David Murray

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    gypsy-tail-wind
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    Donal Fox ist auszugsweise auf YT, oder?* Da wollte ich auch mal noch reinhören … und klar, „Flowers Around Cleveland“ hätte ich auch super gerne, das Line-Up ist schon vielversprechend!

    *) EDIT: Ja, steht auch hier … hier alle vier Stücke (#1-4 der CD, wie es scheint bzw. wenn die Infos bei YT und Discogs korrekt sind):




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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #163: Neuentdeckungen aus dem Katalog von CTI Records (Teil 2), 13.5., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
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    #12438123  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Jack DeJohnette Special Edition | Das ist ja eigentlich eine Band wie geschaffen für mich – aber es dauerte bis zum Touchstones-Reissue dieses Albums (2008) und der 4-CD-Box (2012), bis ich die Alben wirklich kennenlernen konnte. David Murray spielt im ersten und vierten der vier für ECM aufgenommenen Alben der Gruppe mit, zum Einstieg an der Seite von Arthur Blythe und Peter Warren (eine Enja-Entdeckung!). Warren blieb für das erste der zwei folgenden Alben mit Chico Freeman und John Purcell als neuen Bläsern, Rufus Reid und Baikida Carroll sind auf dem dritten dabei, bei der letzten Runde ist Murray zurück, neben Purcell, Reid und Howard Johnson.

    Was @vorgarten schreibt, nämlich dass die zwei Bläser ihr Spiel nicht etwa glätten oder weniger krawallig als üblich aufspielen, das Ergebnis aber dennoch runder, eleganter ist, passt auch für mich. Der andere Kontext, das andere Material (bis auf die Coltrane-Stücke alles vom Leader), die anders agierende Rhythmusgruppe, macht einen entscheidenden Unterschied. Besonders Warren ist verspielter, lyrischer, weicher, obertonreicher als die wichtigen Murray-Bassisten, und DeJohnette hat auch eine andere Vorstellung von Time, die ich vielleicht als flüssiger bezeichnen möchte? Im Opener „One for Eric“ ist Murray an der Bassklarinette unfassbar toll. Blythe klingt in dem Kontext danach wirklich fast etwas konventionell (und Dolphy als Bezugspunkt für sein Altsax ergibt schon auch irgendwie Sinn). Dann die ellingtoneske „Zoot Suite“, wo Blythe den Lead hat und Murray aus dem Untergrund – er spielt ungezähmte Begleitungen hinter Blythe – auftaucht, während der Groove so quasi „Rockin‘ in Rhythm“-mässig zugleich ständig ruckelt (das Bass-Lick) und total smooth durchläuft (die Drums, die aber auch durchaus zickig sind). Dass Warren hier am Ende ein Solo kriegt – aus dem er eine Art ganz tolles Nicht-Solo macht – ist hochverdient. Eigentlich könnte das Stück auch mit dem letzten, verklingenden Basston kurz vor der Neun-Minuten-Marke enden. Dann folgt das Coltrane-Segment, statt eines Zehn-Minuten-Tracks zwei kürzere: „Central Park West“ als Durchspiel mit Blythe im Lead, Arco-Bass, der Leader an der Melodica, Murrays Tenor hinter dem Vorhang als Wildcard – was für ein tolles Stück das doch ist! „India“ ist die zweite Coltrane-Komposition – DeJohnette zunächst am frei mäandernden Klavier, später an durchaus an Elvin Jones erinnernd flächig am Schlagzeug, Warren mit Orgelpunkt für den Groove zuständig, Murray an der Bassklarinette, Blythe singend und strahlend –, die die zehn Minuten voll macht, bevor „Journey to the Twin Planet“ das Album beschliesst. Nach einem frei-schwebenden Intro werden die Ärmel hochgekrempelt und alle stellen sich breitbeinig hin, damit die kollektive Wucht sie nicht von den Füssen haut. Blythe ist wieder im Lead und Murray grummelt, brummt und faucht im Untergrund, und mit dem rasenden Bass von Warren wird das zu einem dichten Geflecht, das dann in der Mitte wieder aufgebrochen wird: die Bläser spielen allein einfache Linien und Figuren, DeJohnette an der Melodica und gestrichener Bass gesellen sich dazu. Darüber erhebt sich dann Blythe wieder – und obwohl Murray superb aufspielt, ist Blythe hier schon die Stimme, die am meisten Raum zu glänzen kriegt. Tolles Album, exzellente Band … Als Gedankenspiel würde mich die Enja-Version dieses Albums interessieren … weniger aufgeräumt im Klangbild, „grittier“, vielleicht noch mit ein paar Outtakes, die damals aus Platzgründen weggefallen sind, zum Beispiel das lockere Stück, mit dem die Session begonnen hat. Aufgenommen wurde das Album im März 1979 in den Generation Sound Studios in NYC von Tony May und später von Martin Wieland und Manfred Eicher im Tonstudio Bauer abgemischt.

