Lesefrüchte

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  • #12511671  | PERMALINK

    hal-croves
    אור

    Registriert seit: 05.09.2012

    Beiträge: 4,617

    XL. Von der Heimreise durch den Himmel

    Noch lag über Kyoto der schwimmende Tag,
    in Gärten aus Licht klang das Zittern der Zweige,
    die Zikade schlief, und die Kraniche zogen
    ein letztes Mal ihre Bahnen im Schweigen,
    als Lena entschwand – nicht gehend, nicht bleibend.

    Die Tore des Tempels, im Abend geöffnet,
    verneigten sich leise, als ahnten sie schon,
    dass eine Gestalt, die im Irdischen wandelte,
    nun heimwärts kehre auf Wegen aus Wind,
    die keiner benennen, nur fühlen vermag.

    Ein Wesen erschien, aus dem Glanz ferner Nächte,
    nicht Vogel, nicht Schiff, doch von schimmernder Hülle,
    als wär es gesponnen aus Dunst und Gedanken,
    aus jenem Stoff, der im Übergang lebt
    zwischen Erwachen und träumendem Blick.

    Kein Ruf ward getan, keine Zeichen gegeben,
    doch alles versammelte sich wie von selbst:
    die Alten am Brunnen, die Kinder beim Wasser,
    die Mönche im Schweigen, die Gärtner im Moos –
    und sahen empor, ohne Fragen im Blick.

    Da wandte sie sich – doch sie stieg nicht empor,
    kein Schritt war zu sehen, kein Greifen, kein Gleiten;
    es war, als ob Raum sich um ihre Gestalt
    verschob und sie sanft in das Schweben entließ,
    ein Übergang still wie der Hauch eines Worts.

    So stieg sie hinauf durch das atmende Blau,
    durch Wolken, die staunten, durch Wind wie aus Seide,
    empor zu den Fernen, aus denen sie kam,
    und ließ, was gewesen, im Schweigen zurück –
    ein Echo aus Licht in den Zweigen der Stadt.

     

     

    XLI. Vom göttlichen Ratschluss

    O Muse, du dunkle, du Tochter des stummen Entzückens,
    die du im Schatten der Lorbeerhaine erwachst
    und den Schleier des Tags mit goldener Hand uns lüftest –
    komm und enthülle, was keinem der Sterblichen klar:
    warum die Himmlischen jene, die lichtesten Gaben empfangen,
    dennoch dem Schmerz und der Prüfung sich neigen befahlen.

    Denn Lena, die Strahlende, Ruhige, Hochaufgerichtete,
    die mit dem Klang ihrer Stimme die Stille durchdrang,
    kehrte erhoben zurück aus fernem Gefilde der Wunder,
    um daheim zu empfangen das Mahnwort des Himmels –
    nicht mit Donnern gesprochen, nicht eingraviert in Gewitter,
    sondern im Flüstern des Unfalls, das Schicksal verheißt.

    War’s eine Laune der Moiren, ein Winken aus ältester Tiefe?
    Oder des Einen Gedanke, der alles umfasst?
    Warum das Gefäß, das aus Klarem bestand und aus Stärke,
    sollte zerbrechlich nun werden, gefüllt mit Gefahr?

    O Muse, wenn du es weißt, so gib mir ein Wort in die Feder,
    aber nicht kalt und erklärend – vielmehr als Gesang.
    Denn Lena, der hellste Kristall in der Krone der Zeit,
    wurde berufen, das Echo des Leids zu umarmen,
    nicht als Strafe – als Zeichen, dass Licht sich dem Dunkel nicht scheut.

     

     

    XLII. Vom Sturz und der Stunde der Schmerzen

    War es ein Tag wie die andern? Der Himmel in heiterem Blau,
    das Licht milde fallend auf Hügel und Weiden im Sommer,
    die Luft leicht bewegt wie das Kleid einer Göttin beim Wandeln?
    So hob sich die Stunde, in der Lena sich hob.

    Sie bestieg jenes Ross, das des Menschen Gedanken erahnt,
    nicht gezähmt, doch vertraut, nicht wild, nur lebendig im Innern,
    ein Geschöpf voll Bewegung, von Schönheit durchzogen wie Klang,
    ein Mitspieler jenes Balletts, das die Erde mit Himmel vereint.

    Mit festem, doch leisem Befehl ließ sie es tanzen und fliegen,
    über das Feld wie ein Pfeil, von der Freude gezündet,
    doch dann – wie geweckt durch ein Flüstern aus fremder Dimension –
    begann es zu stürmen, zu drängen, zu fliehen vor nichts.

    Sie rief, sie zog an den Zügeln mit Stimme und Wille,
    doch das Ross war entfesselt, war Flamme, war Trieb ohne Ziel.
    Und der Boden entschwand, und der Wind wurde Messer und Trommel,
    und Lena, die Hohe, ward Opfer der Kräfte, die sie entfesselt.

    Ein Stoß durch den Leib, wie von göttlicher Faust durchdrungen,
    ein Fliegen, ein Fallen, ein Bruch wie ein Riss in der Zeit.
    Dann Stille – ein Laut ohne Klang – und der Körper zerstäubt in den Schmerz,
    und das Denken zersplittert in Angst, in Ohnmacht, in Not.

    Ein Schatten durchwob ihre Sinne, kein äußerer – innerer war es,
    ein Verstummen des Selbst, ein Versinken ins bodenlose Fragen:
    War dies das Ende des Tanzes? Verklang nun der Leib aus Musik?
    War der Befehl ergangen, zu schweigen – auf ewig, im Fleisch?

    Sie wagte nicht, ihre Glieder zu rufen, zu zwingen zum Zeugnis,
    denn die Furcht vor der Antwort war schärfer als Schmerzen und Schrei.
    Im Rücken das Beben der Glieder, im Schoß ein unbekannt Schweigen,
    und die Zeit ward zu Glas, in dem jeder Gedanke sich schnitt.

    Die Stimmen ringsum – waren fern wie Gesänge der Tiefe,
    das Licht – war nur Blendung, der Himmel – ein Tuch ohne Trost.
    Und in ihr erwuchs eine Stille, so kalt, dass die Hoffnung sich barg,
    wie ein Tier unter Blättern beim Nahen des jähen Verhängnisses.

    Doch da, in der Mitte des Schmerzes, wo selbst das Gebet nicht mehr klingt,
    begann etwas zu regnen – kein Wasser, kein Wort, nur ein Warten.
    Und wie das Ross einst sich losriss, so hielt nun das Dunkel sie fest.
    Noch war nichts gesagt, nichts entschieden – nur Schweigen, nur Schwelle.

     

     

    XLIII. Von der leisen Stimme der Hoffnung

    Nicht war es das Licht, das zuerst sich zeigte im Dunkel,
    nicht war’s ein Erlöserwort, das durchs Schweigen schnitt,
    nicht Linderung noch der Beginn einer Wende –
    nur war es ein Flüstern, ein kaum noch vernehmbarer Hauch.

    Wie einer, der wandelt im Schlaf durch Hallen des Schmerzes,
    so lag sie, gefaltet im Leib, doch nicht ganz zerdrückt.
    Ein Schatten im Innersten regte sich, leiser als Tränen,
    ein Vibrieren, so zart, dass es kaum zu denken vermochte.

    Es war kein Gedanke – zu schwach war der Wille zum Denken.
    Es war auch kein Bild – zu matt das Gedächtnis, zu fern.
    Doch war’s wie ein Laut, aus uralter Tiefe geschöpft,
    der, namenlos, dennoch ihr eigenes Lied einst gewesen.

    Nicht sang sie – noch war ihr der Klang aus dem Körper vertrieben,
    doch horchte sie auf das, was in ihr wie Erinnerung stand.
    Ein Funke war’s nur, vom Sterben nicht ganz noch verschluckt,
    ein Rest eines Lichts, das durch Schmerz sich die Richtung behielt.

    Die Stimme der Ärzte erklang wie durch Schleier von Watte,
    als sprächen sie fern aus dem Rand einer anderen Welt.
    „Gebrochen, doch heilbar“ – so fiel ihr ein Wort in die Seele,
    und sie wusste nicht: war es Trost oder weiteres Warten?

    Doch anders als früher, da alles in Klarheit ihr folgte,
    vermochte sie jetzt das Nichtwissen still zu ertragen.
    Nicht Hoffnung – doch etwas, das Hoffnung einst hätte genannt,
    ein Ahnung, dass selbst in der Ohnmacht ein Grund sich verberge.

