Re: Andrew Hill

#7893819  | PERMALINK

gypsy-tail-wind
Moderator
Biomasse

Registriert seit: 25.01.2010

Beiträge: 68,134


Rudy Van Gelder & Alfred Lion

Mit diesem Post beginnt, was man das zweite Kapitel von Hills Karriere nennen könnte, zu dem die Session vom 7. März 1966 mit Sam Rivers eigentlich auch schon zählen könnte – dass sie es nicht tut, liegt an ihrer Veröffentlichungsgeschichte, denn die drei Sessions von 1967 erschienen allesamt zum ersten Mal im Jahr 2005 im sechzehnten Set der Reihe „Mosaic Select“. Doch ich hole etwas aus und plündere dafür schamlos die Liner Notes, die Michael Cuscuna zur erwähnten Veröffentlichung von 2005 geschrieben hat. Nach Alfred Lion, der Hills Musik bedingungslos und umfassend dokumentierte, wurde Cuscuna schon in den Siebzigern zum zweiten grossen champion von Hills einzigartiger Musik und kennt diese wohl so gut wie kein zweiter.

Michael Cuscuna berichtet in seinen Liner Notes zu Mosaic Select: Andrew Hill (Nr. 16 aus der Reihe), wie er sich 1974 auf die Suche nach Andrew Hill machte, mit ihm in der Folge neue Alben produziert (dazu später), aber auch in die Archive von Blue Note stieg und die unveröffentlichten Sessions suchte, von denen Hill ihm schon in den Sechzigern erzählt bzw. von denen er ihm Testpressungen vorgespielt hatte.

Michael CuscunaHe proceeded to rattle off without hesitation the personnel of 11 sessions that remained unissued, it later turned out he had named only one bassist and two drummers wrong! He warned me that some of them might not be as good as they looked on paper, saying „I was having trouble at that time finding people to play my music the way I heard it.“

Im Mai 1976 traf Cuscuna in Kalifornien auf Charlie Lourie (1940-2000), mit dem er später Mosaic Records gründen sollte. Dieser war 1974 zum Marketing-Chef von Blue Note geworden, besass aber noch nicht das tiefe Wissen Cuscunas über die Schätze von Blue Note. Sie vereinbarten, eine Serie von Doppel-Alben zu starten und Cuscuna stieg in die Archive – natürlich auch auf der Suche nach den Sessions, die Andrew Hill ihm im Vorjahr genannt hatte.

Die erste Doppel-LP mit Material von Hill war Involution, auf der die eine unveröffentlichte Sam Rivers-Session für Blue Note mit dem Quartett gepaart wurde, das Hill und Rivers 1966 zusammen aufgenommen hatten. Letztere Session erschien später auch in der Mosaic-Box, die Hills erste vier Jahren bei Blue Note (1963-66) dokumentierte und später als separate CD mit dem Titel Change in der Connoisseur Series (vgl. hier).

Als nächstes erschien die Doppel-LP One for One. Sie enthielt die 1965er-Session mit Joe Henderson, die später im erwähnten Mosaic-Set und in der Connoisseur Series als Pax erschien (vgl. hier) sowie Stücke aus unveröffentlichten Sessions aus den Jahren 1969/70. Die Serie mit den Doppel-Alben wurde nach zwei Jahren leider eingestellt. Cuscuna überzeugte EMI, die neue Besitzerin von Blue Note/Pacific Jazz/United Artists jedoch davon, eine Reihe mit Einzel-LPs zu starten, die unveröffentlichten Sessions gewidmet war. Auch in der Serie erschien ein Hill-Album, und zwar eines der stärksten der zweiten Hälfe seiner Blue Note-Jahre, Dance with Death (auf CD 2004 in der Connoisseur Series wieder aufgelegt, doch zu den Sessions von 1968 dann im nächsten Post). 1981 kamen die Aktivitäten um Blue Note zum Erliegen, Cuscuna lebte in Los Angeles, verbrachte Monate der Arbeitslosigkeit im Archiv von EMI, hörte und katalogisierte Blue Note-Tapes. 1982 gründete er mit Lourie das Label Mosaic Records, das zunächst fast ausschliesslich Aufnahmen aus den Beständen von Blue Note neu auflegte, zum Auftakt die kompletten Blue Note-Aufnahmen von Thelonious Monk, die damals seit längerem kauf greifbar waren.

