Das Kinojahr 2022 aus meiner Sicht

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    motoerwolf

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    Beiträge: 6,160

    SPOILER AHEAD!

    @krautathaus: Auf deinen besonderen Wunsch hin hier meine Kritik zu

    Drive My Car (ドライブ・マイ・カー / Doraibu mai kā, Ryūsuke Hamaguchi, 2021, J)

    Drive my car dürfte der beste Film des Jahres sein, von nichts, was dieses Jahr noch kommt, erwarte ich eine Steigerung zu Hamaguchis zurecht oscarprämiertem Meisterwerk. Die Handlung ist zunächst einmal nichts weltbewegendes, ungewöhnliches.  Kafuku ist Regisseur beim Theater und lebt scheinbar glücklich mit seiner Frau Oto zusammen. Diese betrügt ihn, wovon er erfährt, aber es vorzieht, dazu zu schweigen. Nach einiger Zeit stirbt Oto an einem Apoplex.

    Zwei Jahre später soll Kafuku Tschechows Stück Onkel Wanja in Hiroshima inszenieren. Sein Ensemble ist dabei extrem divers aufgestellt, es spielen dort Japaner, Koreaner und ein Deutscher mit, alle jeweils in ihrer eigenen Muttersprache. Darüber hinaus gibt es auch stumme Schauspieler, so dass Teile des Films statt gesprochener Worte verschiedene Gebärdensprachen enthalten (was bei mir zu einem tollen Moment geführt hat, als ich einen Satz in koreanischer Gebärdensprache ohne Dolmetscher verstehen konnte). Große Teile des Films bestehen dann aus Aufnahmen der Proben, andere Sequenzen zeigen Kafuku im Auto, während er einer Aufführung des Stückes lauscht. Bei den Proben lernt Kafuku natürlich seine Schauspieler immer besser kennen, ihre Probleme, ihre Sorgen. Und er lernt Kōji kennen, den früheren Liebhaber seiner Frau. Überraschenderweise aber ist dieses Aufeinandertreffen für Kafuku wertvoll, denn er erfährt auf diese Weise lange nach Otos Tod noch einiges über sie. Während er so mit der Vergangenheit ringt, tritt eine neue Frau in sein Leben. Misaki wird ihm vom Theater als Fahrerin gestellt. Der Start der beiden ist etwas holperig, doch mit der Zeit beginnen die beiden auf ihren langen Fahrten miteinander zu sprechen. Aus zunächst verschlossenen Menschen werden so ganz langsam so etwas wie Freunde, die sich einander öffnen und so gemeinsam beginnen ihre Traumata zu verarbeiten.

    Sprache ist das zentrale Thema des Films. Unter den erschwerten Bedingungen, die ein so gemischtes Ensemble mitbringt, müssen die Figuren, besonders Kafuku und Misaki ihre Sprachlosigkeit überwinden, die sie bisher hindert, ihre Traumata zu bewältigen. Sie müssen aber nicht nur das Sprechen lernen, auch das Zuhören als aktive Handlung muss erst gelernt werden. Dass ein Film, dessen Thema Sprache ist, zum poetischsten gehört, was ich im Kino seit langem gesehen habe, zeigt die Genialität der Macher. Das bezieht sich übrigens auf alle Aspekte des Films. Auch bildlich ist er wunderschön gestaltet. Arthouse at it’s best. Allerdings ein Film, der naturgemäß viel Aufmerksamkeit verlangt.

    zuletzt geändert von motoerwolf

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    Highlights von Rolling-Stone.de
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    #11944927  | PERMALINK

    motoerwolf

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    Beiträge: 6,160

    In aller gebotenen Kürze hier meine Kritik zu

    Firestarter (Keith Thomas, 2022, USA)

    Das dürfte der mieseste Film des Jahres sein. Nichts daran überzeugt. Drehbuch, Regie, Schauspiel, Optik (besonders die Effekte), alles ist unterirdisch. Und mit diesen zwei Zeilen wurde dem Film bereits zu viel Aufmerksamkeit zuteil.