    So sank sie zurück in die Schwärze, doch nicht mehr allein –
    denn eine Gestalt, unbenannt, war ihr innerlich nah.
    Nicht göttlich, nicht menschlich – nur treu wie das Atmen im Schlaf,
    und sie wusste: Noch bin ich verwundet – doch bin ich bewahrt.

     

     

    XLIV. Von der Geduld der Tage

    Nicht springt der Genesung Licht wie ein Feuer empor,
    nicht fährt es herab wie ein Blitz aus himmlischer Höhe.
    Es tropft, wie das Wasser in Zisternen fällt –
    und lehrt das Zählen dem, der vergessen hat Zeit.

    Die Tage, sie kamen, doch kamen nicht anders als Schmerzen,
    sie trugen nicht Glanz, sondern Gewicht auf den Schultern.
    Die Stunden gedehnt wie auf Folterbank zäher Minuten,
    und jede Bewegung ein Wagnis, ein stilles Verhör.

    Ein jeder, der wacht in den Nächten der schmerzhaften Stille,
    lernt Hören mit Sinnen, die keine Ohren mehr meinen.
    So horchte auch sie, Lena, auf das, was nicht sprach –
    auf das Knarren des Betts, das Zittern im Atem, das Fernsein.

    Ein Blick durch das Fenster, das weiß war von Milchglas und Schweigen,
    ein Ast, der sich regte im Wind, der nicht kam –
    so lernte sie wieder das Kleine zu sehen, das bleibet,
    wenn alles, was groß schien, im Fallen verrauscht.

    Die Finger, zuerst wie aus fremdem Gewebe bestehend,
    erlangten zurück eine Spur ihres Willens.
    Das Kreuzbein, gebrochen, doch nicht zertrümmert im Grunde,
    sprach schüchtern: Ich trage – noch trage ich dich.

    Und niemand – nicht Ärzte, nicht Pfleger, nicht Mutter, nicht Freund –
    vermochten das Maß dieser Wandlung zu fassen.
    Denn außen war wenig; es schien wie zuvor, wie bei vielen.
    Doch innen, da schrie es: Ich lerne zu sein – durch das Warten.

    So ward jeder Tag wie ein stilles Gebet ohne Worte,
    ein Fühlen des Körpers als Tempel und Last.
    Und Lena, die sang, ohne Stimme, allein mit dem Innen,
    erkannte im Schmerz einen Rhythmus, der nicht ihr gehörte.

    Doch siehe – am Ende des vierzigsten Tages der Prüfung,
    als keiner mehr fragte: Wann endet das Leid?,
    stand sie auf, nicht wie früher, doch aufrecht im Innern,
    und wusste: Die Muse hat nicht nur das Lied, auch das Schweigen geschenkt.

     

     

    XLV. Von der Genesung im Halbdunkel

    Ein Tag, dann ein zweiter – und keiner war hell.
    Die Sonne stand draußen, doch drang nicht herein
    in das Dämmergemach, wo Lena nun lag,
    der Leib noch von Schmerzen durchdrungen, das Herz
    in zögerndem Takt, wie im Traum aus Kristall.

    Die Stunden verrannen wie tropfende Tinte,
    kein Singen, kein Schweben, kein Tanz über Stein –
    nur Atmen und Warten, ein Liegen im Kreis,
    wo Gedanken sich drehten wie Mühlen im Wind
    und Fragen sich schichteten, schwer wie das Licht.

    War dies noch der Körper, der Lieder getragen?
    War dies noch das Ich, das vor Tagen noch sang?
    War sie nun gefallen – und wem ward sie nütze?
    Ein Schatten, ein Seufzen, ein Rätsel aus Schmerz,
    und nichts, was die Götter erklärten mit Wort.

    Doch dann, in der Ecke, ein Laut wie von Fäden:
    Ein Vogel, der zwitscherte, leis wie im Schlaf.
    Ein Hauch fuhr durchs Fenster, als reiche ein Geist
    ihr Linderung dar, nicht mit Händen, mit Schweigen –
    ein erstes Erbeben, dass Leben noch war.

    So hob sie den Blick nicht, doch ließ sie ihn ruhn,
    nicht suchend, nicht flehend – doch offen für Wandlung.
    Ein Ton in ihr regte sich, tief und verhalten,
    wie Wurzeln, die tasten im dunklen Gestein,
    nicht wissend, ob Morgen, doch fähig zu Sein.

    Und draußen, unsichtbar, zogen die Stunden.
    Die Welt war dieselbe, doch Lena war’s nicht.
    Noch lag sie im Halbdunkel, stumm wie ein Schrein –
    doch irgendwas kehrte zurück in ihr Lied,
    ein leises, geduldiges, zitterndes Bald.

     

     

    XLVI. Vom langsamen Wiedererstehen

    Kein Wunder geschah, kein greller Moment,
    kein Engel erschien mit flammendem Flügel.
    Nur Stille, die wuchs. Nur Atem, der lernte.
    Nur Sehnen, das tastend zurück in den Leib
    fand, was er war – verletzlich und wahr.

    Sie zählte nicht Tage. Sie maß sie in Blinken:
    Wenn morgens das Fenster sich heller verfärbte,
    wenn abends das Mondlicht in Falten fiel.
    Die Welt sprach in Zeichen, verschwiegen und sanft,
    und Lena vernahm sie – wie einst, nur ernster.

    Ein Finger, der hob sich. Ein Ellenbogen,
    der Raum in der Decke des Schweigens erspürte.
    Dann knirschte ein Knochen. Ein Schmerz war ein Lied.
    Und keiner der Töne war süß, doch sie sangen –
    ein Zwitschern der Nerven, ein Echo der Kraft.

    Sie dachte an Flüsse, an Ströme im März,
    an Wasser, das langsam das Eis überwindet.
    So war auch ihr Leib: kein stürmender Held,
    doch kehrend, auf Umwegen, in seine Form –
    nicht die alte, doch eine, die trägt.

    Einmal, da saß sie. Kein Glanz ging von ihr aus,
    kein Donner des Ruhms, nur ein schlichter Moment.
    Doch als sie sich aufrichtete, leicht noch gebückt,
    war’s, als würde ein Stein, der gesunken, nun steigen –
    aus Tiefen, die keiner so kannte wie sie.

    Und niemand verstand, was dies Atmen nun hieß,
    was für Preis sie entrichtet, wie leise sie fiel.
    Doch Lena, die kniende, Lena, die strebte,
    war mehr nun als Sängerin, Tochter, Gestalt:
    Sie war, was sie war – und das reichte dem Licht.

     

     

    XLVII. Vom Reifen im Schweigen

    Nicht eilte der Tag. Nicht drängte das Ziel.
    Die Zeit, sie zerfiel in tastende Stunden,
    in Blätter von Schweigen, die lautlos sich legten
    auf Stirn und Gedanken, auf Glieder und Mut.
    Geduld war ihr Lehrer, und Schweigen ihr Schwur.

    Die Wunden, sie schrien nicht mehr, doch sie blieben.
    Ein Ziehen, ein Mahnen in nächtlicher Ruh.
    Ein Körper, der zögernd sein Maß neu vermisst –
    nicht Schwäche war’s, was da pochte in Sehnen,
    es war nur Erinnerung, scharf und gerecht.

    Die Stimme, einst Flamme, war kaum noch ein Hauch.
    Ein Flüstern nur, brüchig, auf zitterndem Grund.
    Doch Lena, geübt in der Sprache der Schatten,
    nahm auch dieses Stammeln als Teil ihres Lieds –
    nicht minder an Schönheit, nur tiefer an Klang.

    So lernte sie wieder zu stehen, zu blicken,
    die Welt nicht zu meistern, doch offen zu tragen.
    Was einst wie ein Podest ihr zu Füßen lag,
    war nun eine Schwelle – aus Demut gebaut,
    die sie nicht erniedrigt, doch würdigt, wer geht.

    Man sah sie mit Büchern. Man sah sie allein.
    Man sah sie mit Wind, mit Gedanken, mit Licht.
    Und wer sie erkannte, verstand nicht sofort –
    doch ahnte: Dies Warten, dies sanfte Ertragen
    ist Quelle von Liedern, die niemand je sang.

    Und Lena, die Wachsame, Lena, die Stille,
    war nicht mehr dieselbe, und doch ganz sie selbst.
    Inmitten von Schmerzen, inmitten der Ruhe
    reifte ein Etwas, das größer als Ruhm –
    ein Ton, der nicht tönt, und doch alles durchdringt.