1984 stiess Bruce Lundvall zu EMI, um unter dem Namen Manhattan ein Pop-Label zu starten und auch, um Blue Note wiederzubeleben. Cuscuna verbrachte immer mehr Zeit mit Alfred Lion, am Telephon aus New York oder zu Besuch in San Diego. Die Pianisten lagen Lion stets besonders am Herzen, er war es, der die Karrieren von Thelonious Monk, Herbie Nichols und Andrew Hill lanciert hatte, er mietete einen Raum und liess sie alle Kompositionen vorspielen, die sie bis dahin geschrieben hatten, wollte alles aufnehmen, unabhängig davon, ob und wie das Material dann auch veröffenticht werden konnte – von Monk nahm Lion 1947 vierzehn Stücke in drei Sessions auf, noch bevor die erste 78er erschien, mit Nichols wurden 32 Stücke in fünf Sessions in den Jahren 1955/56 aufgenommen, die erste 10″-LP kam im Juli 1955 nach der zweiten Session und erwies sich finanziell als Desaster. Hill seinerseits hatte bereits vier Alben im Kasten, als das erste, Black Fire, erschien (ich habe oben im Post zum Album noch ein Photo eingefügt, das ich lange nicht mehr gesehen hatte).

Das Blue Note-Revival gewann 1985 mit einem grossen Konzert in der Town Hall an Schwung. Das Konzert mit diversen ehemaligen Blue Note-mainstays wurde aufgenommen und auf einer LP/CD-Reihe veröffentlicht, Hill war allerdings erst im Jahr darauf mit von der Partie, beim Mt. Fuji/Blue Note Festival in Japan, das als direktes Ergebnis des Town Hall-Konzertes entstand. Er trat mit Joe Henderson, Woody Shaw, Bobby Hutcherson, Ron Carter und Billy Higgins auf, eher zur Überraschung von Cuscuna wie es scheint, da dieser Hill als einen Musiker kennengelernt hatte, der nie zurück blickte. Man holte Don Sickler an Bord, um Arrangements alter Stücke zu transkribieren, doch Hill reiste natürlich auch mit einem Koffer voller neuer Aufnahmen an – und er rannte während dem Konzert immer wieder zu den Notenständern der anderen. Nicht, um wegen des aufziehenden Taifun die Noten zu befestigen, wie sich herausstellte: „This music is hard enough to play. Can you get him to stop rewriting it while we’re playing it?“ – so Henderson und Shaw zu Cuscuna.

1989/90 nahm Hill für Blue Note zwei weitere Alben auf, Eternal Spirit und But Not Farewell (auch dazu hoffentlich später) – und das führte Cuscuna erneut auf die Suche nach weiterem unveröffentlichtem Hill-Material. Zunächst kamen die vier Klassiker Black Fire, Smoke Stack, Judgement und Point of Departure auf CD heraus, 1995 folte die erwähnte Mosaic-Box The Complete Blue Note Andrew Hill Sessions (1963-66) (10 LP bzw. 7 CD), darauf natürlich auch die erwähnten Sessions von 1965 mit Henderson und 1966 mit Rivers, ebenso ein paar Alternate Takes. CD-Reissues von Grass Roots und Lift Every Voice (2000 bzw. 2001 in der Connoisseur Series) wurden mit passenden zusätzlichen Sessions ergänzt, ein Nonett von 1969 das in den Siebzigern im Einverständnis mit Hill wegen technischer Probleme nicht berücksichtigt wurde, entpuppte sich als grossartig, als Cuscuna begriff, dass auf den Stereo-Bändern ein paar Spuren fehlten und das Album von den Originalbändern neu zusammenstellte: Passing Ships (Connoisseur Series, 2003).