    Jack DeJohnette’s Special Edition – Album Album | Freie Grooves, elaborierte Arrangements (inkl. Remake der „Zoot Suite“), Cover mit Melodica (hier „Monk’s Mood“, Coltrane ist da quasi mitberücksichtigt – superbes Arrangement von Johnson, der am Barisax das Fundament legt), Piano-Overdubs von DeJohnette – das Album hat der Leader selbst produziert (Juni 1984 in der Power Station mit David Baker, gemischt wieder von Wieland/Eicher im Tonstudio Bauer), und er denkt offensichtlich in enger gefassten, elaborierteren Konzepten als Murray (bei dem ich bis dahin nicht denke, dass er an Produktion viel Gedanken verschwendet hatte, auch an Arrangements nicht halb so viele wie DeJohnette). Der tolle Opener „Ahmad the Terrible“ ist Jamal gewidmet, zwar einer der Pittsburgher-Pianisten (ich glaub es war Erroll Garner, der auf die Frage, warum die Stadt so viele herausragende Pianisten hervorgebracht habe, geantwortet hat, es müsse dort „gute Mütter“ gegeben haben?), der aber 1950 nach Chicago zog, in die Stadt DeJohnettes also, auch wenn man das bei ihm gerne mal vergisst (sein späteres ECM-Album „Made in Chicago“ hat es wieder in Erinnerung gerufen). Die Musik dieses Quintetts wirkt alles in allem fröhlich und bunt, aufgeräumt und doch ziemlich frei – innerhalb des Rahmens, den die Arrangements stecken. In „Festival“ gibt es eine Kollektiv-Impro der drei Saxophone (Purcell spielt Alt und Sopran, Murray nur Tenor, Johnson neben dem Bari auch mal Tuba), während DeJohnette eine Art Calypso-Beat spielt, sich dabei sehr viele Freiheiten herausnimmt. Mit dem „New Orleans Strut“ – ein endlos kreisender Shuffle-Groove wie von den JB’s aber mit New Orleans-Einschlag wie von The Meters, sattes Barisax, DeJohnette mit overdubbten Keyboards, die stellenweise wie Steeldrums klingen, Reid an der Bassgitarre, Purcell am singenden Alt und danach Murray in der Stratosphäre, aus der er ab und zu hinabsteigt – ist die Band dann wirklich in der Community angekommen … passend zum Cover des Albums. „Third World Anthem“ blickt dann nach Südafrika – ein Gedanke, auf den man hier aber auch anderswo kommen könnte. Johnson spielt hier vermutlich eine Tenortuba oder sowas (aber auch kein Euphonium, dafür ist der Sound doch zu gross und zu brüchig) … wie eine normale klingt das jedenfalls nicht, so unfassbar seine Technik auch war – ein erstes kurzes Solo, das mit der Band verschmilzt, und so ist das irgendwie auf dem ganzen Album: Es geht wirklich um die Band als Ganzes, weniger um die einzelnen Beiträge, so gut manche von ihnen auch sein mögen. Auch Murray fügt sich ein – und das gelingt ihm auch da, wo er zu Höhenflügen abhebt, wie in seinem phantastischen Solo in „Third World Anthem“. Auf diesen Höhenflug folgt dann noch einmal Johnson mit einem längeren Beitrag. Die neue „Zoot Suite“ ist nicht mal halb so lang wie die erste Aufnahme, es geht schneller zur Sache, Johnson ist hier am Barisax die Wildcard, der hier im ersten Teil über und unter den anderen hindurchspielt. Murray hebt später zu einem kurzen Solo ab, das in wenigen Sekunden sein ganzes Können auffächert: der tolle Ton, die Höhenflüge, der Punch, die verqueren Einfälle, der Flow, die Brüche … und Purcell glänzt dann auch nochmal – ein Musiker, der sich echt vor niemand zu verstecken braucht! Johnson schliesst vor der kurzen Wiederholung des Riffs den Solo-Reigen am ganz am Boden seines Baritonsaxophons, funky, funky, funky … und das perfekt passt zu dem Album. Das ist wirklich super – ich muss die 4-CD-Box mal in Griffweite behalten und öfter was daraus anhören!

    David Murray & Jack DeJohnette – In Our Style | Fürs gemeinsame Album bei Murrays Label DIW bringt DeJohnette zwei Stücke vom zweiten Special Edition-Album (ohne Murray) mit, „Tin Can Alley“ und „Pastel Rhapsody“. Auch der Closer „Kalimba“ stammt von ihm. Murray bringt das tolle Titelstück sowie „The Dice“ von Butch Morris mit, und auf den beiden Stücke stösst Fred Hopkins am Bass zum Duo. „Both Feet on the Ground“ (auch auf „Solo Live Vol. 1) und „Great Place“ (auch auf „David Murray Big Band Live at Sweet Basil Vol. 2“) sind die zwei Murray-Originals, die zudem am 3. und 4. September 1986 im Sound Ideas aufgenommen wurden (David Baker/Kazunori Sugiyama). Ich bin froh, dass ich dieses Album nach mehreren missglückten Anläufen inzwischen doch hier habe. Es lief die letzten Wochen schon ein paar Male und gehört zu den Aufnahmen, auf denen Murray geradezu atemberaubend souverän unterwegs ist – allerdings auf recht stille Art und Weise, ohne die grossen Gesten, ohne Rampensau-Mackertum, sondern tief im Dialog mit DeJohnette, dessen tolles Spiel gerade in den Duo-Stücken sehr schön zur Geltung kommt und auch hervorragend klingt. Noch dichter wird der Dialog nach „Tin Can Alley“ auf dem dritten Stück, „Both Feet on the Ground“, mit Murray an der Bassklarinette – stellenweise in Dolphy-Stimmung. DeJohnette klingt dabei stets sehr transparent, auch die Beckenschläge decken selten etwas zu. Das zweite Trio-Stück von Morris steht in der Mitte des sehr gut programmierten Albums – quasi eine Rückkehr zum Einstieg. Danach setzt DeJohnette sich für seine „Pastel Rhapsody“ an den Flügel – und diese ruhige Performance dient vielleicht auch etwas der Besinnung, bevor mit „Great Peace“ noch ein dichtes ts/d-Duo folgt. Im Closer „Kalimba“ gibt es synthetische (?) Kalimba und einen Drum-Computer mit ziemlich tollen, äusserst artizifiellen Sounds … und darüber zum zweiten Mal die Bassklarinette von Murray. Das geht in so viele Richtungen, ist vielleicht auch eine Art Fortschreibung von manchen Ansätzen, die DeJohnette auf „Album Album“ umgesetzt hat. Musik von grösster Wärme und erstaunlichem Reichtum nach den Duos, die äusserlich eher karg und sehr konzentriert daherkommen.

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #163: Neuentdeckungen aus dem Katalog von CTI Records (Teil 2), 13.5., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #12438137  | PERMALINK

    vorgarten

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    sehr schön, danke! IN OUR STYLE ist für mich auch ein großes album, die zusammenarbeit geht tiefer als z.b. mit milford graves, vielleicht, weil murray und dejohnette mit der special edition auch viel zusammen unterwegs waren, das hatte weniger einen projektcharakter. ich habe jetzt endlich mal GOLDEN SEA mit el’zabar nachkaufen können, obwohl ich das schon lange kenne, da finde ich die zusammenarbeit ähnlich symbiotisch, bei ungebrochener neugier aufeinander.