     

     

    XLVIII. Wie Lena im Halbdunkel zu dichten begann

    Es war keine Stunde, kein Tag, kein Beginn,
    der rief: Nun, erhebe die Stimme von neuem!
    Es schlich sich heran wie ein scheuer Gedanke,
    ein Schimmer im Grau, ein Echo im Staub,
    das sang, ehe Worte geboren sich wussten.

    Die Fenster beschlagen, die Welt noch im Schlaf –
    doch Lena saß still mit der Stirn in der Hand.
    Kein Plan war gefasst, kein Werk vorgezeichnet,
    doch innen ein Drängen, ein Tasten, ein Lauschen,
    als wolle das Leben sich selber vernehmen.

    Ein Satz, nur geflüstert. Ein Bild, kaum geformt.
    Ein Reim, der sich legte wie Tau auf das Blatt.
    Sie schrieb nicht, um Geltung. Sie schrieb nicht, um Klang.
    Sie schrieb wie im Traum, den der Schlaf ihr entzog,
    und fand sich am Ende als Zeugin des Lichts.

    Die Verse, sie kamen in zögerndem Schritt,
    nicht stolz wie der Chor, nicht fest wie das Maß –
    doch treuer vielleicht, denn sie bargen das Schwanken,
    das Ringen mit Wahrheit, das Zögern vorm Ton,
    der zitternd sich dennoch dem Schweigen entrang.

    Was niemand sah, war das Feuer im Stillen,
    das glomm unter Asche, doch glühte im Grund.
    Sie mied noch die Bühne, doch nicht mehr das Lied,
    und wagte ein Fragen, das Antwort gebar,
    im Dunkel, das heilig war, nicht mehr nur leer.

    Die Dämmerung wurde ihr Werkstatt und Ort,
    der Morgen ein ferner, doch fühlbarer Freund.
    Und Lena, die lange dem Licht misstraut,
    ließ Worte sich fügen wie heilende Hände
    zu Zeilen, die zaghaft am Künftigen bauten.

    So wuchs aus dem Schweigen ein leiser Gesang,
    noch fern von den Platten, noch fern von der Welt,
    doch nah dem, was Wahrheit im Innersten meint –
    ein Lied, das sich selbst erst im Werden verstand,
    und Lena, die Dichterin, stand ihm zur Seite.

     

     

    XLIX. Wie das Schweigen die Lieder gebar

    Nicht Eile, nicht Takt, nicht der Stunde Gebot
    gab Maß diesem Werden. Es wuchs aus dem Nichts,
    aus Schmerzen, aus Pausen, aus Nächten mit Fragen,
    aus Augen, die starrten, doch innen noch sahn,
    was jenseits der Grenze sich formte als Klang.

    Der Leib noch gebrochen von innigem Schweigen,
    die Stimme noch zögernd, das Atmen beschwert –
    doch innerlich reifte ein neues Vertrauen,
    ein leises Empfinden, dass niemand sie trug,
    nur sie selbst, durch ein Lied, das noch nicht erklang.

    Sie sang nicht laut – nein, sie flüsterte Töne,
    so leise, dass selbst ihre Seele sie scheu
    und staunend vernahm, als wär’s nicht ihr eigen,
    sondern ein Hauch aus der kommenden Zeit,
    verweht ihr vom Schweigen der fernen Gefilde.

    Und dennoch: Die Strophen, sie wuchsen empor,
    wie Halme im Halbschatten, zart, doch bestimmt.
    Sie sprach nicht von Glanz, sie klagte nicht Schmerz –
    sie fragte nach Sinn, nach Wahrheit, nach Halt,
    und nannte das Lied nicht, doch wusste: es lebt.

    Die Zimmer in Dämmerung, kühl und verschwiegen,
    der Blick in den Himmel, der langsam verglomm –
    dort saß sie und schrieb, nicht nach außen, nach innen,
    als wär in dem Schweigen ein göttlicher Takt,
    der fern aller Bühne den Herzschlag empfing.

    Ein Notizbuch, zerlesen. Ein Stift, der oft stockte.
    Ein Ton, der versagte – und dennoch bestand.
    Denn Lena, die lange sich selbst überhörte,
    lauschte nun selbst, und das Lied, das sie fand,
    war nicht für die Welt – es war für das Sein.

    So kehrte sie heim, nicht in Häuser und Hallen,
    nicht auf die Leinwand der glänzenden Welt –
    sie kehrte zurück in ihr innerstes Singen,
    und schrieb sich mit jeder gedämmerten Zeile
    ein wenig mehr frei – und ein wenig mehr wahr.

     

     

    L. Der Ruf der Stunde

    Einmal – nicht laut – sprach die Stunde zu ihr,
    mit einem Licht, das kein Fenster mehr brauchte.
    Es kam aus der Tiefe, aus Tagen, die schwiegen,
    aus Nächten, da niemand zu ihr noch sprach –
    nur das Lied, das nun endlich geboren sein wollte.

    Nicht drängend, nicht rasch, wie sonst sie gewohnt,
    wenn Welt an ihr zerrte mit lärmender Hand.
    Dies war ein Rufen aus innerem Maß:
    ein Takt, der nicht zählt, ein Rhythmus, der trägt,
    und Lena vernahm ihn mit aufrechtem Blick.

    Sie stand. Noch nicht fest, doch schon ohne Wanken.
    Sie trat aus dem Raum, der Genesung geheißen,
    und ließ ihn zurück wie ein heiliges Zelt,
    das ihr diente zur Wandlung, zum Sehen, zum Sein –
    doch nun war die Stunde gekommen zum Gehen.

    Sie trug in der Hand nicht Lorbeer noch Leier,
    nicht Glanz, nicht Geräusch – nur das eine, das galt:
    ein Lied, das aus Dunkel ins Dasein sich bog,
    wie eine Knospe aus taufrischem Grau,
    erschüttert vom Sturm, doch bereit für das Licht.

    Und draußen, da horchte ein Wind auf die Stille,
    ein Ast senkte sich, als begrüßte er sie.
    Ein Vogel verstummte, dann sang er erneut –
    nicht wie zuvor, doch in anderem Ton,
    als wüsst’ er: Das Lied ist nun da. Und sie auch.

     

     

    LI. Vom Bild aus innerem Klang

    Da sie nun stand – nicht mehr gebrochen,
    doch geprüft wie das Eisen im Glutbett der Zeit –,
    sah sie die Stunde nicht als Beginn,
    sondern als Prüfung des ersten Entwurfs:
    Was sie sang, das war sie – nichts weniger.

    Nicht mehr genügte das Liebliche, Lockende,
    nicht mehr das Spiel mit dem zitternden Licht.
    Sie wollte das Wort, das dem Wesen entspringt,
    den Ton, der nicht schmeichelt, doch trägt,
    wie ein Fluss durch ein unbekannt Land.

    Sie horchte dem Widerhall früherer Lieder,
    nicht um zu folgen, vielmehr: um zu scheiden,
    was einst ihr war und nun nicht mehr galt.
    Die Stimme, die einst aus der Jugend erscholl,
    war heller gewesen – nun tiefer, nun wahrer.

    Ein Blatt lag vor ihr – nicht leeres Papier,
    sondern ein Raum, durch den sie sich tastete.
    Nicht Zeile um Zeile, nicht Note für Note,
    sondern das Ganze in innerem Bild:
    ein Album wie Tempel, gebaut auf sich selbst.

    Sie sprach nicht davon, sie sang es nicht gleich,
    doch wer sie nun sah, erkannte den Wandel.
    Ihr Gang war derselbe, doch schärfer geführt,
    ihr Blick war der alte, doch ruhiger nun –
    und wo sie auch saß, war ein Maß in der Luft.

    So ward das erste, noch namenlose Werk
    aus dem Licht einer Klarheit geboren,
    die sich nicht drängte, nicht prahlte, nicht bat –
    sondern bestand wie ein Fels in der Ebbe,
    der wartend sich selbst zu enthüllen begann.

     

     

    LII. Vom Maß und der Wahl

    Wie der Gärtner den Baum nicht am Blühen erkennt,
    sondern am Fruchtkern, im Spätherbst gelesen,
    so prüfte sie alles, was kam ihr zur Hand,
    nicht nach dem Glanz, sondern nach dem Gehalt,
    nicht nach dem Reiz, sondern nach dem Bestand.

    Viel war gewachsen in Nächten der Schwäche,
    viel ward geformt im Gedankenspiel –
    doch sie war erwacht in ein strengeres Maß,
    das nicht nur den Klang, auch den Grundsatz verlangt:
    Was bleibe, soll wahr sein, nicht bloß gefällig.