Da war das Zeitalter des Internet angebrochen, auf dem damaligen Blue Note-Forum und via Email wurde Cuscuna mit der Forderung belagert, von Hill doch bitte alles zu veröffentlichen, was noch in den Archiven schlummerte. Die Sextett-Session von 1970 und die Aufnahme mit Streichquartett von 1969 hatte er damals bereits neu abgemischt und sie gefielen ihm besser als in seiner Erinnerung. Er wandte sich also erneut an Hill und man kam überein, die fünf in Auszügen auf One for One oder noch gar nicht veröffentlichten Sessions herauszubrigen, „with the caveat that we know these sessions were not wholly successful, but contained a lot of great music.“

Die Reihenfolge der fünf Sessions auf dem Set mit drei CDs ist ungefähr umgekehrt chronologisch und ungefähr nach Formation gestaltet. Die erste Session fand am 10. Februar 1967 statt, wie üblich im Studio von Rudy Van Gelder, in Sextett-Besetzung mit Robin Kenyatta (as), Sam Rivers (fl, ss, ts), Cecil McBee (b), Teddy Robinson (d) und Nadi Qamar (Spaulding Givens) (thumb piano, african d, bells). Hill ist hier zum ersten Mal auf der Orgel zu hören. McBee und Qamar waren beide schon bei Compulsion dabei gewesen, Qamar hatte – noch als Spaulding Givens – als Pianist mit Charles Mingus Aufnahmen gemacht, in den Sechzigern war er als Percussionist mit verschiedenen afrikanischen Musical- und Tanztruppen unterwegs, er wurde zum Lehrer, hielt Vorlesungen über afrikanische Percussion und baute auch seine eigenen Instrumente. McBee war bei Avantgarde-Sessions gern gesehen (etwa mit Wayne Shorter, Jackie McLean, Bobby Hutcherson, Grachan Moncur). Rivers braucht nicht weiter vorgestellt zu werden, Robin Kenyatta dagegen war ein Newcomer, gerade bei Atlantic unter Vertrag genommen (erstaunlich genug!), er leitete damals ein, wie Cuscuna es nennt, „straight-ahead quintet with Mike Lawrence“ (der taucht in derselben Zeit auch auf Joe Hendersons Sessions für „The Kicker“ auf) und hatte mit dieser Gruppe und weiteren Musikern gerade sein tolles Debut „Until“ eingespielt (Vortex, rec. 1966/67) – zu den weiteren Musikern zählte Roswell Rudd, neben Bill Dixon einer der Avantgarde-Musiker, mit denen Kenyatta sonst auch arbeitete. Drummer Teddy Robinson hatte Anfang der Sechziger mit der Donald Byrd/Pepper Adams-Combo gespielt (er ist auf deren Blue Note-Album „Chant“ zu hören) und taucht auch auf Byron Allens ESP-Album auf (ich kenne es leider nicht).


Robin Kenyatta an der Session vom 10. Februar 1967 (Photo: Francis Wolff)

Los geht es mit „Awake“, einem Stück, das wohl aus zwei elftaktigen Teilen besteht (gruppiert in 7 und 4 oder 8 und 3), das Thema wird ziemlich schludrig präsentiert, unisono von den Saxophonen, eine schöne Linie, die man aber noch ein paar Male hätte proben – und mit der Rhythmusgruppe besser abstimmen – können. Interessanter wird es dann in Hills Solo, Robinson spielt die Becken mit hellem Klang und eine leichte Snare – Anklänge on Roy Haynes zuhauf, McBee fällt in einen Pedalpunkt und Hills Kürzel verzahnen sich mit Robinsons unregelmässigen Rhythmen (das ist nun in der Form gar nicht Roy Haynes). Es folgt Sam Rivers an der Flöte, McBee legt träge Linien, man kriegt einen Moment lang den Eindruck, der Beat verflüssige sich, doch Robinson beginnt bald wieder, mehr zu strukturieren, Hill fällt auch wieder ein. Dann folgt Kenyatta mit sattem Ton, einer grossen Wärme und Rundheit, auch da wo er Multiphonics einstreut, Schreie. Hinter ihm zersetzt sich der Beat allmählich wieder, ein perfekter Übergang zum zweiten Solo von Hill. Den Solisten gelingt es allesamt, substantielle Beiträge zu gestalten, die nicht gegen den leichten Ton des Stückes verstossen.