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    #12441297  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    vorgarten

    d.d. jackson, peace-song (1994)

    jacksons debüt und ein gastspiel von murray, der zu der zeit mit dem kanadischen label justin time anbändelt. auch die beiden weiteren musiker, john geggie (b) und jean martin (dm) sind aus kanada und gut auf jackson eingestellt. die musik ist recht einfach zu beschreiben, die grundlagen sind klassischer hardbop, woraus sich die soli von jackson und murray eine freie bahn brechen. die reibung ist einkalkuliert und meist reizvoll, jacksons lehrer don pullen hat klare spuren hinterlassen: rhythmisch explodierende cluster, spielerische blues-referenzen, außerdem höre ich noch einen jarrett-einfluss in bestimmten gospel-arpeggien, warum auch nicht. mit mitmusikern, die einem in all dem folgen können, macht das spaß und verblüfft auch immer wieder, und murray passt da natürlich perfekt hinein. tatsächlich scheint er mir sogar ziemlich inspiriert. und das alles ist dann vielleicht doch zu einfach beschrieben, denn gerade die ruhigen passagen haben eine schöne tiefe und sinnlichkeit, die gar nicht den verdacht aufkommen lassen, dass sich jemand hier aus einer trickkiste bedient. und sinnlich sind die forcierten eruptionen ja auch. und „seasons“ ist in seiner einfachheit ein solch fantastischer song, dass ich – nicht nur in den emotionalen soli – wirklich höre, wie hier die fackel des pullen-adams-quartetts weitergetragen wird. warum ist d.d.jackson danach kein star geworden?

    Ich war von D.D. Jackson mal wegen irgendeiner Aufnahme total begeistert, so Ende der Neunziger. Aber was ich da hörte, weiss ich nicht mehr … jedenfalls fand ich dann damals keine Aufnahmen, mit denen ich diese Begeisterung weiter am Leben halten konnte. „Sigame“ (2001) ist noch irgendwo, aber es zündete damals nicht. Müsste es mal suchen, lief vermutlich 20 Jahre nicht mehr. Nach der obigen Beschreibung war mir allerdings klar, dass ich Jackson mit diesem Album – seinem Debüt – eine erneute Chance geben will (und zufällig kam vor ein paar Jahren auch noch „The Calling“ dazu, ein Trio mit Hamiet Bluiett und Kahil El’Zabar). Das bereue ich nun ganz und gar nicht, denn vom allerersten Eindruck ist das wirklich ein schönes Album. Das einzige, was mich manchmal etwas stört ist, dass ich die Eruptionen nicht immer (meistens schon!) aus dem Geschehen herleiten kann, dass sie mir manchmal etwas angeklebt, affektiert vorkommen. Howard Mandel zitiert in den Liner Notes Jackson: „I like to see how far I can take a piece emotionally, […] then defy expectations and take it even higher.“ Völlig klar, dass Murray zu dem Konzept passt wie die Faust aufs Auge. Er lässt sein Tenorsaxophon schnauben, singen, kreischen, fauchen und jubilieren … der Titelsong ist eine Art Motown-Gospel-Backbeat und nach dem ersten Hören eins meiner Highlights, neben „Seasons“, das als Powerballade in ähnlich ekstatische Fahrwasser findet. Im Booklet gibt es auch ein kurzes Zitat von Murray, der Jackson „a spectacular career […] as a dynamic international pianist“ voraussagt. Murray erwähnt neben der Zusammenarbeit in seinem Quartett und Oktett auch, dass er mit Jackson im Duo gespielt habe – dafür bietet „Wisps of Thought“ eine ziemlich feine Kostprobe (die mich aber auch zum Gedanken führt, wie wohl ein Duo-Album mit Don Pullen herausgekommen wäre). In „For Monk-Sake“ oder im Intro von „Tunnel Vision“ erinnert mich Pullens Eklektizismus auch ein wenig an den gerade verstorbenen Martial Solal. Sein Solo „Funerals (for Chris)“, mit dem das Album endet, wirkt dann fast wieder wie ein instrumental dargebotener Pop-Song, bis das Stück nach drei Minuten dunkler wird – aber ohne zu kippen. Zehn Minuten mit einer Idee und zwei oder drei Akkorden, die Spannung wunderbar und ganz allmählich aufgebaut – hier ist nichts forciert, Jackson klingt ganz bei sich – toll! Irgendwo zwischen all dem – den irren Ausbrüchen und dem alles verschlingenden Eklektizismus – vermute ich den Grund, warum das mit dem Star nicht geklappt hat: irgendwie wirkt Jackson auf mich im besten Sinn aus der Zeit gefallen.

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    #12441437  | PERMALINK

    vorgarten

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    gypsy-tail-wind
    denn vom allerersten Eindruck ist das wirklich ein schönes Album. Das einzige, was mich manchmal etwas stört ist, dass ich die Eruptionen nicht immer (meistens schon!) aus dem Geschehen herleiten kann, dass sie mir manchmal etwas angeklebt, affektiert vorkommen. Howard Mandel zitiert in den Liner Notes Jackson: „I like to see how far I can take a piece emotionally, […] then defy expectations and take it even higher.“ Völlig klar, dass Murray zu dem Konzept passt wie die Faust aufs Auge. Er lässt sein Tenorsaxophon schnauben, singen, kreischen, fauchen und jubilieren … der Titelsong ist eine Art Motown-Gospel-Backbeat und nach dem ersten Hören eins meiner Highlights, neben „Seasons“, das als Powerballade in ähnlich ekstatische Fahrwasser findet.

    interessant, dass du dir gerade dieses album jetzt angehört hast. ich bin in den letzten wochen nochmal durch den ganzen murray-output gegangen und habe einzelne stücken nachgehört, die mir aufgefallen waren – und da bin ich bei „seasons“ von diesem album hängengeblieben. ich finde das überiridisch schön, ich würde das auf keinem murray-sampler auslassen. tatsächlich verblasste daneben einiges, von dem ich als teil eines albums einen besseren eindruck hatte. und es formuliert in komprimierter form, warum ich überhaupt jazz höre. dass einem jacksons eruptionen manchmal losgelöst, affektiert, vorkommen, kann ich in teilen nachvollziehen, aber das hat man pullen auch immer vorgeworfen. jackson hatte halt nicht mehr das glück, von einem der kanonisierten „großen“ des jazz direkt protegiert worden zu sein. war halt einfach schon eine andere zeit.