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    #11945025  | PERMALINK

    fifteenjugglers
    war mit Benno Fürmann in Afghanistan

    Registriert seit: 08.07.2002

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    Zustimmung zu „Lamb“ und „Crimes Of The Future“. Letzteren fand ich aber zumindest interessant (vor allem auch visuell). Letztendlich aber ob der Drehbuchschwäche doch arg zäh und einfach zu lang. Daher in der Summe bestenfalls okay.

    „Raw“ spielt auf einer ganz anderen Ebene (ist auch nochmal besser als „Lamb“).

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    "Don't reach out for me," she said "Can't you see I'm drownin' too?"
    #11945041  | PERMALINK

    gipetto
    Funk 'n' Punk

    Registriert seit: 04.02.2015

    Beiträge: 12,719

    @motoerwolf

    Ein sehr schöner Faden, vielen Dank! Früher war ich sehr häufig im Kino, aber seit unsere Tochter da ist, und sie ist immerhin schon 11 Jahre alt, gehen wir nur noch sporadisch. Dieses Jahr waren wir exakt zweimal im Wolfenbütteler Filmpalast: Einmal für „Bullet Train“, den ich als seichte, aber solide Unterhaltung empfand, und später dann für „The French Dispatch“, der mich total begeistert hat. Schade, dass Du den letztgenannten Streifen nicht gesehen hast – hier hätte mich Deine Meinung sehr interessiert.

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    "Really good music isn't just to be heard, you know. It's almost like a hallucination." (Iggy Pop)
    #11945163  | PERMALINK

    motoerwolf

    Registriert seit: 25.10.2006

    Beiträge: 6,160

    fifteenjugglersZustimmung zu „Lamb“ und „Crimes Of The Future“. Letzteren fand ich aber zumindest interessant (vor allem auch visuell). Letztendlich aber ob der Drehbuchschwäche doch arg zäh und einfach zu lang. Daher in der Summe bestenfalls okay.
    „Raw“ spielt auf einer ganz anderen Ebene (ist auch nochmal besser als „Lamb“).

    Schon Julia Ducournaus erster Kurzfilm Junior (2011) ist Cronenbergs neuem Film überlegen. Sie hat einen deutlichen aktuelleren Zugang zu körperlichen Themen als Cronenberg, ist dabei in allen ihren Werken empathischer mit ihren Figuren und nicht zuletzt auch deutlich schockierender. Die etwas über 20 Minuten ihres Debuts gingen mir jedenfalls näher als COTF. Ich erwarte noch großes von dieser Regisseurin.

    Interessant ist COTF tatsächlich dennoch, da gebe ich dir Recht. Ich habe ihn auch erst mal sacken lassen müssen, ein wenig durchdenken, auch in der Hoffnung, etwas gutes übersehen zu haben. Schließlich erkennt man ein Meisterwerk nicht immer sofort. Ich befürchte aber, dieser Film würde auch nach einer Zweit- und Drittsichtung nicht besser bei mir wegkommen.

    zuletzt geändert von motoerwolf

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    #11945165  | PERMALINK

    motoerwolf

    Registriert seit: 25.10.2006

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    gipetto@motoerwolf
    Ein sehr schöner Faden, vielen Dank! Früher war ich sehr häufig im Kino, aber seit unsere Tochter da ist, und sie ist immerhin schon 11 Jahre alt, gehen wir nur noch sporadisch. Dieses Jahr waren wir exakt zweimal im Wolfenbütteler Filmpalast: Einmal für „Bullet Train“, den ich als seichte, aber solide Unterhaltung empfand, und später dann für „The French Dispatch“, der mich total begeistert hat. Schade, dass Du den letztgenannten Streifen nicht gesehen hast – hier hätte mich Deine Meinung sehr interessiert.