„Now“ ist mit etwas über viereinhalb Minuten das kürzeste der fünf Stücke (zusammen hätten sie grad für eine kurze – knapp 36 Minuten – LP gereicht). Cuscuna nennt es „one of those gorgeous Hill tone poems“. Kenyatta übernimmt den Lead, wieder mit bezauberndem, satten Ton, umgarnt von Rivers am klanglich deutlich ruppigeren Tenor. Hier sind wir nun im Rubato-Balladen-Territorium, sehr schön wie die Rhythmusgruppe ein- und aussetzt, abgeholt von Kenyattas Auftakt zu den Linien. Rivers übernimmt nahtlos am Tenor, spielt ein grossartiges Solo, zugleich lyrisch und stark. McBees Bass trägt ihn und dann auch Hill, der am Klavier übernimmt und ein berückendes Solo spielt. Das elegische Thema wird dann in voller Länge wiederholt – eine behaubernde Preziose!

Es folgt „I“, das Thema eher ein Kürzel, gefolgt von einem Interlude von McBee und Rivers an der Flöte, dann nochmal das Thema, die Percussion von Qamar hier sehr präsent – und dann explodiert Rivers förmlich am Tenorsaxophon, stürzt sich bei dichtem Getrommel von Robinson (Qamar geht wohl etwas unter) über einen pedal point McBees und zunächst fast ohne Piano in eine intensives Solo mit Multiphonics, schreit auch ins Saxophon während dem er spielt. Kenyatta gesellt sich dazu und übernimmt dann mit einem ebenfalls sehr intensiven Solo, während Robinson ein Drum-Pattern repetiert und Qamar wieder zu hören ist. Am Ende fällt wieder – röhrend – Rivers ein, dann übernimmt Hill, Robinson löst den Beat auf aber Qamar spielt im Hintergrund – stellenweise nur leise – durchgehende Patterns, die sich aber auch auflösen, während McBee zum Bogen greift. Die Saxophone fallen auch bei Hill zwischenzeitlich ein, McBee reagiert mit einem raschen Lauf bevor sich – wieder ohne die Bläser – eine Art Stottern ergibt, ein zickiger freier Groove, wie er für Hills Musik so typisch ist. Mit einem Themenkürzel endet das Stück dann.


Cecil McBee (Photo: Francis Wolff)

„Yomo“ ist mit zehn Minuten die längste der fünf Nummern, Qamar öffnet sie am Daumenklavier (Kalimba) über gestrichenen Bass und unregelmässige Beckenschläge Robinsons. Dann wechselt Qamar auf eine Trommel, Hill steigt an der Orgel ein und die beiden Saxophone präsentieren das bezaubernde Thema, hinter dem wieder einer dieser Stotterbeats entsteht. Es folgen Soli von Hill (Orgel), Rivers (Tenor), Hill (Piano), Kenyatta und McBee, während Robinson und Qamar einen tollen polyrhythmischen Groove am Laufen halten, der von verblüffender Leichtigkeit und Transparenz ist, auch wenn Orgel und Tenor (kurz sich überlappend) in die Vollen gehen. Allerdings reagieren die Trommler – wie auch McBee – durchaus auf die Solisten und passen ihre Begleitung forwährend an. Hinter Rivers fällt Hill dann nach längerer Pause am Klavier ein, spielt Kürzel, Arpeggi die sich zu Clustern verdichten. In seinem Solo löst sich dann alles eher wieder auf, während Qamar in ein Pattern fällt, das Robinson nach Gutdünken ergänzt. Dann setzt Kenyatta ein und auch er hat keine Problem, ein tolles freies Solo zu gestalten. Es folgt McBee, der – verdientermassen – auch als Solist zeigen darf, was er alles zu bieten hat. Hinter ihm setzt dann Hill an der Orgel ein, dann auch wieder die Bläser mit dem Thema, klagend und doch fröhlich, irgendwie nostaltisch und zugleich nach vorn blickend (das ist natürlich nichts weiter als die grosse Blues-Tradition).

Die letzte Nummer, „Prevue“, präsentiert Hill erneut an der Orgel, er öffnet mit einem stotternden Akkord und ein paar Basstönen, dann steigen die Bläser und die Trommler mit nervösen Linien und zickigen Beats ein. Einen festen Beat sucht man hier vergeblich, dennoch bleibt das Stück durch Hills Orgel geerdet. Die Orgel übrigens bewegt sich wie im Stück zuvor irgendwo zwischen Kirche und frühem Jazz-Rock und klingt anders, als was man damals so an Orgel zu hören kriegte – Larry Young hat er gewiss gehört, das scheint mir völlig klar zu sein gerade hier im zweiten Orgelstück. Nach dem Orgelsolo hören wir gleich wieder Cecil McBee, diesmal mit dem Bogen, zum Abschluss dann noch Rivers am Sopransaxophon, womit auch sein drittes Instrument noch prominent zum Einsatz kommt (später kam noch das Klavier als viertes dazu).