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    #12441619  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Wie meinst Du das @vorgarten? So viele Lücken habe ich das ja nicht, und eben: die einstige Begeisterung für D.D. Jackson hat sich trotz vieler Jahre Distanz eingeprägt … die drei langen Stücke – „Seasons“, „Peace-Song“ und das Solo am Ende – finde ich wirklich phantastisch! Ich fand das jetzt z.B. eine viel naheliegendere und attraktivere Wahl zur Ergänzung meiner Bestände, als irgendwas mehr aus Thiele Küche. Eine andere Lücke, die ich um den Dreh rum auch noch füllen möchte, ist „David Murray Quintet with Ray Anderson and Anthony Davis“ … und etwas mehr Hugh Ragin (ich hab annähernd null) würde auch nicht schaden, von Özay reichte mir das Hören in der Tube, sonst ist in den Neunzigern nicht mehr viel dabei, was ich überhaut nicht kenne (Oktett mit Dead, Dennerlein, die zwei Duo-Alben von Jackson, Jeri Brown … und das Love Supreme-Album von Cyrille, das ich natürlich auch gerne hören würde. Nebst unserer gemeinsamen grossen Lücke „Flower Around Cleveland“. (Trivia: die Jackson-CD – und ein paar jazzwerkstatt Nachkäufe, zu denen ich bald kommen werde – kamen vom Walter Benjamin-Platz, von Old School, wo wir ja zusammen kurz drin waren.)

    Statt gestern noch das hier nachzulegen merkte ich zum Glück noch rechtzeitig, dass ich vor dem Abendkonzert in der Tonhalle auch noch eine Karte für eine Aufführung von „Palais de Mari“ von Morton Feldman hatte … und brach dann mittendrin ab. Jetzt also nochmal von vorn:

    vorgarten

    live at the village vanguard (1995/2000)

    murray in new york mit hilton ruiz, kelly roberty und pheeroan aklaff. standardausstattung von murray live, der normalfall: ein tenorsax (und eine bassklarinette), ein klavier, ein bass, ein schlagzeug. genauso habe ich ihn damals auch gesehen (mit anderen musikern). das material wird vom geglätteten elektrofunk wieder ins akustische zurückübersetzt („the desegregation of our children“, „acoustic octofunk“ von JUG-A-LUG), dazu kommt zwei klassiker aus dem murray-buch, „red car“ (ein blues) und „hope/scope“. das ist so genau mein ding: klare verabredungen und freigeistige abwege, die band hat den sound und den club im griff und gleichzeitig machen vier individualisten ihr ding und lassen sich endlos und für sich studieren. ein großes glück, murray mal mit ruiz zusammen zu hören, der von gospel bis cecil taylor alles abrufen kann, was das instrument bis dato hergibt, und damit so eigenwillige plateaus und spitzen baut, dass die anderen völlig anders auf ihn reagieren wie auf den leader, und dabei in seine latin-trademarks nur dann fällt, wenn es den zusätzlichen kick braucht. blues, ballade, funk, free – das kommt aus einer quelle, changiert die ganze zeit zwischen in und out, und lässt noch die stimmung des abends hinein. für mich eine ganz große kulturleistung. und das meisterwerk ist die ballade.

    Da brauch ich wirklich nichts zu ergänzen – das ist eine umwerfende Aufnahme! Die Ballade wirklich ein ganz grosses Highlight! DIe Band klingt super, der Bass trocken, die Drums konzise und doch all over the place, das Klavier saftig und knackig und so gut für Murray geeignet wie Dave Burrell oder John Hicks … das geht wie @vorgarten schreibt in alle Richtungen und ist doch total stimmig. Dem Quartett gehen auch bei den beiden über 20minütigen Performances (die Ballade und der „Acoustic Octofunk“) nie die Ideen aus, ganz im Gegenteil, es geht immer weiter, wird immer toller … eine echte Entdeckung, diese Aufnahme!

    Kleine Frage zur Tracklist: #4 ist „Hope/Scope“ und „Obe“ (Butch Morris), das auch noch auf dem CD-Rückcover steht, ist gar nicht dabei, ja?

    Der Sound der Aufnahme ist nicht wirklich optimal, Ruiz ist etwas leise im Mix, was gerade im langen Trio-Intro zu „Acoustic Octofunk“ echt schade ist. Die Drums klingen allerdings recht gut und Bass sogar ziemlich phantastisch – und Kelly Roberti, der unbekannte Mann hier, spielt hervorragend (keine Überraschung, mir ist der Name dank Dime seit 25 Jahren geläufig, bin mir ziemlich sicher, dass es auch schon dank Aufnahmen mit Murray dazu kam – er wurde leider nicht alt: 1954-2016). Für einen Live-Mitschnitt ist der Sound aber schon okay, zumal das Gesamtpaket wie ein Bootleg aussieht (ich kann das hier nicht einschätzen, Sound Hills hat alles im Angebot, von seriösen Eigenproduktionen über Lizenz-Ausgaben bis zu ziemlich klaren Bootlegs).

