Antwort auf: Das Kinojahr 2022 aus meiner Sicht

Startseite Foren Kulturgut Für Cineasten: die Filme-Diskussion Das Kinojahr 2022 aus meiner Sicht Antwort auf: Das Kinojahr 2022 aus meiner Sicht

#11947753  | PERMALINK

motoerwolf

Registriert seit: 25.10.2006

Beiträge: 6,177

The Sadness (哭悲 / Ku bei, Rob Jabbaz, 2021, RC)

Zwei Filme aus diesem Jahr wurden vorab bereits als extreme ‚Schlachtplatte‘ beworben und dafür so Werbeklassiker verwendet wie die Aussage, es habe bei Vorführungen schon Erbrechen und Ohnmachtsanfälle gegeben. Der erste davon war The Sadness, der zweite kürzlich Terrifier 2. Beide Filme sind auch tatsächlich ziemlich heftig geworden, und es ist für Menschen wie mich, die mit verstümmelten Fassungen aller möglichen Filme aufgewachsen sind, immer ein wenig Verwunderung im Spiel, wenn man in so einem Film sitzt und ihn ohne Schnitte sehen darf.
The Sadness erzählt die Geschichte von Jim und Kat, einem jungen Paar aus Taipeh. Eines morgens wachen sie zu der Nachricht von einem neuen Virus auf, vor dem gewarnt wird, und trotz erster seltsamer Beobachtungen fährt Kat zur Arbeit. Schon auf dem Heimweg erlebt Jim dann krasse Gewaltexzesse, ebenso wie Kat, die im Zug sitzt. Ab hier geht es darum, wie die zwei trotz der immer weiter eskalierenden Pandemie wieder zueinander finden und sich gemeinsam in Sicherheit bringen können.
Jabbaz‘ Film ist aber nicht einfach nur extrem in der Gewaltdarstellung. Einen hohes Level an gezeigter Gewalt findet sich ja inzwischen auch im TV in Serien wie The Walking Dead, und die letzten Teile des Halloween-Franchises waren auch schon nicht zimperlich. Im Vergleich zu diesen Beispielen, die eher dem Mainstream zuzuordnen sind, ist The Sadness aber nicht unbedingt optisch herausfordernder, sondern von der Stimmung her. Die Infizierten sind ja keine Zombies à la Romero, sondern lebende Menschen, bei denen der Virus scheinbar latent vorhandene negative Gefühle und Triebe extrem verstärkt. So wird ein Geschäftsmann, der sich im Zug bereits als ‚heimlicher Verehrer‘, sprich Stalker, Kats geoutet hat, nach seiner Infektion ein Serienvergewaltiger und -mörder. Was zu Szenen führt, die selbst Jabbaz scheinbar doch zu heftig waren, um sie direkt und detailliert zu zeigen. Die Penetration einer Augenhöhle zum Beispiel wird ’nur‘ angedeutet. Es bleibt aber genug heftiges zu sehen. Besonders gut in Erinnerung ist mir eine Szene geblieben, in der ein junger Mann von einer Gruppe anderer gefoltert wird, indem seine Genitalien immer wieder gegen einen mit Stacheldraht umwickelten Laternenpfahl gerammt werden. In vielen anderen Filmen hätte eine solche Szene durch ihre Überzeichnung für einen makaberen Gag herhalten müssen, man hätte dem Zuschauer durch die slapstikartige Darstellung einen comic relief gegönnt. In The Sadness dagegen spürt man den Schmerz der Opfer. Die Gewalt ist insofern deutlich realistischer als in vielen anderen Horrorfilmen. Die Opfer verlieren hier nicht nur Blut, Körperteile und ihr Leben, sondern auf dem Weg dahin auch ihre Würde. Während die Täter ihr Tun in einer Weise zu genießen scheinen, die dem Zuschauer fast so schwer erträglich ist wie die Taten selbst. Zumindest eine Weile lang, gegen Ende stellt sich dann schon der Gewöhnungseffekt ein, denn irgendwann ist eine Steigerung eben kaum mehr möglich.
Wer von The Sadness wegen des Pandemiehintergrundes einen Kommentar zur aktuellen Weltlage erwartet, wird allerdings enttäuscht werden. Zwar gibt es kurze Sequenzen, die die Regierung und ihre Versuche, mir der Pandemie umzugehen, gezeigt werden, aber diese Szenen dienen der Stimmung, machen darüber hinaus aber keine politische oder soziale Aussage. Die Darstellung toxischer Männlichkeit scheint mir dagegen ein ernsteres Anliegen Jabbaz‘ zu sein, doch ich befürchte, dass die wenigsten Zuschauer darin eine Botschaft zu entdecken vermögen. Dazu wird man viel zu sehr von der Gewalt, nun ja, überwältigt.
Das größte Problem von The Sadness ist der letzte Akt. Jabbaz gerät hier ins Erklären der Katastrophe, und wie so oft im Horrorfilm ist das keine gute Idee und wäre auch gar nicht nötig gewesen, um den Film zu einem vernünftigen Abschluss zu bringen.
Unter dem Strich ist The Sadness ein harter (sicher aber nicht der härteste), fast völlig humorloser Horrorfilm, der die titelgebende Stimmung größtenteils gut transportiert, wobei ich mich schwer tue, ein passendes deutsches Wort dafür zu finden. Traurigkeit allein ist nicht ganz passend, Schwermut, Bitterkeit, Schmerz müssen mitgedacht werden. Vielleicht passt Melancholie, wenn man die Konnotation ‚bitter-süß‘ außen vor lässt. Technisch gibt es nichts auszusetzen, die Effekte sind zumindest zum größten Teil handgemacht und von hoher Qualität. Die Darsteller machen ihren Job prima, besonders der eklige Geschäftsmann. Für Fans harter Filme ist sicher kein Fehler, den Film zu schauen. Für ein Meisterwerk fehlt es allerdings an Tiefe und im letzten Akt ein wenig an Konsequenz, weil sich ganz am Ende noch ein kleiner Funken Hoffnung in den Film schleicht.

--

And all the pigeons adore me and peck at my feet Oh the fame, the fame, the fame