Ron Carter (Photo: Francis Wolff)

Die zweite Session des Jahres fand am 17. Mai 1967 statt – dieses Mal im Trio mit Ron Carter (b) und erneut Teddy Robinson (d). Es handelt sich hierbei um Carters erste Session mit Hill. Die Aufnahme fällt noch viel deutlicher als jene vom Februar ins freie Feld, das Hill sich erstmals mit Compulsion zu erschliessen begann und das er mit dem Quartett mit Sam Rivers (Change) erneut bespielte. Die Session beginnt im erwarteten Klaviertrio-Format, doch Hill wechselt später erneut an die Orgel und greift auch zum Sopransaxophon (was ist das mit den Pianisten, die auch Sopransaxophon spielen? Keith Jarrett ist einer, Abdullah Ibrahim – der auch noch zum Cello griff – ein anderer). Die Session umfässt sechs Stücke, die ziemlich genau auf 40 Minuten kommen, von einem gibt es zudem einen Alternate Take.

„Interfusion“ macht den Auftakt, eröffnet von Robinson am Schlagzeug. Hill spielt das motivisch einfache Thema über rasende Basslinien von Carter und fällt selbst bald in rasante Linien, die er aber immer wieder unterbricht. Nach dem ersten Klaviersolo spielt Robinson ein tolles Schlagzeugsolo, in dem die klangliche Ähnlichkeit zu Roy Haynes wieder sehr deutlich wird, Carter folgt am Bass und Hill schliesst die tolle Performance mit einem zweiten Solo ab. Alle drei halten die Intensität hoch, Carter spielt so rasant wie Hill und Robinson glänzt mit einigen sehr coolen Einfällen.

Als nächstes folgt „Resolution“ (während den Aufnahmen noch „Absolution“ genannt), in entspanntem Tempo von Hill am Klavier präsentiert über eine tolle Begleitung von Robinson, während Carter für einen soliden Boden sorgt. Ein ruhiges Bass-Intermezzo folgt, während dem Hill an die Orgel wechselt, Robinson spielt hinter dem Bass Becken-, hinter der Orgel Trommelwirbel, während Hill zunächst wieder Orgelpfeif-Töne auslotet. Wie er zu konventionelleren Hammond-Klängen findet, streut Robinson auch wieder mehr Trommelschläge und -wirbel ein, die ganze Orgelpassage ist aber sehr frei, der Beat löst sich komplett auf, Carter setzt aus oder setzt kleine Akzente. Dann ein Schlagzeug-Intermezzo und Hill ist zurück am Klavier, nach ein paar Takten ist auch der Groove zurück, der wie schon zu Beginn so klingt, dass er auch auf eines der frühen Blue Note-Alben gepasst hätte – aber was dazwischen alles geschah, gab es bei Hill damals nicht zu hören.

Mit „Chained“ sind wir wieder beim rasanten Tempo, nach einem kurzen Schlagzeug-Intro legt Hill mit dem Thema los und spielt ein tolles Solo mit viel motivischen Anknüpfungen und Repetionen, das sich aufs schönste mit Robinsons Schlagzeug verzahnt, während Carter hier keineswegs die Ruhe im Auge des Sturmes ist sondern mit seinem Bass-Spiel zwischen Begleitung und Dialog hin- und herwechselt. Ein toller Dialog entspinnt sich dann zwischen Carters Bass und Robinsons Schlagzeug. Carter halbiert da auch schon mal das Tempo, überhaupt bricht hier wieder alles auf. Hill setzt mit einem hingeschmetterten kurzen Motiv wieder ein, Carter setzt den rasenden Bass fort und Hill spielt gleich noch ein tolles Solo.