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    #12441651  | PERMALINK

    vorgarten

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    gypsy-tail-windWie meinst Du das @.vorgarten? So viele Lücken habe ich das ja nicht, und eben: die einstige Begeisterung für D.D. Jackson hat sich trotz vieler Jahre Distanz eingeprägt … die drei langen Stücke – „Seasons“, „Peace-Song“ und das Solo am Ende – finde ich wirklich phantastisch!

    mmhh, wie meinte ich das… ich wollte einen euphorie-moment der letzten tage wiedergeben, den ich in deinem text trotz warmer worte nicht widergespiegelt fand ;-) und natürlich denkt man (nicht: du) kollektiv wohl etwas weniger über jemanden wie jackson nach als über pullen mit seiner mingus-vergangenheit, vielleicht ja auch zu recht.

    gypsy-tail-wind

    live at the village vanguard (1995/2000)

    Kleine Frage zur Tracklist: #4 ist „Hope/Scope“ und „Obe“ (Butch Morris), das auch noch auf dem CD-Rückcover steht, ist gar nicht dabei, ja?

    genau, „obe“ scheint zu fehlen. das ist wirklich eine eigenartige ausgabe, der stream, den es davon gab, ist gerade auch nicht mehr verfügbar, ich überlege also wieder, das anzuschaffen, aber es kommt mir auch ein wenig shady vor.

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    #12441669  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Ach, ich kann hier halt nicht nur schreiben, wenn ich generell in euphorischer Stimmung bin – die sonstigen Umstände drücken vielleicht etwas durch – und auch nicht nur, wenn ich richtig viel Zeit habe, sonst geht es nur mit Prokrastinieren weiter, statt mit weitermachen ;-)

    Ich finde „Peace-Song“ wie „Live at the Village Vanguard“ grosse Entdeckungen und freue mich sehr darüber!

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    #12451085  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Heute wird David Murray 70 – aus dem Anlass hier ein jüngerer Auftritt des aktuellen Quartetts im Bimhuis.

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    #12458117  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Dienstagabend stelle ich bei StoneFM ein paar Lieblingsstücke von David Murray vor … 55 Minuten sind nichts bei dem Werk, erst recht nicht, wenn viele der stärksten Tracks eine Viertelstunde oder länger dauern. Aber den Versuch ist es hoffentlich wert!

    https://radiostonefm.de/naechste-sendungen/9398-250311-gypsy-goes-jazz-161

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    #12474727  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    gypsy-tail-wind

    vorgarten

    david murray power quartet, like a kiss that never ends (2000)

    eine der wenigen murray-cds, die ich mir noch bei erscheinen gekauft habe, wohl, weil ich auf eine aktualisierung des quartetts mit hicks, drummond und muhammad zehn jahre früher gehofft hatte. wesentlicher unterschied: der drummer ist andrew cyrille. auch nicht schlecht, denkt man, aber so richtig passt er nicht hinein (oder, wie andere das vielleicht hören würden: er holt die drei anderen ein bisschen auch ihrer eingespieltheit heraus). es gibt eine eigenschaft, die ich nicht so mag bei ihm: dass er oft toms und becken gleichzeitig anschlägt. aber er macht auch tolle sachen, hier zum beispiel im souljazzstück „ruben’s theme song“, das eigentlich erst durch seine stop-and-go-effekte brenzlig wird. ansonsten ist das programm bewusst gemischt: der titelsong ist eine art paso-doble (schreibt ein spanier in den liner notes, der sollte es wissen), es gibt einen blues, besagten souljazz, eine schöne ballade (von drummond geschrieben), ein freies stück, ein bisschen spiritual jazz (mein highlight in der besetzung, natürlich) und zum schluss das von mir nicht unbedingt geliebte monk-stück „let’s cool one“ für dolphyeske bassklarinette und ein paar glänzende klaviertasten. sehr hübsch und selbstverständlich insgesamt, aber hier geht auch was zuende: mit hicks wird murray danach nicht mehr aufnehmen.

    Hier bin ich etwas verwirrt: schrieb noch Anfang Dezember, dass ich das Album auch hätte … das Cover sieht so vertraut aus, vermutlich hatte ich das damals bei Erscheinen immer wieder vor Augen oder in den Händen, aber dann doch nie zugegriffen, ich hab jedenfalls wieder nur eine Behelfsversion … gefällt mir schon ziemlich gut, in meinem Fall ohne Einschränkungen wegen Cyrille oder der Wahl des Monk-Stückes.
    Das sind jetzt aber auch Alben, die ich einfach durchhöre, ohne ständig aufzuspringen, weil irgendwas passiert oder Murray wieder ein unfassbar tolles Solo hinlegt. Es ist also auch kein Zufall, dass ich zu den – allesamt stark aufspielenden – Bläsern auf „Yonn-De“ gar nichts geschrieben habe, sondern hat genau damit zu tun, dass ich Murray um die Zeit herum schon nicht mehr ganz so super finde wie noch kurz davor (und später dann auch wieder – ich hab noch ein Dutzend Alben vor mir, das mit Dave Gisler kann ich grad auch nicht mehr finden, sonst wären’s vierzehn … hab aber grad Lust, noch ein paar dazu zu kaufen, „Sacred Ground“ vielleicht, Gwotet mit Sanders klingt auch toll, auch wenn’s mehr wegen letzterem als wegen Murray ist, und auf das Gwo-Ka-Albuum mit Taj Mahal bin ich auch neugierig – hast Du es übersprungen @vorgarten oder hab ich’s im Index vergessen? – hab von 2001 bis 2010 eine komplette Leerstelle).
    Das Titelstück (Paso Doble klingt da schon plausibel, die Liner Notes sind bei Discogs leider nicht nachlesbar) und die direkt danach folgende Ballade „Dedication“ (von Drummond, dem wiederum „Mo‘ Bass (The Bulldog)“ von Murray gewidmet ist … mässig schmeichelhafter Übername) sind mal zwei meiner Highlights hier, nach dem eher verhaltenen Einstieg mit dem „Blues for Felix“. Und im folgenden „Suki Suki Now“ ist Cyrille schon ziemlich toll – da läuft eine im Latin-Groove bestens funktionierende Schlagzeug-Spur neben einer zweiten, die ständig alles sabotiert und stört. Den Druck eines Ralph Peterson oder Idris Muhammad baut er allerdings nie auf, was dem Quartett als ganzem schon eher nicht dienlich ist, denke ich … dennoch sorgt gerade Cyrille oft für Spannung, für Reibungen und Irritationen – wie @vorgarten schon schrieb gerade auch in „Ruben’s Theme Song“, das sonst ähnlich
    gradlinig wie der Opener über die Bühne gehen könnte.

