dem Fenster lehen, Atom oder Hat kennen sich dort bestimmt besser aus.
Das ganze soll aber nicht von dem tollen Album ablenken, wenn du Olé noch nicht kennst, würde ich es dir gerne ans Herz legen.
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and now we rise and we are everywhereAngeregt von Deinem Beitrag habe ich mir das Album heute wieder mal eingelegt. Ich finde Deine Beschreibung des Albums wirklich gelungen, aber inhaltlich vertrete ich eine andere Meinung. Natürlich ist Olé kein schlechtes Album, aber es fasziniert mich nicht so sehr wie Dich. Ich will Dir Deine Begeisterung keinesfalls absprechen, aber der lange Titeltrack mäandert mir zu sehr und enthält aus meiner Sicht viel zu wenig Coltrane. Dolphys Flöte ist ebenfalls nur wenig präsent, so dass viel auf McCoy Tyners Schultern ruht, dessen Beitrag zu Olé ich als nicht übermäßig spannend empfinde. Es fehlt mir im gesamten Stück etwas der Zusammenhalt. Dahomey Dance und Aisha gefallen mir eindeutig besser, auch wenn beide weitaus konventioneller sind.
Von den vier Coltrane-Alben, die 1962 veröffentlicht wurden, gefällt es mir am wenigsten, erhält aber immer noch **** (Olé ***1/2, Seite B ****1/2). Sowohl Coltrane (Impulse!) also auch Africa/Brass und Live At The Village Vanguard sind aus meiner Sicht gelungener.
Während ich das Album eher als „afterthought“ zu den fast durchgängig tollen Atlantic-Sessions sehe, gibt es aber offensichtlich sehr viele Musikfans, die das Album sehr schätzen. Bei RYM erhält es eine sehr hohe Bewertung, wobei viele in den Kritiken auch Olé loben. Da sich mir dessen Faszination bislang entzieht, muss ich wohl einfach hinnehmen, dass sie etwas hören, was mir entgeht.
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Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.So ähnlich wie es dir mit OLE COLTRANE geht, geht es mir mit COLTRANE (Impulse!), das Hauptstück Out Of This World mäandert mir zu lange rum, ohne dass Tyner interessant genug spielt, um Aufmerksamkeit zu bekommen, Coltrane bläst mir zudem etwas ziellos. Ich mag generell, wenn die Themen in den Improvisationen durchscheinen, was Monk ja so großartig konnte. Auf COLTRANE mag ich deswegen besonders Soul Eyes mit Tranes versunkenem, kontemplativem Spiel und Elvin Jones subtilem Besen. Auch Tunji nimmt an Intensität das voraus, was Trane später in Alabama einlöste, auch wenn letzterer natürlich auch wegen seiner Umstände so groß ist.
AFRICA/BRASS mag ich sehr gerne, da ich allgemein große Besetzungen sehr schätze. Weiß jemand, wie Coltrane gerade auf die Idee kam, in sein Afrika Konzept ein englisches Volkslied einzubauen?
LIVE AT THE VILLAGE VANGUARD muss ich noch öfters hören, die Freiheit von Chasin The Trane irritiert mich noch sehr, ich kann mir kaum ausmalen, wie das damals gewirkt haben muss (ebenso gilt das für IMPRESSIONS, wo die VV Stücke sich mir noch nicht komplett erschlossen haben).
Zum Titelstück von OLÈ COLTRANE noch mal, das schlingert natürlich immer um die gleichen Akkorde und es stimmt auch, dass Coltrane sich sehr zurücknimmt und Hubbard/Dolphy den gleichen Platz einräumt. Wie ich schon beschrieb, wirkt das auf mich aber nicht monoton, sondern wie ein Mantra, immer weiter, immer weiter. Irgendwie höre ich es als Fortsetzung von My Favorite Things, Olé könnte von mir aus immer weiter gehen, zumal ich immer wieder überrascht bin, wie schnell die 18 Minuten vergehen. Gerade weil das Thema immer wieder aufgegriffen wird und ein Solist immer wieder für neue Nuancen und Abwechslung sorgt, kann ich gar nicht genug von Olé bekommen.
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and now we rise and we are everywhereschöner Text über ein tolles Album, auch bei mir eins der liebsten Coltrane Alben, zumindest unter den Atlantics… muss es mal wieder hören, aber ich erinnere Aisha als eindeutigen Lieblingstrack, eine meiner liebsten Jazzballaden überhaupt…
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.nikodemusWeiß jemand, wie Coltrane gerade auf die Idee kam, in sein Afrika Konzept ein englisches Volkslied einzubauen?