„MOMA“ klingt wieder nach „vintage Hill“, wie Cuscuna es nennt. Seltsam, so etwas bloss vier Jahre nach den ersten Sessions für Blue Note zu sagen, aber es stimmt schon: Hill hatte sich seit 1965/66 allmählich von der dichten, streng strukturierten Musik verabschiedet und was hier läuft ist anders. Ein Stück wie dieses, das noch stärker als „Resolution“ an die frühen Aufnahmen anknüpft, hebt sich daher deutlich ab. Robinson punktiert sehr genau, Carter spielt schon hinter Hill das Motiv, mit dem er dann auch den Solo-Reigen eröffnet. Sein Ton kommt in diesem Solo endlich etwas besser zur Geltung als bisher – Doppelgriffe, kleine Schlenker in hohe Lagen, immer wieder ein tiefes Ausschwingen, aber auch Arbeit am Motiv, ähnlich wie Hill es in seinen Soli im Stück davor gemacht hat. Hill folgt als Solist, die Struktur scheint sich dabei aufzulösen, das Tempo kommt zu einem Halt, doch Hill spielt ungeniert weiter, Carter und Robinson setzen Akzente, auch einen Basslauf, der wieder einen Beat impliziert. Faszinierend, wie dieses Trio interagiert.

„Nine at the Bottom“ wird von Hill an der Orgel präsentiert, Carter soliert dann als erster, erneut toll. Ein repetierter Ton lanciert dann Hill am Klavier, der eine Mischung aus fliessenden Motiven und zickigen Rhythmen präsentiert, Robinson – Schock! – streut einmal einen rim shot ein, doch Grooves und Boogaloo (die Hill mit einem Stück wie „The Rumproller“ ja auch zu bedienen wusste und ein Jahr später mit „Grass Roots“ erneut beackerte) sind hier meilenweit entfernt. Robison folgt mit einem kurzen Solo und dann ist erneut Hill zu hören, zurück an der Orgel – und wir sind hier wieder in klanglichen Gefilden, wie sie eher ein paar Jahre später im Umfeld von Miles Davis wieder erklingen würden als dass sie Mitte der Sechziger im Orgeljazz heimisch waren. Das Stück endet ohne eigentlichen Schluss, ohne Themen-Wiederholung versiegt gewissermassen der Klangstrom, unvermittelt.

Das letzte Stück ist das längste der Session. Es heisst „Six at the Top“ und wird wieder ohne festes Tempo gespielt, Robinson betätigt sich vor allem als Klangfarbenmaler, Carter tritt mit Hill in einen Dialog. Das Klaviersolo wird intensiver und Robinson fällt in einen schnellen 4/4-Beat, doch Carter bleibt zunächst beim freien Dialog mit dem Piano. Es folgt ein Bass-Solo, während dem Hill zu Sopransax wechselt, um ein Motiv aus dem Thema wiederholt einzuwerfen. Carter lässt den Bass schnarren und Robinson bleibt wach und greift einen angedeuten Rhythmus sofort auf, groovt mit den Besen. Es folgt eine kurze Passage, die fast wie ein Charlie Haden-Zitat (aus den frühen Ornette Coleman-Tagen) klingt, während Robinson in eine Art Walzer-Beat fällt.

Am Ende der zweiten CD des Mosaic Select ist der erwähnte Alternate Take zu hören, noch einmal „Nine at the Bottom“, von dem man zunächst auch Take 3 berücksichtigte, bevor Take 1 zum Master erklärt wurde.


Andrew Hill am Sopransax, 1967 (Photo: Francis Wolff)

Zu beiden Sessions muss ich anmerken, dass sie mich nicht unmittelbar gepackt haben, das auch heute nicht tun. Es braucht schon unabgelenktes Hören, um die Qualitäten, die zu beschreiben ich versuche, wahrzunehmen. Gerade die Trio-Session plätschert sonst an mir vorbei, während die Sextett-Session mich eher etwas langweilt oder auch nervt. Allerdings ist es ja keine so spezielle Beobachtung, dass man ohne genaues Hinhören bei Hill möglicherweise nicht weit kommt. Neu ist eher der erste Eindruck zwischen Langweile und Gleichgültigkeit, während die früheren Sessions bei oberflächlichem Hören bei mir primär einen Gedanken wecken: Ich muss unbedingt alles stehen und liegen lassen, hinsitzen und nichts tun als hören, mich ganz in diese Musik versenken. Das soll man auch mit allen späteren Aufnahmen Hills machen, es lohnt sich nämlich immer – bloss wird für mich dieser Impuls nicht mehr so unmittelbar erzeugt (das gilt dann alles nochmal etwas stärker für die Sessions ab den Siebzigern).