    The French Dispatch kam ja schon letztes Jahr in die Kinos, und bereits da habe ich ihn verpasst. Dieses Jahr hätte ich noch einmal eine Chance gehabt, aber es kam etwas dazwischen. Es ist halt egal, wie oft man ins Kino geht, irgendetwas versäumt man immer.

    zuletzt geändert von motoerwolf

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    #11945201  | PERMALINK

    motoerwolf

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    À la Carte! – Freiheit geht durch den Magen (Délicieux, Éric Besnard, 2021, F/B)

    In Frankreich, relativ kurz vor der Revolution, wird der begabte Koch Manceron von seinem Arbeitgeber, einem Fürsten, entlassen, weil er bei einem Bankett zusammen mit edlen Zutaten Kartoffeln serviert hat. Daraufhin eröffnet er auf einem alten Hof eine Gaststätte, wo er billiges, einfaches Essen an Reisende verkauft. Erst als die geheimnisvolle Louise ihn darum bittet, bei ihm arbeiten und lernen zu dürfen, ändert sich die Situation langsam wieder. Denn neben der menschlichen Annäherung, die Manceron und Louise bald erfahren, stellt sich eine berufliche Harmonie ein. Mancerons Leidenschaft für gutes Essen wird neu belebt, Louise nimmt sein Wissen begeistert auf, und gemeinsam entwickeln die beiden das moderne Konzept des Restaurants. Damals ist das schon deswegen revolutionär, weil hierin Bürger und Adlige gleichzeitig qualitativ hochwertige Speisen in einem Raum genießen konnten. Über allem jedoch schwebt die Frage, was es denn eigentlich mit Louise auf sich hat. Warum ist sie zu Manceron gekommen? Und woher?
    Besnards Film spielt zwar vage vor dem Hintergrund der Revolution, soziale und politische Themen spielen daher auch eine Rolle. Der deutsche Titel spielt ja schon darauf an. Man darf hier aber trotzdem keinen wirklich politischen Film oder ein Revolutionsdrama erwarten. Klar im Zentrum des Films steht der Genuss. Manceron und Louise wollen als Köche ihre Gäste kulinarisch betören, und Besnard versucht das gleiche emotional, optisch und akustisch mit dem Zuschauer. Neben dem kulinarischen und dem revolutionären Aspekt des Films greift der deutsche Titel durch die Abwandlung des bekannten geflügelten Wortes auch noch die dritte wichtige Komponente der Erzählung auf, die Liebe. Die Liebesgeschichte ist warmherzig erzählt, passend zu den wunderschönen Bildern, die noch Staub, Spinnweben und Ruß (von den Köstlichkeiten ganz zu schweigen) ins rechte, warme Licht zu rücken vermögen, ohne völlig zu verkitschen. So manche Aufnahme könnte in Öl auf Leinwand auch neben einem alten Meister im Museum hängen ohne aufzufallen. Auch der Ton ist sehr gelungen, sehr plastisch und die Bilder stark unterstützend. Geräusche gehören halt zum Kochen dazu.
    À la Carte! ist ein purer Feelgood-Film mit starkem französischem Flair. Genuss und Sinnlichkeit sind seine Themen, sein Ziel nicht unbedingt das Hirn, sondern das Herz. Mir hat er sehr gefallen. Der perfekte Film für einen schönen Abend zu zweit auf der Couch, mit etwas Rotwein und ein paar kleinen Köstlichkeiten. Wer daran dann gefallen gefunden hat, kann den nächsten Themen-Kuschelabend ja mit Master Cheng in Pohjanjoki (Mestari Cheng, Mika Kaurismäki, 2019) mit angepassten Speisen und Getränken veranstalten.

    zuletzt geändert von motoerwolf

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    #11946105  | PERMALINK

    herr-rossi
    Moderator
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    Registriert seit: 15.05.2005

    Beiträge: 85,023

    motoerwolf
    Außerdem stört mich mittlerweile sehr, dass der Film eine Verschwörung für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verantwortlich macht. Früher wäre mir das egal gewesen, ist ja erkennbar Fiktion. In Zeiten wie unseren ist es zumindest etwas, worüber man nachdenken sollte. Es wird halt u.U. Öl ins Feuer von Irren sein.

    Bei einem Franchise über eine Geheimorganisation, die über Generationen die Geschicke des Landes mitlenkt, kommt die Verschwörungstheorie ja quasi ab Werk, aber wenn es um reale Ereignisse geht, hat das tatsächlich inzwischen einen unangenehmen Beigeschmack. Ich teile Deine Kritik – der erste Teil von „The Kingsman“ war prima, der zweite ein schwacher Aufguss, der dritte verwirrend und überladen, aber mit Momenten.