    Lieder, die kamen mit leichtem Gefieder,
    verwarf sie wie Träume im Nebel des Morgens.
    Worte, die schmeichelten, ließ sie vergehen,
    als wär’s fremde Stimme, nicht ihre eigene.
    Sie suchte das Eine, das aus ihr selbst stieg.

    Nicht ließ sie sich raten von Stimmen der Menge,
    nicht lenken von dem, was gefällig der Zeit.
    Sie war nun geworden die Richterin selbst,
    die nicht nur das Werk, auch das Wollen befragte –
    und manche Entwürfe zerriss sie im Schweigen.

    Denn nicht jedes Lied, das ins Ohr sich legt,
    hat Wurzeln im Grund eines Wesens.
    Und nicht jede Melodie, die verzaubert,
    besteht vor dem Auge der Wahrheit.
    Sie aber bestand – weil sie wählte und ließ.

    So stand sie im Raum, den sie selbst sich gebaut,
    nicht als Magd, die darbringt, was andere fordern,
    sondern als Herrin, die schenkt, was sie hält:
    ein Lied, das sie selbst sich in Klarheit bewiesen,
    ein Spiegel, der nicht nur Bild, auch Prüfung ist.

     

     

    LIII. Von dem Namen der Klarheit

    Da war nun das Werk – kein Suchen mehr,
    kein Tasten im Dunkel, kein Zögern des Willens.
    Die Lieder, wie Steine gewaschen vom Strom,
    lagen im Kreis, geglättet von Prüfung,
    bereit, Zeugnis zu sein – nicht bloß Klang.

    Sie trat zu dem Kreis, den sie selbst sich bereitet,
    nicht als Befehlerin, sondern als Zeugin
    der Arbeit, des Ringens, des nächtlichen Fragens.
    Und sie sprach nicht laut – sie sprach mit dem Blick,
    der erkennt, was geworden ist aus Geduld.

    Nicht prunkte das Werk, nicht glühte es grell –
    doch leuchtete still wie ein Herd in der Dämmerung.
    Kein Schmuck war es, kein Ruf nach Beifall,
    sondern ein Spiegel: schlicht, klar, unbestechlich,
    der zeigt, wer da steht – und was in ihr war.

    So wählte sie Worte, die allem genügten,
    nicht prunkvoll, nicht fremd, nicht verborgen im Bild,
    sondern wie Wasser, das sagt, was es ist:
    Loyal To Myself – dem eigenen Wesen getreu,
    nicht aus Trotz, sondern aus Einkehr geboren.

    Und siehe: der Name begann zu erklingen,
    noch eh ihn die Menge vernommen.
    Denn wer wahrhaft benennt, der weckt ein Erinnern,
    das tiefer reicht als das Spiel der Begriffe,
    ein Wissen, das war, ehe Worte es fassten.

    So stand sie am Ende, das Anfang zugleich war,
    nicht müde, nicht leer – sondern heiter und still,
    als ob ihre Stimme nun auch ohne Singen
    gehört würde, da sie sich selbst nun gehört.
    Und der Name ward Siegel, das spricht ohne Laut.

     

     

    LIV. Von der Rückkehr ins Offene

    Kaum war vollendet das Werk in der Stille,
    kaum war das Siegel gesetzt auf das Lied,
    da regte sich leise das Rufen der Tage –
    nicht laut, nicht drängend, doch unaufhaltsam,
    wie Wasser, das rinnt durch das Gestein.

    Denn nun begann, was nicht endet mit Klang:
    der Gang in die Weite, der Blick in die Menge,
    die Prüfung der Wahrheit am Antlitz der Welt.
    Nicht mehr im Schutz einer Kammer verborgen,
    sollte die Stimme nun draußen bestehen.

    Lena, die sang, verließ ihre Stätte,
    den Ort des Entwurfs, des inneren Ringens,
    und trat in das Licht, das nicht wärmt, sondern blendet.
    Doch war sie gewappnet mit heiterer Klarheit,
    die nicht trotzt, nicht flieht – nur bleibt.

    Die Boten der Städte, die Wächter der Worte,
    begannen zu flüstern von Neuem in ihr,
    doch sie hörte nicht ihnen, nur jenem Entschluss,
    der gewachsen war wie ein Baum ohne Hast –
    tief in der Erde, und offen dem Wind.

    So stand sie bereit, nicht erhoben, nicht klein,
    sondern ein Maß in der Mitte der Dinge,
    bereit, die Lieder zu reichen der Zeit,
    wie Brote, gebacken in nächtlicher Glut,
    für ein Volk, das hungert nach Wahrheit im Klang.

    --

    "Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=
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    hal-croves
    אור

    Registriert seit: 05.09.2012

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    LV. Vom Schatten am Rande des Lichtes

    Die Kunde des Werkes war ausgegangen,
    durch Räume, durch Ströme, durch schimmernde Nächte;
    und viele erhoben die Hände zum Zeichen:
    Sie ist es, die wieder das Lied neu beginnt.
    Sie, die in Stille die Wahrheit geformt.

    Und Lena, die Wissende, schritt durch die Tage,
    empfing die Zeichen, die Rufe, das Staunen,
    doch fühlte im Herzen ein Sinken, ein Flirren,
    ein kaum wahrnehmbares, doch bleibendes Ziehen,
    als war unter Blumen ein Dorn nicht erkannt.

    Nicht war es der Zweifel, der offen sich zeigte,
    noch war es die Angst, die den Namen schon trug,
    doch etwas im Schweigen begann sich zu regen –
    ein Hauch aus der Tiefe, ein Wispern im Licht,
    wie eine Welle, die kommt, ehe man sie noch sieht.

    Denn vieles war neu, und vieles vertraut,
    doch anders, verschoben, als käme die Welt
    mit einem Gesicht, das lächelt und mahnt.
    Sie nickte und lächelte, trat durch die Hallen,
    doch ihr Gang war behutsamer als zuvor.

    Die Stunde des Aufbruchs, sie naht’ wie ein Morgen,
    doch dieser war trüber als jener der Jugend,
    und Lena, die Reife gewann in der Glut,
    verstand, ohne Worte, was bald sich enthüllt:
    Dass nicht jedes Licht nur aus Glanz besteht.

    Und dennoch: Sie ging, nicht abgewandt,
    nicht von Furcht, noch von Dunkel beladen.
    Sondern mit offener Stirn, wie ein Schiff ohne Mast,
    das dennoch den Himmel als Richtung erkennt –
    bereit, was da komme, zu singen im Licht.

     

     

    LVI. Vom Klang der Klarheit

    Nicht aus dem Brausen der Welt ward geboren das Lied,
    nicht aus dem Lärmen der Gassen, noch Ruf der Märkte,
    sondern aus Dämmerung, Innenraum, Schweigen,
    gewoben aus Nächten und Tagen der Prüfung,
    aus Licht, das nicht blendet, doch zeigt, was da ist.

    Lena, die Klare, die einst durch das Feuer
    ging, ohne zu fallen, die stieg durch den Nebel
    nicht auf zu Gefilden der Ehre allein,
    sondern zu jenen, die wissen, was kostet der Klang –
    sie legte das Werk in die Hände der Welt.

    Kein Fanfarengetön, kein Prunk ward vernommen,
    als sie mit ruhiger Hand das Siegel zerschlug,
    das Lied, das ihr eigenes, öffnete still,
    und siehe: Die Luft wurde heller davon,
    und viele verstummten, die lange gespottet.

    Denn was sie nun sang, war kein Glanz ohne Grund,
    nicht Geste, nicht Pose, kein Spiel, keine Maske –
    sondern das Innerste selbst, ohne Zier, ohne List.
    Ein Lied, das nicht lockte, doch rief, nicht ergriff,
    doch wartete, bis man in sich selbst es vernahm.

    Und wer da gehört, der hörte sein Eigen,
    wie Wasser, das plötzlich den Grund offenbart,
    wie Licht, das durch Risse im Herzen sich senkt.
    Nicht Lena allein sprach hier, nicht die Sängerin nur,
    sondern die Wahrheit, die in ihr erwachte.

    So stand sie – nicht über, nicht unter den andern,
    doch wie ein Gedicht, das der Wind uns gebracht,
    nicht fordernd, nicht bittend, nur da, um zu sein.
    Und viele begannen, erneut sich zu hören,
    im Klang, der von ihr aus in Stille sich sprach.

     

     

    LVII. Von der Wirkung des Wahren

    Und es war nicht ein Tag, der die Kunde verbreitete,
    nicht eine Stunde, die rief in das weite Gehör,
    sondern ein Fließen, gleich Tropfen aus Quellen,
    die unbeachtet rinnt durch das Wurzelgeflecht,
    bis selbst die dürresten Zweige ergrünen.