Sam Rivers bei der Hill-Session vom März 1966 (Photo: Francis Wolff)

Die dritte Session des Jahres entstand am 31. Oktober 1967, diesmal in Septett-Besetzung. Da Hill ohne zusätzliche Percussion auskam, sind sogar vier Bläser dabei, und die Namen kann man sich auf der Zunge zergehen lassen: Woody Shaw (t), Robin Kenyatta (as), Sam Rivers (ts), Howard Johnson (bari, tuba). Teddy Robinson ist auch diesmal wieder dabei (seine dritte und leider letzte Session mit Hill), am Bass ist mit Herbie Lewis ein weiterer Musiker zu hören, der sich damals auf einigen tollen Blue Note-Alben hervortat, besonders auf „Stick Up!“ von Bobby Hutcherson. Alle Musiker waren gleichermassen im Hard Bop oder Soul Jazz daheim wie in der Avantgarde, Shaw hatte mit Dolphy sein Aufnahmedebut gemacht bevor er zu Horace Silvers Quintett stiess, Howard Johnson spielte zur selben Zeit Barisax mit Hank Crawford (dem langjährigen Sideman von Ray Charles) und Tuba mit Archie Shepp. Die Credits von Kenyatta wurden oben schon erwähnt, Robinson braucht längst keine Vorstellung mehr, die beiden Sessions davor weisen ihn als exzellente Wahl aus. Bleibt Herbie Lewis, der mit dem Trio von Les McCann spielte oder eben auf der erwähnten Hutcherson-Scheibe, mit Cannonball Adderley wie auch – zur Zeit dieser Session – mit McCoy Tyner.


Herbie Lewis (Photo: Francis Wolff)

Diese Session – mit der die dritte CD des Mosaic Select beginnt – ist übrigens etwas zu kurz für eine LP (wenigstens nach den üblichen Massgaben bei Blue Note), es gibt etwa eine halbe Stunde Musik, sechs Minuten mehr wenn man die zweite Version von „Oriba“ mitrechnet (was dann wieder knapp reichen würde).

Den Auftakt macht „For Blue People Only“, wie schon der Auftakt zur Sextett-Session mit einem sehr rauhen Ensemble öffnend. Auch hier hätte etwas mehr Probezeit gut getan. Doch kaum ist das an sich ziemlich interessante Thema durch, geht die Post ab. Robinson spielt einen tollen leichten und sehr swingenden Beat mit vielen Fills, während Lewis mit seinem satten Ton einen schnellen Waking Bass spielt, und Kenyatta ohne Umschweife (und ohne Klavier) zur Sache kommt, er überbläst und geht auch hier wieder über das konventionelle Saxophonspiel hinaus. Woody Shaw glänzt dann mit einem klar phrasierten Solo, das seine Bop-Wurzeln nicht verleugnet – dafür löst Robinson das feste Metrum phasenweise beinah auf und Hill setzt hinter ihm ein. Lewis übernimmt als dritter Solist, das Tempo wird langsamer, die Stimmung etwas entspannter, doch Robinson deutet das schnelle Originaltempo im Hintergrund immer wieder an. Und kaum setzt Hill zu seinem Solo an, ist es auch wieder da, doch nun spielt Lewis mit dem Tempo, soliert auch halbwegs weiter unter Hill. Dessen Ideen verdichten sich immer mehr, die Rhythmusgruppe hält das Geschehen zusätzlich spannend. Das letzte Solo stammt dann von Sam Rivers am Tenor. Getrieben von Hill, Lewis und Robinson bläst er ein wildes Solo und setzt den letzten Höhepunkt der neuneinhalb Minuten langen Performance.