    Ich mache mich endlich mal an den letzten Teil des Murray-Marathons – hab schon heute Osterferien, vielleicht reicht ja die Zeit bis Montag. „Like a Kiss That Never Ends“ habe ich inzwischen längst ordentlich angeschafft (der zitierte Post ist vom 25. Januar). Heute morgen flasht mich das ziemlich. Ein Blues – mit so guter Melodie, dass er auch ein Song ist – zum Einstieg, in dem das superkompakte Quartett sein Revier absteckt, dann der fast 13minütige Titeltrack, der den Hauptlinernotes eine „faux tango-habanera“ genannt wird (Pasodoble scheint übrigens einfach auf ein schnelleres Marschtempo bei Militärparaden zurückzugehen, wusste ich nicht) und in dem Murray ein wahnsinnig tolles Solo spielt. Mal kostet er die Melodie fast pur aus, dann wieder verziert er sie in sich fast überschlagenden Läufen und Girlanden, lässt sein Saxophon schnauben, dann wieder wirft er einen hohen, kreischenden Cry ein. John Hicks/Ray Drummond wirken auf mich unglaublich kompakt, während Cyrille hier der Freigeist ist, der unerwartete Akzente setzt, auch mal etwas ausschert, selbst in Drummonds toller Ballade „Dedication“, die hier an dritter Stelle folgt und in der Hicks ein zurückhaltendes, sehr starkes Solo spielt. Mit „Suki Suki Now“ folgt ein elegant fliessendes Stück, vielleicht eine Art Variation über das Titelthema, aber ohne den flashy Beat – und wieder mit einem phantastischen Leader, der seine ganze Palette an Sounds einbringt – und Hicks ist. Mit „Ruben’s Theme Song“ sind wir in Backbeat-Groove-Territorium, Cyrille setzt den Groove gemeinsam mit Drummond, zersetzt ihn aber auch ständig, findet Reibungen und setzt seltsame Akzente, während Murray darüber wieder schnaubt und faucht und innehält, um dann wieder loszulegen und am Ende noch eine kurze Solo-Kadenz nachzureichen – toll! „Mo‘ Bass (For the Bulldog)“ ist dann Drummonds zweites Stück hier und sein verdientes Feature – leider klingt sein Bass auf dem ganzen Album etwas flach, und so ist das auch hier. mit Monks „Let’s Cool One“ mit Murray an der Bassklarinette schliess das Programm dann, das auf mich ein wenig wie eine Tour durch die Neighbourhood wirkt. Wir sind bei der Grillparty im Hinterhof, cruisen mit dem BMX durch die leeren Strassen, liegen in der Sommerhitze im Park herum – und besuchen vielleicht auch die Parade durchs Viertel.

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #163: Neuentdeckungen aus dem Katalog von CTI Records (Teil 2), 13.5., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #12474739  | PERMALINK

    vorgarten

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    oh, schön!
    ich habe kürzlich nochmal das duo-album von murray und el’zabar gehört, GOLDEN SEA, das bei mir verpätet eintraf. unter ihren gemeinsamen alben finde ich das schon das beste.

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    #12474743  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    vorgarten

    david murray & the gwo-ka masters feat. pharoah sanders, gwotet (2003)

    tatsächlich gerade zum ersten mal gehört. murray fusioniert zwei projekte, die guadeloupischen gwo-ka-musiker und den bläsersatz aus der latin big band, als grundlage spielen jaribu shahid (meist e-bass) und hamid drake us-amerikanischen funk. und pharoah sanders spielt auf 3 stücken… na, pharoah sanders. ganz offensichtlich funktioniert das alles. aber genauso offensichtlich lässt mich das ein bisschen kalt. es gibt tolle momente im arrangement, die grooves sitzen, und sanders ist einfachn irre – er schwebt durch diese musik mit einem freigeist und einer durchgehenden interessantheit, dass murray neben ihm tatsächlich etwas verblasst. bevor sanders einsetzt, kann man sich eigentlich nicht vorstellen, was er dazu spielen wird, aber ab dem ersten ton ist alles genau richtig, er geht interessant mit den changes um, hat einen plan, produziert schöne sounds, schiebt alles energetisch eine halbe treppenstufe höher. bei murray spürt man dagegen die last des konzepts, er trägt die produktion, die kompositionen, die arrangements und das solistische spotlight, das rutscht ihm weg (wenn auch nie so richtig, alles bleibt auf hohem niveau). in der interessanten fusion zerfällt am ende vieles in einzelteile, andererseits hat man all das so auch noch nicht gehört. es gibt zu diesem album noch remixes, u.a. von osunlade, die sind auch nicht der knaller, aber ziemlich hübsch. von den soli bleiben da nur ein paar samples aus den sanders-soli übrig.

    Und ich betrete jetzt völliges Neuland … mein nächstes schon länger bekanntes Murray-Album wurde 2010 aufgenommen, ein ganzes Jahrzehnt nach „Like a Kiss…“ also. Die fünf dazwischen habe ich in den Wochen, in denen ich hier zuletzt aktiv war, angeschafft – natürlich auch aufgrund der Texte, die ich hier las.