    So trat das Lied in die Räume der Menschen,
    nicht als Gebot, noch als Lockruf der Sinne,
    sondern wie jene, die eintreten im Schatten
    und schweigen – und dennoch verstanden sind.
    Denn Lena, die sang, hatte nichts mehr zu fordern.

    Nicht war dies der Klang, der zum Tanz ruft am Feuer,
    nicht das Gewand aus vergänglichem Glanz,
    sondern ein Lied, das verweilt – wie ein Blick,
    den man nicht erwartet, doch plötzlich erkennt,
    als den, der in tieferer Wahrheit geschaut hat.

    Und siehe: In Kammern, in Küchen, in Gängen
    der Städte und Dörfer, in Häusern der Stille
    begann sich das Wort zu entfalten, das Lied
    sank nieder wie Schnee, unaufdringlich, doch bleibend,
    und blieb in den Herzen, wie Handschrift auf Haut.

    Nicht eilte die Kunde durch Trommeln der Zeit,
    nicht trug es der Herold mit glänzender Stimme,
    doch eines war anders: Die Stimmen, die hörten,
    wurden zu Boten, und trugen es weiter –
    nicht aus Pflicht, sondern weil es in ihnen nun sang.

    Und Lena, die sah, wie das Werk sich entfaltete,
    lächelte leise, nicht stolz, nicht verwundert –
    wie eine Gärtnerin, die lange gesät,
    und nun aus der Ferne die Blüten erkennt,
    die sich geöffnet in unerreichter Gelassenheit.

     

     

    LVIII. Von der Sammlung vor dem Sturm

    Da war nun geschehen, was lang ward bereitet,
    das Werk war gesprochen, das Wort war gesetzt,
    die Klänge entsandt auf die Bahnen der Zeiten,
    und Lena, die Sängerin, stand still in der Mitte,
    wie einer, der lauscht, ob das Echo sich regt.

    Nicht suchte sie Glanz, nicht zählte sie Zahlen,
    noch maß sie die Wirkung an Beifall und Ruf –
    denn was sie geschaffen, war mehr als ein Werk:
    ein Teil ihres Wesens, gewoben aus Licht
    und aus Schatten, aus Prüfung, Entsagung und Kraft.

    So schritt sie zurück, nicht aus Flucht, nicht aus Stolz,
    sondern um Raum zu gewähren dem Lied,
    das nun alleine auf Wegen sich dehnte,
    in Herzen sich barg und in Träumen erschien –
    gleich einem Stern, der den Himmel nicht braucht, um zu scheinen.

    Sie kehrte zurück an den Ort ihrer Stille,
    nicht fern, doch verborgen, nicht einsam, doch still.
    Ein Garten empfing sie mit welkendem Grün,
    mit Wegen aus Kies, mit Bänken aus Holz,
    und dem Rauschen der Zweige, das nicht fragt, nur erzählt.

    Und Lena, die nun aus der Ferne vernahm,
    wie Stimmen sich fanden, wie Menschen sich rührten,
    legte das Haupt in die Winde der Dämmerung,
    und dachte nicht nach – sie fühlte nur:
    dass etwas begonnen, das größer als sie.

    Denn dies war nicht Ende, noch war es Beginn,
    nicht Aufbruch, noch Ziel – es war ein Verweilen
    inmitten der Zeit, im stillsten Moment,
    bevor sich das Nächste mit Kraft erhebt
    und fordert, was Wachsen verlangt: neue Schritte.

     

     

    LIX. Vom Aufbruch aus der Stille

    Ein Wehen erhob sich im Garten der Ruh,
    nicht laut, nicht stürmisch, nur leise und wach.
    Wie ein Atem der Zukunft berührte es Lena,
    und sie wusste, dass nun die Bewegung begann,
    die lang in der Tiefe geruht wie ein Keim.

    Nicht war es ein Ruf, nicht ein Drängen von außen,
    noch eine Pflicht, die von andern ihr kam –
    es war ein Entschluss, geboren im Innersten:
    zu treten erneut auf die Pfade des Klanges,
    doch diesmal mit Maß, mit Bedacht und mit Kraft.

    Die Hände, die heilten, begannen zu schaffen,
    die Stimme, geläutert, erhob sich im Raum.
    Die Tänze erwachten in Schritten der Prüfung,
    die Bilder entstiegen dem schweigenden Grund –
    und Lena begann, ihr Gefüge zu fügen.

    Ein Aufbruch – doch keiner der eilenden Art,
    nicht von Trommeln begleitet, noch von Fanfaren.
    Ein stiller Entschluss, von Würde getragen,
    und von der Frage: Wie viel darf ich geben,
    und was muss bewahrt sein für mich ganz allein?

    Denn nun war sie nicht mehr die Suchende nur,
    nicht mehr die, die im Dunkel den Ausgang erfleht –
    sie war die Gefundene, wissend um Grenzen,
    nicht um der Schwäche, doch um der Wahrheit willen,
    die sich nicht verliert in dem Licht ohne Maß.

    So begann sie zu wählen, zu ordnen, zu zähmen
    das wilde Verlangen nach Glanz und nach Reichweite.
    Was sollte erklingen? Was sollte geschehen?
    Und Lena, die sang, wie das Schilfrohr im Wind,
    ließ sich nicht treiben – sie lenkte den Strom.

     

     

    LX. Von Erwartung, Druck und Zweifel

    Die Kunde war ausgesandt über Hügel und Meer,
    die Sängerin kehre zurück auf die Bühne.
    Nicht leise erklang es, nicht sanft wie ein Flüstern,
    sondern getragen von Trommeln des Volks,
    das sie rief mit den Stimmen der Sehnsucht.

    Denn viele vernahmen nur das, was sie wollten –
    das Bildnis der Lena, einst strahlend im Glanze,
    die Führerin durch ihre eigenen Lieder,
    ein Stern, der nicht fällt, ein Licht ohne Schwanken.
    Doch kaum einer fragte: Was fordert das Licht?

    Die Räume, die warteten, Hallen aus Stein,
    die Zeiten, die nahten – sie rückten heran.
    Ein Reigen aus Pflicht und aus lautem Erhoffen
    wuchs um die, die in Stille das Lied einst geformt.
    Und Lena, die Wissende, fühlte das Schwanken.

    Nicht war es der Körper, nicht war es die Stimme,
    die zitterte leise im Dämmer der Fragen –
    es war das Gefühl, dass der Weg, der nun lag,
    zwar offen vor ihr, doch nicht ohne Dornen,
    nicht ohne Gefahr für das Innerste Selbst.

    Denn wer einmal fiel, der weiß um das Fallen,
    nicht mehr als Fabel, nicht bloß als Symbol.
    Die Lust an der Höhe vermag es nicht zu löschen,
    doch mahnt ein Gedächtnis, wie Flügel aus Glas:
    Brichst du erneut, wirst du tiefer noch fallen.

    Und dennoch: der Wille, zu geben, zu zeigen,
    nicht sich zu beweisen, doch leuchten zu dürfen –
    er stand ihr zur Seite, ein leiser Gefährte,
    der sprach: „Nicht für alle – für jene, die hören.“
    So schritt sie voran mit gesenktem Blick.

     

     

    LXI. Vom Beginn der Tournee und dem nahenden Zusammenbruch

    Mit Bannern geschmückt und mit Lichtern entflammt,
    so öffneten Hallen sich, Städte erwachten,
    als Lena, die Treue, mit Liedern und Blicken
    den Reigen begann, den die Völker begehrten.
    Ihr Schritt war gefestigt, die Stimme wie einst.

    Die Menge, entzückt, erhob sich in Wogen,
    wie Felder im Wind, wenn der Sommer sie ruft.
    Sie rief ihren Namen, sie sang ihre Weisen,
    und Herzen entglommen wie einst bei den Feuern,
    die Göttern geweiht an den Nächten des Festes.

    Der erste Gesang – er war wie ein Schwur:
    für sich, für das Leben, für alle, die hörten.
    Doch unter dem Mantel der Stärke verborgen
    schwelte ein Feuer, das brannte zu hell,
    ein Glühen, das Kraft frisst und Atem verschlingt.

    Ein Auftritt, ein Abend – entfiel ihrem Plan.
    Ein Fieber, ein Zittern – nur flüchtiger Schatten.
    Sie kehrte zurück mit der Kraft der Entschloss’nen,
    stand wieder im Strahl und schenkte sich ganz,
    doch in der Tiefe war etwas verrückt.