Die Rubato-Ballade „Enamorado“ öffnet mit Tuba-Tönen, Klavier über einem Rubato-Beat, dann steigen die Bläser ein, Rivers übernimmt am Sopransaxophon den Lead und präsentiert ein klangendes Thema. Shaw und Kenyatta haben gemäss Cuscuna gemeinsam ein paar Gigs mit Hill absolviert und sie fügen sich in der Begleitung hervorragend zusammen. Shaw spielt dann das erste Solo und es wird sofort klar, dass er mit Hills Musik vertraut ist, bestens zurechtkommt. Sehr entspannt und dennoch zielstrebig geht er vor. Es folgt Kenyatta, der sich etwas mehr zurückhält, aber ein phantastisches Solo spielt, in dem sein wundervoller Ton schön zur Geltung kommt. Hill begleitet hinter ihm sehr anregend und übernimmt das nächste Solo, introspektiv wirkt es, er hängt Kürzel aneinander und bleibt dennoch in der balladesken Stimmung. Rivers am Sopransax folgt, als letzter Solist, Lewis/Robinson spielen hinter ihm längere Zeit einen zickigen Doubletime-Beat. Aus den Linien des Solos findet Rivers nahtlos zurück zum abschliessenden Thema.

Das erneut etwa neuneinhalb Minuten lange „Mother’s Tale“ ist von der Stimmung her nicht unähnlich, wieder eine klagende Linie, Shaw im Lead, die Tuba als solistische Ergänzung (ein Solo kriegt Johnson leider hier nicht), Robinson mit einem stapfenden Beat – das ganze wirkt von Beginn an so, als werde da ein schnaubender Stier zurückgehalten. Doch mit Hills erstem Solo wird die Stimmung erstmal beruhigt, nur kurze Einwürfe der Bläser und Robinsons tolles Schlagzeugspiel erinnern an die geballte Kraft des Themas. Kenyatta und Rivers (am Sopran) folgen mit tollen Saxophonsoli während derer das Energielevel wieder ansteigt. Hill begleitet mit zerklüfteten Figuren, die sich wiederum mit Robinsons Schlagzeugspiel verzahnen. Shaw folgt, Hill setzt zunächst ganz aus und lässt ihm viel Raum, Robinson fällt in einen 6/8-Groove und Shaw entfaltet wieder seine langen Linien, Robinson und er treten einen Dialog, der gegen Ende kurz heftiger wird, bevor sich die Stimmung mit Lewis‘ Bass-Solo (er streut ein nahezu-Zitat von „As Time Goes By“ ein) wieder beruhigt. Das Thema wird zum Ende repertiert, wieder mit solistischen Einwürfen von Johnson an der Tuba und dem heftigen Beat, dann bricht das Stück etwas abrupt ab (was mir durchaus gefällt).

Den Abschluss machen zwei Versionen des kürzeren Stückes „Oriba“, zu Beginn und zum Ende der Session eingespielt und damals möglicherweise noch „Requiem for Truth“ genannt. Auch hier wieder eine klagende Linie, Rubato-Tempo, eine dichte Rhythmusgruppe und Linien der vier Bläser, die sich mal decken, dann wieder voneinander abweichen – faszinierend jedenfalls! Shaw spielt das erste Solo, Robinson trommelt einen dichten Kommentar, Hill hält sich eher zurück, die anderen Bläser fallen mit kantigen kurzen Riffs ein. Shaw soliert auch hier wieder hervorragend, es folgt Hill, begleitet von den Bläsern, dann entspinnt sich ein Dialog zwischen dem Alt- und dem Tenorsaxophon, bevor das Stück mit der Rekapitulation des Themas schliesst. Es fiele mir schwer, mich zwischen den Takes zu entscheiden, Shaw ist vielleicht auf dem ersten etwas toller, die Intensität insgesamt auf dem zweiten etwas grösser. Jedenfalls ein toller Abschluss zu einer guten Session, die mit ein wenig mehr Zeit zum Proben und einem Stück mehr ein hervorragendes Album hätte ergeben können!

Als Fazit zu dieser dritten Session des Jahres 1967 kann man wohl sagen: Hier finden die beiden Tendenzen aus Hills bisherigem Schaffen zusammen: das dichte Ensemblespiel, die raffinierten Arrangements, die enorm stimmungsvollen Kompositionen einerseits, der seit zwei Jahren immer stärker werdende Drang nach freiem Spiel und brennender Intensität andererseits.


Howard Johnson (Photo: Francis Wolff)

--

"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #158 – Piano Jazz 2024 - 19.12.2024 – 20:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba