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vorgarten
ich habe zwei alben übersprungen – ein live-dokument des henry grimes trios (LIVE AT THE KERAVA JAZZ FESTIVAL, mit murray & drake, 2004, bei ayler erschienen) und das dritte von drei conjure-alben, von kip hanrahan für sein american-clavé-label 2005 produziert, wie die anderen um texte von ishmael reed gebaut, mit einem kurzen gastauftritt von murray, titel: BAD MOUTH).
reed hat danach zwei texte für cassandra wilson und auch die liner notes für das nächste murray-leader-album geschrieben:
david murray black saint quartet fest. cassandra wilson, sacred ground (2006)
john hicks war ein halbes jahr vor diesen aufnahmen gestorben, sein schüler lafayette gilchrist ersetzt ihn in diesem quartet, das ansonsten das gleiche ist wie auf LIKE A KISS THAT NEVER ENDS (2000; drummond & cyrille), aber natürlich anders heißt. der ursprung dieser aufnahmen liegt in einem score von murray für den dokumentarfilm BANISHED von marco williams über die vertreibung von schwarzen aus dem süden der usa nach dem ende des bürgerkriegs. außerdem sind auch noch die bilder aus louisiana nach katrina präsent, zeit also, mal wieder ein statement gegen den strukturellen rassismus im land zu setzen.
die kompositionen dürften jetzt nicht zu den allerbesten von murray gehören, aber das album hat trotzdem große kohärenz und überzeugungskraft. cyrille fügt sich besser ein (auch, weil die musik nicht so auf die tube drückt), der etwas schlanker (schwächer?) spielende murray reißt sich zu ein paar großen soli auf, gilchrist, der ganz anders als hicks spielt, ist eine interessante neue stimme, und cassandra wilson ist auch super (reed hat ihr tatsächlich einen song über die mythische kassandra geschrieben, „prophet of doom“). und es gibt ein unglaublich tolles solo von cyrille, das man als eigene erzählung ausschneiden könnte.
ich habe das album damals gehört und so kurz wieder kontakt zu murray aufgenommen, aber so richtig hat es nicht geklickt (eigentlich erst im letzten jahr wieder). heute höre ich das als schlüssige, ziemlich typische murray-quartett-aufnahme.
Ich docke weiter an … das Grimes Trio-Album fehlt mir, passte mir damals irgendwie nicht (ich müsste irgendwo einen Rip davon haben, den mir damals jemand geschickt hat) und ich hab’s danach nie nachgeholt. Die Liner Notes von Reed hier sind ziemlich witzig: wie er sich einerseits selbst zum „world class writer“ ernennt, andererseits beschreibt, wie auf den Auftrag für Wilson was zu schreiben, wie ein aufgeregter Teenager reagiert habe („I was 68 and all I could think o was ‚Wow,‘ like some zit afflicted adolescent“). Ich höre hier auch eine grosse Kohärenz – und vielleicht in Gilchrists Spiel auch Spuren vom anderen grossen Murray-Pianisten, Dave Burrell: ein Überborden, das nichts ins Surrealistische geht, aber eine weiche Qualität hat (anders als bei D.D. Jackson, der eher in der perkussiven Linie steht). Murray ist vielleicht wirklich nicht in seiner allerbesten Form, aber das gibt der Band etwas mehr Raum – wobei Gilchrist auch mehr beansprucht als Hicks, schneller irgendwo reingeht, dazwischen geht, selbst wenn Murray (in „Transitions“ etwa) in der Zone ist. Die Aufnahme (Peter Karl Studios, Brooklyn, Oktober 2006) gefällt mir auch besser als die von „Like a Kiss … „(Soun on Sound in NYC im Juni 2000), vor allem Drummond gewinnt dabei, sein Bass klingt runder, voller (Wumms hat er eh, aber auf „Like a Kiss…“ verklingt jeder Ton so schnell, als würde er in einer mit Filz ausgekleideten Box stehen, hier darf er etwas mehr klingen). Dass Wilson nur auf dem Opener und dem Closer mitwirkt, finde ich bedauerlich, aber die zwei Stücke geben dem einmal mehr etwas langen Album andererseits auch einen guten Rahmen. Dazwischen gibt es fünf Originals von Murray (der auch die Musik für die zwei Stücke mit Texten von Reed schrieb). Rollende Grooves, klagende Balladen … ein recht typisches oder für Murray fast schon klassisches Programm kann man vielleicht sagen, ohne das Album irgendwie schlechter zu machen, als es ist. Und das Klagende, das ich in „Pierce City“ höre, ist vielleicht ja dann doch wieder eine neue Facette? Wobei die Stimmung im Solo von Murray sich verändert und das Introspektive vom Thema schnell weggeblasen ist, nur noch in einzelnen Phrasen durchschimmert. Das Stück gefällt mir allerdings wirklich gut, auch dank des kurzen Klaviersolos von Gilchrist, das die zart-verhaltene Stimmung des Themas aufgreift – insgesamt finde ich das doch eine bemerkenswerte Murray-Ballade … klingt ein wenig nach Coltranes „Ballads“ in ihrer Zurückgenommenheit. Und der Übergang mit Arco-Bass und Bassklarinette in „Banished“ bleibt in dieser Stimmung … und in einem Coltrane-Mood: fast wirken die Linien, die Murray hier „singt“ wie eine Variation über „A Love Supreme“. Mit „Believe in Love“ folgt dann wieder eine Art Tango – aber das kommt für meine Ohren nicht ans Titelstück von „Like a Kiss …“ heran, klingt fast ein wenig wie ein zweiter Aufguss, obwohl Cyrille ziemlich tolle Rudiments (immer wieder diese perfekten, so unglaublich leicht wirkenden Rolls) auf der Snare beisteuert (und sein Solo in „Transitions“ ist wirklich phänomenal!). Nach diesem recht verhaltenen Mittelteil folgt mit „Family Reunion“ wieder ein zupackendes Stück, das einen Bogen zu „Transitions“ schlägt und die Zwiebelkonstruktion des Albums offenbart: dreimal eher verhalten im Kern, darum herum eine Schicht Murray-Grossgroove und zuäusserst eine Schicht mit Wilson. Dass deren Kassandra-Closer dann ein simpler Blues ist, ist vielleicht zunächst etwas enttäuschend, aber ihr Charisma sorgt dafür, dass das nicht so bleibt, und die Rhythmusgruppe rollt ihr einen tollen Teppich aus. Den betritt dann auch der Leader noch, stellenweise von Stoptime-Bass begleitet.
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