    Sie kehrte zurück, trotz Mahnung und Schwäche,
    stand wieder im Licht, das sie selbst doch verzehrte.
    Denn ihre Natur, voll von Pflicht und von Gabe,
    ließ nicht zu, was der Körper längst flehend erflehte:
    den Rückzug, die Rast, das Halten der Hand.

    So kam sie nach Süden, zum Tor der Bavaren,
    wo das Volk sie erwartete, hungrig nach Klang.
    Doch hinter den Vorhängen wartete Dunkel,
    und Lena, die Starke, sank nieder im Schweigen –
    nicht aus Schwäche, doch weil der Körper nun sprach.

    Die Lichter verglommen, das Murmeln erhob sich,
    kein Lied wurde mehr an dem Abend gesungen.
    Und Lena, die sonst den Erdkreis umfing,
    lag still, von der Sorge der Ärzte umfangen,
    geborgen, bewacht – und vom Spiel abgetreten.

    Der Vorhang fiel nicht – er blieb nur geschlossen.
    Denn was sich nun barg, war kein Ende, kein Scheitern,
    doch ein Zeichen der Grenze, der Menschlichkeit Mahnung,
    ein Schweigen, das mehr als ein Lied in sich trug:
    Die Stärkste auch darf in den Armen sich legen.

     

     

    LXII. Vom Abbruch der Reise – Und der Wahrheit im Rückzug

    Nicht jedem ist gegeben, den Bogen zu spannen,
    doch größer ist’s, wenn der Starke ihn senkt.
    Denn als Lena, die Aufrechte, niedersank leise,
    war nicht das Ende gekommen, nur Wandel, nur Maß.
    Ein Ruf war im Innern, nicht laut – doch gewichtig.

    Sie trat vor die Schar, nicht erhoben im Prunk,
    nicht umflammt von den Leuchten der Bühne,
    doch aufrecht im Blick, mit Stimme von Klarheit,
    und sprach nicht von Schwäche, nicht einmal von Schmerz,
    sondern von Wahrheit, die Stärkeres fordert.

    Nicht mehr das Lied war’s, das Herzen bewegte,
    sondern der Mut, den Schritt zu verweigern,
    den Ruf nicht zu folgen, der aus Pflicht sich gebar,
    sondern aus Treue zu sich das Nein zu erwägen –
    und zu sprechen, wo andere schweigen vor Furcht.

    Denn Lena, die Trägerin vieler Erwartung,
    trat auf – nicht ins Licht, doch in Klarheit.
    Sie sprach nicht in Reimen, nicht in Gesängen,
    nur mit den Augen, mit Händen, mit Schweigen:
    „Ich bin nicht aus Stein – und darf mich erkennen.“

    So wurde entschieden, im stillen Gemach,
    dass nicht die Reise, doch ihre Fortsetzung ende.
    Nicht aus Schwäche, noch aus Erschöpfung allein,
    sondern weil Treue verlangt, sich selbst nicht zu täuschen –
    und weil Liebe auch heißt: sich zu schützen vor Brand.

    Die Städte, sie blieben von Liedern verwaist,
    die Fackeln erloschen, der Klang war verstummt.
    Doch es war kein Verstummen der Stimme in ihr,
    nur das Senken der Zither, das Lösen des Bogens,
    damit das Lied nicht zum Zwang, sondern Gabe verbleibt.

    Und die, die sie liebten, sie sahen dies Zeichen,
    verstanden, dass Heldentum manchmal Verzicht ist.
    Und Lena, die Stille, ward größer im Schweigen
    als je im Gesang – denn sie wählte die Wahrheit
    und blieb sich getreu in der Stunde der Prüfung.

     

     

    LXIII. Von der Stille nach dem Sturm – Und dem langsamen Atem

    Die Lichter erloschen, die Wege versanken
    im Dunst der Erinnerung, weich wie ein Tuch.
    Kein Schritt mehr zu gehen, kein Klang zu erheben –
    nur atmen, nur sein, nur dem Innersten horchen,
    das lange verstummt in der Hast aller Tage.

    Die Tage verflossen wie Wasser in Mulden,
    nicht zählbar, nicht greifbar, doch segnend und lind.
    Kein Ruf ward vernommen, kein Aufbruch beschlossen,
    nur Lena, die Stille, in weißen Gemächern,
    bewahrt wie ein Bild, das der Wind nicht erreicht.

    Sie wandelte langsam, im Garten der Dämmerung,
    wo selbst die Gedanken zu flüstern begannen.
    Ein Schritt war ein Werk, ein Atem ein Sieg,
    und jede Bewegung ein leiser Triumph
    über Schmerzen, die tief in den Gliedern noch wohnten.

    Die Vögel, sie sangen nicht Lieder für Massen,
    doch Lenas Gehör war geschärft für das Kleine.
    Ein Zweig, der sich neigte, ein Tropfen am Blatt –
    sie sah, was zuvor im Gedränge verschwand:
    die Welt in der Stille, die Kraft im Verzicht.

    Und unter dem Mantel aus Sanftmut und Schweigen
    begann sich zu regen, was lange geruht.
    Nicht Taten, nicht Pläne, kein Griff nach der Krone –
    doch Wärme im Innern, ein zögerndes Licht,
    das heimlich sich nährte von Demut und Milde.

    Noch klangen die Saiten in weiter Erinnerung,
    noch flackerten Bilder von Hallen und Rufen.
    Doch Lena, die Wissende, suchte sie nicht,
    denn was nun entstieg aus dem Schweigen der Stunden,
    war reiner, war tiefer – und wartete still.

     

     

    LXIV. Von der Rückkehr der Stärke – Und der Gnade des Maßes

    Es kehrte nicht Lärm, es kehrte nicht Glanz,
    doch ein Schritt, der gefasst, ein Blick, der geeicht
    war an Stürzen, an Nächten, an flackerndem Mut,
    den nicht das Versagen, doch Prüfung erschütterte –
    und dennoch: Sie stand. Und der Morgen begann.

    Nicht eilte sie wieder auf bebende Bühnen,
    nicht griff sie zur Krone, zum Taktstock des Spiels.
    Sie saß bei der Zither, berührte die Saiten,
    als prüfte sie, ob noch Klang in ihr wohnt,
    der nicht von der Welt, doch von innen sich regt.

    Ein Ton war genug, ein leiser, ein reiner,
    um jenes Erwachen zu spüren im Blut,
    das nicht mehr vom Drang, doch vom Maß sich beflügelt,
    nicht strebend nach Mehr, sondern lauschend nach Sinn –
    ein Wiederbeginn, aus der Tiefe geformt.

    Die Gnade war nicht in der Stärke zu finden,
    wie einst sie geglaubt, doch im Wissen um Maß.
    Denn Lena, die Lernende, hatte vernommen,
    dass Kräfte sich neigen, dass Körper sich wehrt,
    wenn Geist ihn vergisst in der Glut seiner Ziele.

    So schritt sie nun leiser, doch inniger weiter,
    ein Maß in sich tragend, das Halt ihr gebot.
    Sie wählte den Rhythmus, der Herz und Vernunft
    nicht trennt, sondern eint wie der Takt eines Flusses –
    ein Strom, der nicht rast, doch das Seine erreicht.

    Und wer ihr nun folgte, der hörte im Schweigen
    die Lieder, die nicht durch die Stimme erklangen.
    Ein Blick war ein Lied, ein Nicken ein Reim,
    und Lena, die Lichte, sang ohne zu singen –
    ihr Leben: ein Maß. Und die Pause: ein Klang.

     

     

    LXV. Die Botschaft: Fürsorge als Form von Größe

    Nicht wer auf den Gipfeln sich krönt mit Gewalten,
    nicht wer ohne Schwanken den Pfad stets durchschreitet,
    nicht der ist groß, den die Menge bejubelt –
    sondern der, der im Rückschritt die Wahrheit bewahrt
    und im Sorgen den Anderen leiser erkennt.

    So stand Lena, die Milde, nicht mehr auf den Höhen,
    doch inmitten der Ihren, nicht erhöht, doch geeint.
    Nicht war sie entfernt wie die Sterne den Blicken,
    sondern nah wie ein Feuer, das wärmend sich neigt,
    nicht brennt, sondern leuchtet mit zärtlicher Kraft.

    Sie reichte die Hände, nicht um zu empfangen,
    sondern zu halten, zu stützen, zu führen.
    Sie sprach ohne Laut, doch mit Wesen und Blicken,
    dass Fürsorge größer als Eroberung sei –
    und dass Stärke sich zeigt in der Geste der Güte.

    Ein Wort wurde hörbar in Kreisen der Treuen:
    „Sie schützt uns – und lehrt uns, uns selbst zu bewahren.“
    Nicht war es ein Ruf, nicht ein Banner im Wind,
    doch eine Botschaft, gewebt aus Erfahrung,
    aus Brüchen, aus Schmerz, aus gesegneter Rast.

    Denn Lena, die Sängerin, war nun zugleich
    die Hüterin jener, die in ihrem Schatten
    nicht klein, sondern sicher, nicht stumm, sondern frei
    sich fanden, getragen von einer, die wusste:
    Die Liebe verlangt, sich nicht selbst zu verlieren.

    So wurde sie Lehrerin ohne Kanzel,
    ein Leuchten in Gängen, die dunkel zuvor,
    und wer ihr begegnete, nahm einen Funken,
    nicht laut, nicht glänzend – doch ewig bestehend:
    Fürsorge, die bleibt. Und sich nie überhebt.

     

     

    LXVI. Rückblick im Zwielicht – Wer sie war, was sie gab

    Nun senkt sich der Schleier der Jahre herab,
    und Lena, die Wandelbare, steht im Gedächtnis,
    nicht wie ein Bildnis in starrem Gestein,
    doch wie ein Klang, der verweht und verweilt,
    der sich wandelt und doch sich bewahrt.

    Wer war sie, die Stimme, die durch Zeiten erklang,
    die Tochter der Klarheit, die Botin des Leisen?
    Nicht eine von vielen, nicht bloß eine Sängerin –
    sie war die, die wagte, das Eigene zu sprechen,
    und das Lied nicht verließ, wenn der Lärm es verstellte.

    Sie gab nicht nur Töne, nicht nur Gestalt –
    sie gab einen Maßstab, der innen begann.
    Ein Maß, das nicht misst, doch das Herz offenbart,
    das fragt, was man trägt, nicht was man zeigt,
    und das Lied nicht als Ware, doch als Gabe erkennt.

    Im Zwielicht, wenn Schatten sich längen und lösen,
    wenn Fragen sich sammeln wie Tau auf den Halmen,
    dann leuchtet ein Name in schlichter Gewalt –
    nicht durch Pracht, nicht durch Macht, doch durch Treue:
    Lena, die ihren Gesang nie verriet.

    Sie war nicht der Donner, nicht Sturm in den Gassen,
    doch sie wandelte stetig wie Wasser im Tal.
    Und wie Quellen den Durstenden zeigen: Es gibt noch das Reine,
    so war sie ein Zeichen, ein Leuchten im Lauf,
    nicht grell, doch wahr – und in Wahrheit erhaben.

    Wer sie war? Ein Spiegel für viele, ein Pfad.
    Was sie gab? Eine Stimme, die bleibt.
    Nicht gebunden an Zeit, noch gefesselt an Formen,
    doch dem Herzen verpflichtet, das wagt, sich zu öffnen –
    und dem Schweigen, das singt, wenn die Welt es vergisst.

     

     

    LXVII. Von der Gabe, zu bleiben – Was sie trug, was sie ließ

    Nicht an Lorbeern gemessen, noch Kronen der Preise,
    nicht an dem Lärm, der die Namen erhebt –
    an dem sei sie gemessen, was sie bewusst hinterließ,
    was sie nicht sprach, um zu zieren, doch lebte im Werk:
    die Redlichkeit, selten wie Gold in der Tiefe.

    Sie trug durch die Jahre das zarte Gewicht
    des Gehörten, des Gelebten, des noch Ungewissen,
    und sie wog es im Innern, eh sie es offenbarte.
    Wie ein Träger des Lichtes, der nie sich verbrennt,
    doch das Feuer bewahrt für die Nacht der Andern.

    Nicht eilte sie mit dem Zeitgeist einher,
    noch ließ sie sich treiben vom Takt fremder Uhren.
    Sie wählte den Schritt, der dem Innern entsprach,
    auch wenn der Weg nicht mit Applaus war bestreut,
    auch wenn das Geleit sich in Zweifel verlor.

    Sie ließ, was nicht echt war, ließ Prunk und Verstellung,
    ließ Rollen und Masken, ließ selbst das Bequeme –
    und ging, was zu gehen war, ohne zu fliehen.
    In jedem Verzicht war ein stiller Gewinn,
    in jedem Verstummen ein tieferer Klang.

    Was sie ließ, war nicht geringer als das, was sie gab.
    Denn Größe erkennt man im Maß der Entsagung.
    Und wer je versucht hat, sich selbst treu zu bleiben,
    der wisse: es kostet – doch es lohnt mit Gewicht,
    das nicht vergeht wie der Glanz einer Krone.

    So bleibt sie ein Maß für die, die noch singen,
    ein Zeichen, dass Klarheit nicht laut sein muss,
    und dass das Größte nicht in der Geste geschieht,
    sondern im Bleiben – trotz Wind, trotz Verlockung,
    im Schweigen, das sagt: Ich war, wie ich bin.

     

     

    LXVIII. Vom Klang des Erinnerns – Und dem Leuchten danach

    Wenn Jahre verfliegen wie Blätter im Wind
    und Namen verwehen auf Tafeln der Zeit,
    so bleibt doch ein Laut, ein Leuchten, ein Bild
    von der, die nicht schrie, doch deren Schweigen erklang –
    Lena, die Treue, die Wandelnde, Weite.

    Nicht war es nur Klang, was von ihr geblieben,
    nicht Töne allein, die die Räume erfüllten,
    doch Haltung, Gespür, das kaum zu benennen –
    wie der Duft eines Sommers, der nie ganz vergeht,
    obgleich längst vergangen die Tage des Glanzes.

    In manchem Gesicht lebt ihr Blick noch ein wenig,
    in Stimmen erklingt eine Spur ihres Muts,
    und junge Talente, die Lieder ersinnen,
    berufen sich heimlich auf jenes Verlangen,
    das sie lehrte: Nur Wahrheit hat Dauer im Klang.

    Die Bühnen, sie tragen noch Schritt und Gestalt,
    die Städte noch Hauch ihres wandelnden Wesens.
    Nicht als Phantom – denn sie war nie entrückt –,
    sondern als Maß, als Möglichkeit, als Gewissheit,
    dass Klarheit auch Schönheit, dass Stärke auch Milde.

    Und selbst die, die kamen, als sie längst verstummt,
    sie hören im Klang ihrer Erben ihr Wehen.
    Denn nicht stirbt ein Lied, das aus Treue geboren,
    und nicht endet ein Werk, das aus Liebe sich gab.
    Es wandelt sich nur – und bleibt dennoch lebendig.

    So geht sie nicht fort, doch schreitet voraus
    in Spuren, die andere treten mit Achtung.
    Ein Leuchten im Dämmer, ein Ruf aus der Ferne,
    ein Zeichen, dass Kunst mehr vermag als nur Klang:
    Sie verwandelt, sie prägt – sie bleibt. Lena bleibt.

     

     

    LXIX. Von der Spur im Staub – Und der Lehre aus Licht

    Nicht alle, die wirken, sind Könige genannt,
    doch königlich wird, wer den Pfad selbst bereitet,
    nicht mit Trommeln und Schilden, mit Zepter und Macht,
    sondern mit Liedern, mit Fragen, mit Schweigen –
    mit dem, was in Herzen das Ewige rührt.

    Lena, die Wandelnde, ging ohne Heer,
    doch folgten ihr viele, nicht auf Befehl,
    sondern aus innerem Wissen um Echtheit,
    als trüge ihr Schritt das Gewicht einer Wahrheit,
    die sich nicht drängt – doch nimmermehr weicht.

    So stand sie, in tausend Erinnerungsstücken,
    nicht gesammelt, doch gegenwärtig in vielem:
    in einer Pose, so schlicht wie ein Schatten,
    in einer Geste, die sagt: Ich bin hier –
    nicht größer als ihr, doch bereit, euch zu führen.

    Die Jugend, die kam, nahm Maß an der Weite,
    nicht am Lärm, nicht am Prunk, nicht am Spiel,
    doch an jener behutsamen Kraft, die sie lehrte,
    dass Aufrichtigkeit glänzt – selbst ohne Geschmeide –
    und Würde nicht schreit, doch im Schweigen erscheint.

    Sie lehrte, dass Stärke nicht laut, sondern klar,
    dass Schönheit nicht glatt, sondern aufrichtig sei.
    Sie war keine Retterin, keine Prophetin,
    doch in ihrer Art, sich dem Wesen zu neigen,
    ward sie den Zeiten ein Gegenentwurf.