    Der Funk mit dem Garagen-Sound ist nach dem Power Quartet ein kleiner Schock, erstmal die Ohren justieren und etwas höher drehen. Hamid Drake spielt flache Beats, die im Zusammenspiel mit der warm grollenden Bassgitarre von Jaribu Shahid allerdings eine enorme Sprungkraft entwickeln. die Bläser-Section klingt nach Fanfare*, eine Art maghrebinischer Afro-Frunk aus der Banlieue. Darüber dann Murray – ruppig aber eingeschliffen, souverän. Und Sanders – mit auskragenden Linien, offenem Ton, ohne Plan, manchmal für Momente verloren, aber mit Charisma – und wie @vorgarten oben schreibt: Vom ersten Ton an richtig! Ich finde den Mix aus Jazz, Funk und Rhythmen, Chants und Raps aus der Karibik und kreisenden Gitarren aus dem Senegal recht ansprechend, aber so richtig mitnehmen mag mich das Album – das vielleicht das eigentliche Creole-Album von Murray ist? – in ganzer Länge nicht. Es droht auch, auf halbem Weg sehr lang zu werden, doch die zweite Hälfte der Stücke ist kurz gehalten, es gibt einen Rap (von François Ladrezeau, nehme ich an), auch mal ein paar Soli der anderen Bläser (darunter ein Sopransax, das im Line-Up niemandem zugeordnet wird) und irgendwann auch noch die Bassklarinette (auch nicht erwähnt im Line-Up, ebensowenig wie Aufnahmeort oder -datum), als achtes und letztes Stück gibt es einen „Radio Edit“ des Openers – 6 statt 12 Minuten. Ob das wirklich mal im Radio lief?

    *) Da gibt es in Frankreich ja eine eigene Tradition, die ziemlich abgeht, vor allem, wenn man mal so eine Band auf der Gasse erleben kann (mir gleich zweimal passiert im Urlaub vorletzten Herbst) – hier eine, von der ich seit über 20 Jahren immer wieder mal was anhöre:

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    #12474765  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    vorgarten
    ich habe zwei alben übersprungen – ein live-dokument des henry grimes trios (LIVE AT THE KERAVA JAZZ FESTIVAL, mit murray & drake, 2004, bei ayler erschienen) und das dritte von drei conjure-alben, von kip hanrahan für sein american-clavé-label 2005 produziert, wie die anderen um texte von ishmael reed gebaut, mit einem kurzen gastauftritt von murray, titel: BAD MOUTH).
    reed hat danach zwei texte für cassandra wilson und auch die liner notes für das nächste murray-leader-album geschrieben:

    david murray black saint quartet fest. cassandra wilson, sacred ground (2006)

    john hicks war ein halbes jahr vor diesen aufnahmen gestorben, sein schüler lafayette gilchrist ersetzt ihn in diesem quartet, das ansonsten das gleiche ist wie auf LIKE A KISS THAT NEVER ENDS (2000; drummond & cyrille), aber natürlich anders heißt. der ursprung dieser aufnahmen liegt in einem score von murray für den dokumentarfilm BANISHED von marco williams über die vertreibung von schwarzen aus dem süden der usa nach dem ende des bürgerkriegs. außerdem sind auch noch die bilder aus louisiana nach katrina präsent, zeit also, mal wieder ein statement gegen den strukturellen rassismus im land zu setzen.
    die kompositionen dürften jetzt nicht zu den allerbesten von murray gehören, aber das album hat trotzdem große kohärenz und überzeugungskraft. cyrille fügt sich besser ein (auch, weil die musik nicht so auf die tube drückt), der etwas schlanker (schwächer?) spielende murray reißt sich zu ein paar großen soli auf, gilchrist, der ganz anders als hicks spielt, ist eine interessante neue stimme, und cassandra wilson ist auch super (reed hat ihr tatsächlich einen song über die mythische kassandra geschrieben, „prophet of doom“). und es gibt ein unglaublich tolles solo von cyrille, das man als eigene erzählung ausschneiden könnte.
    ich habe das album damals gehört und so kurz wieder kontakt zu murray aufgenommen, aber so richtig hat es nicht geklickt (eigentlich erst im letzten jahr wieder). heute höre ich das als schlüssige, ziemlich typische murray-quartett-aufnahme.

    Ich docke weiter an … das Grimes Trio-Album fehlt mir, passte mir damals irgendwie nicht (ich müsste irgendwo einen Rip davon haben, den mir damals jemand geschickt hat) und ich hab’s danach nie nachgeholt. Die Liner Notes von Reed hier sind ziemlich witzig: wie er sich einerseits selbst zum „world class writer“ ernennt, andererseits beschreibt, wie auf den Auftrag für Wilson was zu schreiben, wie ein aufgeregter Teenager reagiert habe („I was 68 and all I could think o was ‚Wow,‘ like some zit afflicted adolescent“). Ich höre hier auch eine grosse Kohärenz – und vielleicht in Gilchrists Spiel auch Spuren vom anderen grossen Murray-Pianisten, Dave Burrell: ein Überborden, das nichts ins Surrealistische geht, aber eine weiche Qualität hat (anders als bei D.D. Jackson, der eher in der perkussiven Linie steht). Murray ist vielleicht wirklich nicht in seiner allerbesten Form, aber das gibt der Band etwas mehr Raum – wobei Gilchrist auch mehr beansprucht als Hicks, schneller irgendwo reingeht, dazwischen geht, selbst wenn Murray (in „Transitions“ etwa) in der Zone ist. Die Aufnahme (Peter Karl Studios, Brooklyn, Oktober 2006) gefällt mir auch besser als die von „Like a Kiss … „(Soun on Sound in NYC im Juni 2000), vor allem Drummond gewinnt dabei, sein Bass klingt runder, voller (Wumms hat er eh, aber auf „Like a Kiss…“ verklingt jeder Ton so schnell, als würde er in einer mit Filz ausgekleideten Box stehen, hier darf er etwas mehr klingen). Dass Wilson nur auf dem Opener und dem Closer mitwirkt, finde ich bedauerlich, aber die zwei Stücke geben dem einmal mehr etwas langen Album andererseits auch einen guten Rahmen. Dazwischen gibt es fünf Originals von Murray (der auch die Musik für die zwei Stücke mit Texten von Reed schrieb). Rollende Grooves, klagende Balladen … ein recht typisches oder für Murray fast schon klassisches Programm kann man vielleicht sagen, ohne das Album irgendwie schlechter zu machen, als es ist. Und das Klagende, das ich in „Pierce City“ höre, ist vielleicht ja dann doch wieder eine neue Facette? Wobei die Stimmung im Solo von Murray sich verändert und das Introspektive vom Thema schnell weggeblasen ist, nur noch in einzelnen Phrasen durchschimmert. Das Stück gefällt mir allerdings wirklich gut, auch dank des kurzen Klaviersolos von Gilchrist, das die zart-verhaltene Stimmung des Themas aufgreift – insgesamt finde ich das doch eine bemerkenswerte Murray-Ballade … klingt ein wenig nach Coltranes „Ballads“ in ihrer Zurückgenommenheit. Und der Übergang mit Arco-Bass und Bassklarinette in „Banished“ bleibt in dieser Stimmung … und in einem Coltrane-Mood: fast wirken die Linien, die Murray hier „singt“ wie eine Variation über „A Love Supreme“. Mit „Believe in Love“ folgt dann wieder eine Art Tango – aber das kommt für meine Ohren nicht ans Titelstück von „Like a Kiss …“ heran, klingt fast ein wenig wie ein zweiter Aufguss, obwohl Cyrille ziemlich tolle Rudiments (immer wieder diese perfekten, so unglaublich leicht wirkenden Rolls) auf der Snare beisteuert (und sein Solo in „Transitions“ ist wirklich phänomenal!). Nach diesem recht verhaltenen Mittelteil folgt mit „Family Reunion“ wieder ein zupackendes Stück, das einen Bogen zu „Transitions“ schlägt und die Zwiebelkonstruktion des Albums offenbart: dreimal eher verhalten im Kern, darum herum eine Schicht Murray-Grossgroove und zuäusserst eine Schicht mit Wilson. Dass deren Kassandra-Closer dann ein simpler Blues ist, ist vielleicht zunächst etwas enttäuschend, aber ihr Charisma sorgt dafür, dass das nicht so bleibt, und die Rhythmusgruppe rollt ihr einen tollen Teppich aus. Den betritt dann auch der Leader noch, stellenweise von Stoptime-Bass begleitet.