Laut Liner-Notes (weiß jetzt nicht, ob bekannt) hat Coltrane sich zu der Zeit mit Folkmusik beschäftigt, und zu Greensleeves sagte er: „It’s one of the most beautiful folk melodies I’ve heard.“ (ich bin froh, daß er das gemacht hat, denn Greensleeves ist mein absolut liebstes Jazz-Stück.)
Und danke für den Text!
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nikodemus
Olé könnte von mir aus immer weiter gehen, zumal ich immer wieder überrascht bin, wie schnell die 18 Minuten vergehen. Gerade weil das Thema immer wieder aufgegriffen wird und ein Solist immer wieder für neue Nuancen und Abwechslung sorgt, kann ich gar nicht genug von Olé bekommen.Da kann man sehen, dass es eben keinen Königsweg gibt. Wenn der Weg zu Coltrane führt, ist sowieso alles erlaubt. Aber wie genau man das Ziel erreicht, dass muss jeder selbst herausfinden, da gibt es kein „richtig“ und kein „falsch“.
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Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.Sehr schöne Beschreibung eines tollen Albums!
Misch Dich doch mal ab und zu ein wenig in die Jazz-Diskussionen ein, würde mich freuen!--
"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #157: Benny Golson & Curtis Fuller – 12.11.2024 – 22:00 / #158 – 19.12.2024 – 20:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tbaLight of LoveLaut Liner-Notes (weiß jetzt nicht, ob bekannt) hat Coltrane sich zu der Zeit mit Folkmusik beschäftigt, und zu Greensleeves sagte er: „It’s one of the most beautiful folk melodies I’ve heard.“ (ich bin froh, daß er das gemacht hat, denn Greensleeves ist mein absolut liebstes Jazz-Stück.)
ohne abstreiten zu wollen, dass das die plausiblere Erklärung ist, hier ist nochmal eine andere: Brass Bands sind ja eine dezidiert britische Tradition, der Albumtitel lautet ja Africa/Brass, also – wenn man mag – Afrika konfrontiert mit der britischen Tradition der Brass Band – und da bot es sich an, auch eine Komposition von jener Seite dazuzunehmen…
(was mich an dieses schöne Album erinnert, auf dem sich der Jazz-Pianist Florian Ross mit den britischen Brass-Bands auseinandersetzt, muss ich mal wieder raussuchen… und ist natürlich völlig anders als Africa/Brass)
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.Schöner Text @niko! Jetzt gefällt dir Coltrane auch noch. Damit wird „unser“ Musikgeschmack noch ähnlicher. Fast schon beängstigend…
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Der Teufel ist ein Optimist, wenn er glaubt, dass er die Menschen schlechter machen kann. "Fackel" - Karl KrausSehr schöne Beschreibung, niko. „Olé“ mag ich auch sehr gerne, wie ich insgesamt die Zusammenarbeit von Coltrane und Dolphy überaus schätze.
Ich finde, es ist Dir sehr gut gelungen, über Jazz zu schreiben. Das ist ja wirklich kein einfaches Unterfangen (vor dem ich mich bisher auch noch erfolgreich drücke).
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so little is funRUFUS WAINWRIGHT – Want
Dream Works/Geffen Records (2003/2004)In diesen Tagen würde ich lieber einen Abgesang auf das vergeudete Talent des Rufus Wainwright schreiben, als über die Phase, in der Kanadier wirklich ein Hoffnungsträger für die Popmusik war. Doch irgendwann Anfang des Jahrtausends war Wainwright wirklich einmal gut, wusste er zu berühren und eine Lücke auszufüllen in einer Branche, in der nichts mehr Neues nachkam und der heißeste Scheiß nur ein Aufguss alter Zeiten und besserer Bands war. Rufus Wainwright lernte ich exakt in der Phase zwischen Want One und Want Two kennen und für einen Bruchteil meiner musikalischen Sozialisation hatte ich das Gefühl, dass etwas Besonderes passiert. Der Schein sollte trügen, glänzte aber deswegen nicht weniger hell.
Während er heutzutage mit seiner Selbstverliebtheit langweilt, versprühte er eine Zeit lang einen messianischen Charme in einer Mischung aus gesunder Arroganz, Schüchternheit und Melancholie, die ihn bis an den Abgrund führte und aus der er sich damals mit dem Großprojekt „Want“ herauskomponierte.