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    #11946245  | PERMALINK

    motoerwolf

    Registriert seit: 25.10.2006

    Beiträge: 6,160

    Ein kurze Zwischenbetrachtung einer Beobachtung, die ich seit einiger Zeit mache: in den letzten mindestens drei Jahren bemerke ich eine Präsenz von Filmen aus dem Nahen und Mittleren Osten im Kino, die zumindest für mich neu ist. 2020 kam der starke Doch das Böse gibt es nicht (شیطان وجود ندارد / Sheytan vojud nadarad, Mohammad Rasulof) in die deutschen Kinos, letztes Jahr hatten A Hero – Die verlorene Ehre des Herrn Soltani  (قهرمان / Ghahreman, Asghar Farhadi) und Ballade von der weißen Kuh ( قصیده گاو سفید / Ghasideyeh gave sefid, Behtash Sanaeeha / Maryam Moghaddam) Premiere, alles Filme, die zumindest mit iranischer Beteiligung entstanden. Und alle drei thematisieren auf die ein oder andere Art das iranische Rechtssystem. Natürlich ist das „offizielle“ iranische Kino ein anderes, und dessen Filme würde man aus diversen Gründen nicht schauen wollen. Bestenfalls ist das nämlich gut gemachte Propaganda oder seichte Unterhaltung. Meist kann man das ‚gut gemachte‘ aber streichen. Wer aber den freien iranischen Film der letzten Jahre verfolgt hat, konnte zumindest ahnen, dass sich in diesem Land etwas zusammenbraut.

    (Übrigens ärgert mich in Bezug auf Filme dieses Jahr nichts mehr, als Mona Lisa and the Blood Moon von Ana Lily Amirpour verpasst zu haben. Das ist zwar ein amerikanischer Film, doch Amirpour hat iranische Wurzeln, die zumindest in ihrem Langfilmdebut A Girl Walks Home Alone at Night auch thematisiert werden.)

    Zur Zeit laufen mit Sonne (Kurdwin Ayub) und Rheingold (Fatih Akin) ein österreichischer und ein u.a. deutscher Film im Kino, in denen Kurden die zentralen Figuren sind, die streckenweise untertitelt sind, weil kurdisch gesprochen wird. Die Schwerpunkte beider Filme sind völlig verschieden, aber kurdische Migranten erhalten hier eine Plattform, werden repräsentiert. Ihr Leben wird nicht durch weiße Augen betrachtet, sie erhalten tatsächlich eine Stimme.

    Dazu kommen Filme wie The Ambush (Al Kameen, Pierre Morel) oder auch (Überlebens-)Wert (المختارون / alMukhtarun,  Ali F. Mostafa, 2016), die wenig mehr sind als Actionfilme (wenn auch The Ambush eine reale Story aufgreift). Beide könnten mit winzigen Änderung so auch aus Hollywood kommen, der größte Unterschied ist eben, dass die Handelnden nicht weiß sind.  Und tatsächlich macht das etwas aus, höre ich zum Beispiel von meinen marokkanischen Schülern. Es tut diesen gut, in einem heroischen Kriegsfilm mal einen Ali, einen Mansoor oder Salem statt eines Bills oder Johns als Helden zu sehen, nicht nur wie sonst als Terroristen. Repräsentanz ist wichtig, und ich finde es großartig, dass sich die Region mittlerweile stärker selbst darum bemüht. Denn wenn amerikanisches oder europäisches Kino entsprechende Themen aufgriff, war das oft peinlich klischeehaft. Und führte fast immer zur Problemlösung durch einen white saviour.