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    gypsy-tail-wind
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    vorgarten

    david murray black saint quartet, live in berlin (2007)

    hier hatte ich definitiv wieder kontakt zu murray aufgenommen, ich saß nämlich bei diesem konzert im november 2007 in der zweiten reihe. eine „lange nacht des jazz“ war der rahmen, im dafür komplett ungeeigneten kulturort radialsystem V, ein ehemaliges abwasserpumpwerk mit sehr hohen decken und auch sonst viel zu großen dimensionen. ich kann mich unscharf an paolo fresu erinnern, auf rava & bollani hatte ich keinen bock, im kleinen saal war ich bei „bauer 4“ (johannes, conny, matthias & louis rastig, wenn ich mich richtig erinnere), beim murray-konzert habe ich dann nur brei gehört. die energie war spürbar, aber die drums gingen nach hinten raus, vom klavier waren keine einzeltöne zu identifizieren und an den basssound kann ich mich gar nicht mehr erinnern. es hat jetzt nochmal lange zeit gedauert, bis ich mich an das audiodokument herangewagt habe, der rbb hatte mitgeschnitten, die soundprobleme sind auch hier im mix zu hören, aber wenigstens hört man, was die vier (murray, gilchrist, shahid, drake) überhaupt gespielt haben. und das ist eine grandiose quartett-aufnahme, wie ich gerade zum ersten mal verstanden habe. eine energetische, stark aufgeladene suite aus dem material von SACRED GROUND, der vater-hommage aus der streichquartettplatte, und „murray’s steps“. lafayette gilchrist spielt unglaublich gut hier, sehr eigen, bass und schlagzeug dahinter total modern (drake spielt in seinen soli einfach den groove weiter und darin ca. 200 variationen jedes einzelnen elements davon). und murray ist total inspiriert. auf dem klavier lag ein großes schwarzes buch, das broecking in den liner notes als john hicks‘ songbook des power quartets identifiziert hat, das er vor seinem tod noch gilchrist übergeben konnte.

    vor dem konzert habe ich draußen geraucht und konnte durchs fenster murray beim aufwärmen zusehen. habe mein foto gerade wiedergefunden.

    Das Foto von Murray ist so toll, danke nochmal dafür – hab’s jetzt auch mal noch gsepeichert, falls Du es mal wieder brauchst und nicht findest ;-)

    Die Soundprobleme sind wirklich da auf diesem Album, das auch gerade zum ersten Mal läuft – aber das Verhaltene von „Sacred Ground“ ist abgelegt, Murray in Form, die neue Rhythmusgruppe findet einen schlankeren Sound mit mehr Groove und Funk. Und Gilchrist, den ich nur aus dieser Band kenne (ich hörte damals was im Radio oder via Dimeadozen, vielleicht auch dieses Konzert, bevor es dann im Jahr nach der Aufnahme erschien), ist wirklich toll hier – auch perkussiver, zupackender als zuvor im Studio. Viel mag ich da auch gar nicht dazu schreiben: ein starker Quartett-Auftritt ist halt am Ende das, was Murray über all die Jahre am besten konnte – und so einen kriegen wir hier. Die Coltrane-Stimmung it auch wieder da, in „Banished“ und „Sacred Ground“ vom gleichnamigen Album, aber auch im folgenden „Murray’s Steps“, einer Variationen über „Giant Steps“. Drumherum sind der mitreissende Opener „Dirty Laundry“ (mit einem Schlagzeug-Solo, wie von @vorgarten beschrieben) und der Closer „Waltz Again“ angeordnet. Mein direktester Vergleich hierzu ist das Village Vanguard-Konzert, und so heiss und gelungen ist dieser Mitschnitt aus Berlin nicht, aber dennoch: Murray liefert immer noch ab und dank der Band – die glaub ich in diesem Line-Up mit Shahid/Drake nicht oft aufgenommen wurde? – ist das auch unbedingt hörenswert!

    Also auch nicht direkt Euphorie heute – aber doch neue Facetten, neue Line-Ups, interessante Entdeckungen mit starken Gastauftritten (Sanders, Wilson) und viele hervorragende Momente.

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