Nach der Scheidung seiner zumindest in Songwriter- und Folkkreisen bekannten Eltern wuchs Rufus zusammen mit seiner Schwester Martha in Montreal bei Mama Kate McGarrigle, immer umgeben von seinen Tanten und Cousinen. Zu seinem zynischen Vater Loudon war das Verhältnis angespannter, dieser residierte wie es sich für einen Folksänger gehörte, im New Yorker Greenwich Village und sah Rufus zumeist nur, wenn dieser ihn in den Sommerferien besuchte. Dieser verewigte seinen Sohn alsbald auf einem seiner Alben mit dem eifersüchtigen Lied „Rufus Is A Tit Man“. Dies muss deswegen erwähnt werden, weil die ganze Egozentrik und Geltungssucht von Rufus Wainwrights Persönlichkeit und Musik darin begründet ist, dass er sich nicht ausreichend anerkannt und gewürdigt gefühlt hat. Drum tat es der Sohn dem Vater gleich, übte Stunden, Wochen und Tage am Klavier, hielt sich für den neugeborenen Schubert oder Mozart und strebte eine Karriere als Musiker an. Ein einschneidendes Erlebnis folgte mit 14 Jahren, als Rufus seine Sexualität entdeckte, immer öfters in Schwulenbars abhing und von einem Thekenflirt im Londoner Hyde Park sexuell missbraucht wurde. Der ungeliebte Sohn, gestraft mit einer gesellschaftlich als abnorm betrachteten Sexualität und nun noch körperlich missbraucht, benötigte einige zölibatäre Jahre um diesen Vorfall irgendwie zu verarbeiten. Als junger Erwachsener wagte er den Schritt nach New York, scheiterte grandios als Pianist in einigen Clubs und kam letztendlich dank eines Demo Tapes, welches über Papa Loudon bei Van Dyke Parks und schließlich bei Warner Bros. Produzent Lenny Waronker landete, doch noch zu einem Plattenvertrag. Wie talentiert dieser junge Mann war, zeigte sich auf dem Song „Liberty Cabbage“, der auf dem Demo enthalten war und einen verletzten Jungen noch vor dem Stimmbruch zeigte. Mit glockenheller Stimme eines vielleicht 13 oder 14 Jahre alten Teenagers klagt Rufus in beeindruckenden Metaphern über das Amerika seines Vaters, welcher zusieht, wie das Land der Freiheit und Hoffnung ihn innerlich zerstört. „Sometimes I think you’re trying to kill me with your stars and stripes” fleht der Protagonist um hoffnungsvolles Erbarmen, nur um mit zitternden, langgezogen und tiefen Versen hinterherzuschieben…„And sometimes, sometimes I think you might succeed“. Der Schmerz hierbei wurde nur noch übertroffen von Wainwrights Talent und so entstand 1998 sein gleichnamiges Debüt.
Mit den Arrangements von Van Dyke Parks, mit dessen amerikanischen Melodien, dem Verweisen auf europäische Klassik gepaart mit der kanadischen Traurigkeit fiel sowohl lyrisch als auch musikalisch völlig aus dem Rahmen der damaligen Zeit. Wainwrights Größenwahn manifestierte sich in unerhörten musikalischem Grandezza und einem überambitionierten Sänger, der vollvoluminös die ganze Welt ansingen wollte. Außergewöhnlich war, dass hier ein schwuler Songwriter nicht mit Doppeldeutigkeiten kokettierte, sondern sich als Neuzeit Oscar Wilde zu definieren versuchte, mit großspuriger Arroganz, Hingabe und operettenhaftiger Individualität. Zur Zeit seines düsteren Zweitlingswerkes „Poses“ verlor sich Wainwright derweil in New Yorks Unterwelt, tauschte sein Zölibat gegen Promiskuität ein, wohnte im Chelsea Hotel, probierte alle Arten von Drogen aus, blieb auf Chrystal Meth hängen und erblindete schlussendlich. Dank der Hilfe von Elton John unternahm er eine Therapie und schrieb sich in Dutzenden Liedern den Schmerz von Seele.
Natürlich handeln auch die zig Lieder, die aufgrund der Masse und Klasse auf zwei Tonträger veröffentlicht wurden, von den Ungerechtigkeiten des Alltags, dem Gefühl nie geliebt worden zu sein und nie geliebt zu haben, dem ständigen auf der Reise sein, dem mangelnden Heimatgefühl mit entsprechend fehlendem Sicherheitsbedürfnis, der grausamen Welt, die einen weder zu nehmen noch zu verstehen mag, der Hilflosigkeit auf der Suche nach einem Gefährten, von bösem Selbstmitleid eines egozentrischen Schönlings und von dem inneren Kampf mit sich und der Familie und der Selbsterkenntnis, dass am Ende die Liebe die man gibt, man eben nicht zwangsläufig zurückbekommt. Und das alles betraf erst Want One, dem ersten, persönlicheren Liederzyklus dieses Wahnsinnigen. Man kann sich reiben an diesem Sänger, wie er auf der Cover als Prinz verkleidet ist, wie er, der den Look hat, die Stimme, den Charme, das Talent, dem es scheinbar besser geht als uns, der sich und seinen Ausdruck permanent dekadent erhöht, nur um melodramatisch tiefer zu fallen. Wenn uns diese ärmliche Kreatur irgendwas sagen kann, dann das, dass der erste Eindruck öfters täuscht. Prinz Rufus stirbt also die Tausend Tote, jammert im Eröffnungslied über seine Heimatlosigkeit über Ravels Bolero, klagt sich durch teils elektronisch verfremdete Pianoballaden, überheizt sich vollkommen in den komplexen und erhabenen Popsongs von „Go Or Go Ahead“ und „Beautiful Child“, strapaziert seine Stimmbänder mit dem viel zu hoch gesungen „Harvester of Hearts“ (der ihn natürlich nicht beschenkt), tänzelt sich in Kontrabass-Riffs durch selbstmitleidige Flirtversuche in „Vibrate“, die in einem Kinderchorgewitter enden. Neben der völlig überdrehten und größenwahnsinnigen Orchestrierung ist es diese schmeidige Stimme, die Wainwrights Musik ausmacht, die Schmelz und Schmalz vereint, Kitsch und Poesie, Wahrheit und Lüge. Gegen Ende, wenn ihm die Luft ausgeht und die Abschlussballaden das Tempo rausnehmen, geht Want One am direktesten ins Herz. In den einfachen Melodie und Akkorden hat man endlich das Gefühl, in die Seele des verletzten Künstlers zu sehen, der sich hier vollkommen vom musikalischen Ballast entfernt und zu Selbsterkenntnis kommt, dass er gerne den Ruhm und die Kunst eintauschen würde, wenn er sich im Gegenzug endlich geliebt fühlen könnte. Am Ende dann „Dinner At Eight“, die Hymne über die Hassliebe zu seinem Vater mit dem ödipalen Ziel, seinen Vater zu töten um zu erkennen, was dieser ihm wirklich bedeutet.
Dem persönlichen Want One folgte sein weltoffener Zwilling „Want Two“ mit abwechslungsreicheren Melodien, weniger oder zumindest besser eingesetztem Orchester und weiteren Hymnen über die Unerreichbarkeiten der Liebe, diesmal in Gestalt suizidaler Popstars, alter Nutten und kleinen Mädchen, die sich unsterblich in ihren Lehrer verlieben. Als unbefleckte Madonna begrüßt uns Rufus auf dem Cover und schockiert uns mit einem prätentiösen Kackhaufen namens „Agnus Dei“, einem lateinischen Gebet, welches mit knarzender Kakophonie untermalt ist und sich in einem unwiderstehlichen Spannungsbogen zu einer Sinfonie steigert, sodass spätestens hier entschieden werden muss, ob man diesen Mann liebt oder hasst.
Wer ein Ohr hat für diese Hingabe in Stimme und Komposition, wer die Aufmerksamkeit aufbringt für die nicht immer gleich ins Ohr springenden Melodien und den ironischen Blick, über den überbordenden Kitsch und Pathos hinwegzusehen, um ihn am Ende vielleicht schätzen zu können, wird erfasst werden von dem Zauber dieses Songreigens. Alles was uns Wainwright sagen konnte, steckt in diesen Songs, die ganze Traurigkeit und Hoffnung darin verlieh zumindest mir kurzfristig das Gefühl, Leben retten zu können. Während Wainwright selbst sein Glück gefunden und Leonard Cohen zum Opa gemacht hat, habe ich mich von seiner Musik emanzipiert und bedauere nur, dass alles was danach kam, vollends unironisch in Larmoyanz triefte und vor lauter Redundanz langweilte. Für einen Sommer aber, war er gut, so richtig gut.
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and now we rise and we are everywhereWunderbarer Text! Bravo, Nikodemus.
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Danke und dabei findest du RW sicherlich doofer als ich.
Bei dem Satz….
wie er, der den Look hat, die Stimme, den Charme, das Talent, dem es scheinbar besser geht als uns, der sich und seinen Ausdruck permanent dekadent erhöht, nur um melodramatisch tiefer zu fallen.
…musste ich daran denken, dass RW mal der Mitschüler von Baron zu Münch..äh Guttenberg war. Passt irgendwie.
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and now we rise and we are everywhere -
Schlagwörter: Faves, Musik-Blog, User Reviews
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