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    #11947753  | PERMALINK

    motoerwolf

    Registriert seit: 25.10.2006

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    The Sadness (哭悲 / Ku bei, Rob Jabbaz, 2021, RC)

    Zwei Filme aus diesem Jahr wurden vorab bereits als extreme ‚Schlachtplatte‘ beworben und dafür so Werbeklassiker verwendet wie die Aussage, es habe bei Vorführungen schon Erbrechen und Ohnmachtsanfälle gegeben. Der erste davon war The Sadness, der zweite kürzlich Terrifier 2. Beide Filme sind auch tatsächlich ziemlich heftig geworden, und es ist für Menschen wie mich, die mit verstümmelten Fassungen aller möglichen Filme aufgewachsen sind, immer ein wenig Verwunderung im Spiel, wenn man in so einem Film sitzt und ihn ohne Schnitte sehen darf.
    The Sadness erzählt die Geschichte von Jim und Kat, einem jungen Paar aus Taipeh. Eines morgens wachen sie zu der Nachricht von einem neuen Virus auf, vor dem gewarnt wird, und trotz erster seltsamer Beobachtungen fährt Kat zur Arbeit. Schon auf dem Heimweg erlebt Jim dann krasse Gewaltexzesse, ebenso wie Kat, die im Zug sitzt. Ab hier geht es darum, wie die zwei trotz der immer weiter eskalierenden Pandemie wieder zueinander finden und sich gemeinsam in Sicherheit bringen können.
    Jabbaz‘ Film ist aber nicht einfach nur extrem in der Gewaltdarstellung. Einen hohes Level an gezeigter Gewalt findet sich ja inzwischen auch im TV in Serien wie The Walking Dead, und die letzten Teile des Halloween-Franchises waren auch schon nicht zimperlich. Im Vergleich zu diesen Beispielen, die eher dem Mainstream zuzuordnen sind, ist The Sadness aber nicht unbedingt optisch herausfordernder, sondern von der Stimmung her. Die Infizierten sind ja keine Zombies à la Romero, sondern lebende Menschen, bei denen der Virus scheinbar latent vorhandene negative Gefühle und Triebe extrem verstärkt. So wird ein Geschäftsmann, der sich im Zug bereits als ‚heimlicher Verehrer‘, sprich Stalker, Kats geoutet hat, nach seiner Infektion ein Serienvergewaltiger und -mörder. Was zu Szenen führt, die selbst Jabbaz scheinbar doch zu heftig waren, um sie direkt und detailliert zu zeigen. Die Penetration einer Augenhöhle zum Beispiel wird ’nur‘ angedeutet. Es bleibt aber genug heftiges zu sehen. Besonders gut in Erinnerung ist mir eine Szene geblieben, in der ein junger Mann von einer Gruppe anderer gefoltert wird, indem seine Genitalien immer wieder gegen einen mit Stacheldraht umwickelten Laternenpfahl gerammt werden. In vielen anderen Filmen hätte eine solche Szene durch ihre Überzeichnung für einen makaberen Gag herhalten müssen, man hätte dem Zuschauer durch die slapstikartige Darstellung einen comic relief gegönnt. In The Sadness dagegen spürt man den Schmerz der Opfer. Die Gewalt ist insofern deutlich realistischer als in vielen anderen Horrorfilmen. Die Opfer verlieren hier nicht nur Blut, Körperteile und ihr Leben, sondern auf dem Weg dahin auch ihre Würde. Während die Täter ihr Tun in einer Weise zu genießen scheinen, die dem Zuschauer fast so schwer erträglich ist wie die Taten selbst. Zumindest eine Weile lang, gegen Ende stellt sich dann schon der Gewöhnungseffekt ein, denn irgendwann ist eine Steigerung eben kaum mehr möglich.
    Wer von The Sadness wegen des Pandemiehintergrundes einen Kommentar zur aktuellen Weltlage erwartet, wird allerdings enttäuscht werden. Zwar gibt es kurze Sequenzen, die die Regierung und ihre Versuche, mir der Pandemie umzugehen, gezeigt werden, aber diese Szenen dienen der Stimmung, machen darüber hinaus aber keine politische oder soziale Aussage. Die Darstellung toxischer Männlichkeit scheint mir dagegen ein ernsteres Anliegen Jabbaz‘ zu sein, doch ich befürchte, dass die wenigsten Zuschauer darin eine Botschaft zu entdecken vermögen. Dazu wird man viel zu sehr von der Gewalt, nun ja, überwältigt.
    Das größte Problem von The Sadness ist der letzte Akt. Jabbaz gerät hier ins Erklären der Katastrophe, und wie so oft im Horrorfilm ist das keine gute Idee und wäre auch gar nicht nötig gewesen, um den Film zu einem vernünftigen Abschluss zu bringen.
    Unter dem Strich ist The Sadness ein harter (sicher aber nicht der härteste), fast völlig humorloser Horrorfilm, der die titelgebende Stimmung größtenteils gut transportiert, wobei ich mich schwer tue, ein passendes deutsches Wort dafür zu finden. Traurigkeit allein ist nicht ganz passend, Schwermut, Bitterkeit, Schmerz müssen mitgedacht werden. Vielleicht passt Melancholie, wenn man die Konnotation ‚bitter-süß‘ außen vor lässt. Technisch gibt es nichts auszusetzen, die Effekte sind zumindest zum größten Teil handgemacht und von hoher Qualität. Die Darsteller machen ihren Job prima, besonders der eklige Geschäftsmann. Für Fans harter Filme ist sicher kein Fehler, den Film zu schauen. Für ein Meisterwerk fehlt es allerdings an Tiefe und im letzten Akt ein wenig an Konsequenz, weil sich ganz am Ende noch ein kleiner Funken Hoffnung in den Film schleicht.

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    #11948113  | PERMALINK

    motoerwolf

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    Chase (Last Seen Alive, Brian Goodman, 2022, USA)

    Ein eher uninspiriertes Werk bar jeder Originalität. Der Anfang erinnert stark an Breakdown (Jonathan Mostow, 1997), der deutlich stärker ist als Chase. Es ist nicht so, dass Godmans Film größere technische Mängel hätte. Es ist in erster Linie das Drehbuch, das ohne starke Höhepunkte auskommt, kaum Überraschungen bietet. Man kann sich Chase ansehen, ohne dass man sich wirklich ärgern muss, aber der Film ist auch schon wieder vergessen, wenn der Abspann vorbei ist.

    zuletzt geändert von motoerwolf

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    #11948483  | PERMALINK

    motoerwolf

    Registriert seit: 25.10.2006

    Beiträge: 6,160

    Violent Night (Tommy Wirkola, 2022, USA)

    Der zwar echte, aber verbitterte und dem Alkohol stark zugeneigte Santa Claus wird zum unfreiwilligen Beschützer einer reichen Familie (bzw. Trudy, der Tochter des Hauses) und muss eine Gruppe Einbrecher in die Schranken verweisen.
    Der Trailer wirkte ganz nett, nahm aber auch schon nur in der zweiten Hälfte Fahrt auf und machte Lust auf einen zwar wenig niveauvollen, aber ‚frechen‘ Film mit teils zweifelhaften Gags. Der wird zwar auch geliefert, aber leider ist das nur die halbe Wahrheit. Violent Night versucht nämlich einen Spagat zwischen einer Actionkomödie und einem echten Weihnachtsfilm. Als Blaupausen nimmt Wirkola dazu Kevin – Allein zu Haus sowie jeden anderen, x-beliebigen Home Invasion-Thriller und jeden beliebigen Weihnachtskitsch (nicht mein Genre, daher will ich keinen Vergleichstitel nennen). Beides fügt sich aber nicht zusammen. Sobald Santa Kontakt zur kleinen Trudy hat, wird der Film furchtbar sentimental, solange er es mit anderen zu tun hat, ist der Film vulgär und teils ziemlich brutal. Vor allem aber ist er über weite Stecken ziemlich langweilig. Mit Pipi-Kacka-Witzen kann ich leben, mit Angst vor der eigenen Radikalität hier eher nicht. Hier wurde viel Potential verschenkt.

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    #11948571  | PERMALINK

    Anonym
    Inaktiv

    Registriert seit: 01.01.1970

    Beiträge: 0

    Wieder ein sehr maues Kinojahr.  :-( Ich hoffe, diese Kunstform kommt nun endlich wieder in Schwung.

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    #11948611  | PERMALINK

    motoerwolf

    Registriert seit: 25.10.2006

    Beiträge: 6,160

    Oh, es gab schon sehr gute Filme. Aber natürlich auch viel Mittelmaß. Zu den guten Werken möchte ich gerne mehr schreiben, und das dauert. Zeit für einen kurzen Verriß finde ich dagegen öfter.

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