    So steht sie, die nie stand auf Sockel und Stein,
    nun doch aufrecht in Seelen und Sinnen.
    Nicht als Ikone, nicht Name allein,
    sondern als Spiegel, als Maß und als Mahnung:
    Verliere dich nicht – sei du selbst bis zuletzt.

    Und jene, die folgen, ob Sänger, ob Sucher,
    sie tasten nach ihr in den Schichten der Zeit.
    Doch Lena, die Lichte, verweilt nicht im Greifen –
    sie ruht in Bewegung, sie lebt in Versuch:
    Dem Lied treu zu bleiben. Dem Leben nicht minder.

    --

    "Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=
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    hal-croves
    אור

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    LXX. Von den Zeichen im Klang – Und dem Nachhall im Schweigen

    Nicht alles verweht, was gesprochen in Liedern,
    nicht alles vergeht, was aus Stimme entstand.
    Denn Lena, die Klangsame, hinterließ Spuren,
    nicht nur in den Ohren, nicht nur im Takt,
    sondern im Denken, im Träumen der Vielen.

    Ein Wort aus ihrem Munde – es wog wie ein Bild,
    ein Blick – wie ein Ruf über flüchtige Zeiten.
    Sie sprach ohne Prunk, doch mit Königsgemüt,
    und das Einfachste ward ihr zum Leuchten:
    ein Lächeln, ein Schweigen – wie Fackeln bei Nacht.

    Die, die sie hörten, bewahrten die Stille,
    welche ihr folgte wie Abend dem Tag.
    Sie trugen das Lied nicht nur auf den Lippen,
    sondern im Innern, wie einen Kompass,
    der zeigt, wo das Eigene wohnt – und das Wahre.

    Kein Ruf erscholl je wie der ihre,
    denn nicht nach Macht, nach Ruhm oder Gunst
    war ihr Verlangen – nur nach Klarheit des Herzens,
    nach jener Gestalt von Gesang, die nicht blendet,
    sondern wärmt, wenn die Winde sich kehren.

    Und so ward sie, die nie sich zur Göttin ernannte,
    doch wie eine gedeutet von jenen, die hörten,
    als Zeichen der Möglichkeit, Mensch zu sein
    in Anmut und Tiefe, mit Brüchen und Licht,
    ein Bild für das Wachsen – nicht für das Vollkommene.

    Der Nachhall bleibt, wenn das Lied schon verklungen,
    die Geste verweilt, wenn die Bühne sich leert.
    Und Lena, die Wandelnde, schreitet nicht mehr –
    doch in jeder Bewegung, die Sinn sucht im Klang,
    lebt ihr Schritt – und ihr Schweigen – aufs Neue.

     

     

    LXXI. Von der Form im Vergehen – Und dem Bleibenden im Bild

    Was bleibt von der Stimme, wenn keiner mehr lauscht?
    Was von der Geste, wenn Schatten sich senken?
    Nicht Marmor bewahrt, nicht Erz, nicht Papier –
    doch das, was berührt, und das, was verwandelt:
    ein Lied, das im Innern zum Echo sich wandelt.

    Lena, die Formende, schuf kein Denkmal aus Stein,
    doch ihr Wesen lebt fort in den Hüllen der Kunst:
    In Kleidern, die sprechen von Freiheit und Klarheit,
    in Bildern, die weinen, doch ohne Pathos,
    in Tönen, die flüstern, was Worte verschweigen.

    Sie war nicht die Erste, die Neues ersann,
    doch sie war die Eine, die Wandel vollzog
    mit einer Würde, die Wandel ertrug,
    nicht als Verlust, sondern als Versprechen:
    Dass Stil nicht verweht, wenn die Wurzel sich hält.

    So ward sie zur Figur, doch nicht zur Figurine,
    zum Ausdruck des Echtesten im vergänglichen Spiel.
    Und all ihre Bilder, all ihre Werke
    sind nicht nur Reflex, nicht nur Oberfläche,
    sondern Fenster zum Innersten, offenes Maß.

    In Gärten der Stille, auf Wänden der Städte,
    im Tasten der Jugend nach Wahrheit und Trost
    lebt Lena als Zeichen: nicht greifbar, doch leuchtend,
    nicht festgelegt – doch stets gegenwärtig
    wie ein Name im Traum, der noch nachklingt beim Erwachen.

    Denn was sie geschaffen – war nicht nur ihr eigen,
    sondern ward Teil derer, die fühlen und fragen.
    Und in diesem Teilen, im Geben des Seins,
    liegt das Geheimnis des Bildes, das bleibt:
    Nicht weil es vollendet – weil es bewegt.

     

     

    LXXII. Von der Rückkehr zur Quelle – Das Fürstentum der Lena

    Nicht alle, die herrschen, entstammen dem Adel,
    doch Adel erwächst, wo Bestimmung sich formt.
    Lena, die Schaffende, baute ein Reich,
    nicht aus Mauern und Zinnen, doch aus Gespür,
    aus Wissen, aus Kraft, aus dem Blick für das Ganze.

    Sie war keine Träumerin, fern von der Welt,
    doch Herrin des Wirkens mit messendem Sinn.
    Was sie ersann, war mehr als ein Hort
    für Lieder und Bilder – es war ein Gefüge,
    in dem Geist und Gewinn sich nicht schieden, nur trafen.

    Sie schuf sich ein Fürstentum, frei von Vasallen,
    doch reich an Talenten, an Mütigen, Weisen,
    die folgten nicht blind, noch aus schlichter Verehrung,
    sondern erkannten die Ordnung, die galt –
    ein Bund, der die Gabe zur Würde erhob.

    Kein Kaufhaus der Träume, kein Markt der Gefühle,
    doch ein Ort, wo das Wahre auch wirken darf.
    Denn Lena, die Klare, verstand es zu lenken,
    mit sicherem Sinn für das Maß der Verträge,
    mit Händen, die rechneten – und dabei schützten.

    Sie war Unternehmerin, weise und kühn,
    nicht Sprosse der Macht, doch Erbin des Mutes,
    zu bauen auf eigenem Grund und Gefüge,
    zu wagen den Schritt, den kein Fürst je gewagt:
    Die Kunst zu veredeln durch ökonomische Freiheit.

    Die Ziffern, sie standen nicht über der Seele,
    doch waren sie Diener in Lenas Palast.
    Denn sie kannte das Spiel und die Sprachen der Märkte,
    doch ließ sie sich nie vom Gewinn überformen –
    sie regierte das Gold, ohne ihm zu gehorchen.

    So wuchs aus der Sängerin eine Regentin,
    die nicht nur das Lied, auch die Mittel verstand.
    Und viele, die staunten, begriffen im Blick:
    Dies Reich war gebaut auf dem festen Entschluss,
    sich selber zu führen – in Klang und in Kasse.

     

     

    LXXIII. Vom Haus der Stimmen – Und dem Garten der Eigenen

    Sie hätte genügen können mit dem, was sie war –
    doch Lena, die Wachsende, suchte das Mehr.
    Nicht an Glanz, nicht an Glorie, nicht an Besitz,
    sondern am Wuchs derer, die kamen
    mit Liedern im Herzen und Furcht in den Händen.

    So ward ihr Gefüge nicht Festung allein,
    sondern ein Haus mit geöffneten Toren.
    Kein Tempel für Nachruhm, kein Denkmal aus Klang,
    sondern ein Garten, gepflegt und bestellt,
    für Stimmen, die sonst auf dem Felde verdorrten.

    Sie hörte sie, jene, die leise begannen,
    mit Tönen aus Schwermut, aus Trotz, aus Verzagen.
    Und Lena, die Starke, reichte die Schale,
    gefüllt mit Vertrauen, mit Wissen, mit Zeit –
    nicht als Gnade, doch als geteilte Erfahrung.

    Sie lehrte nicht, wie ein Meister doziert,
    noch zwang sie die Zarten in Formen der Starken.
    Doch wer in ihr Reich trat mit aufrechtem Blick,
    dem bot sie das Feld, den Klang, das Gefüge –
    ein Ort, um zu scheitern, zu suchen, zu sein.

    Denn sie wusste: Nur wer dem eigenen Lied
    sich stellt ohne Maske, gewinnt auch Gehör.
    Und so ward ihr Haus ein Hort der Beharrlichen,
    der Suchenden, Zweifler, der Zögernden auch,
    die sie aufnahm, nicht um sie zu formen –
    sondern, dass sie sich selber verstehen.

    Und viele, die gingen mit Zittern ins Licht,
    kehrten gestärkt, verwandelt zurück.
    Nicht Lenas Gestalt lag dann auf ihren Zügen,
    doch etwas von ihr klang fort in den Stimmen,
    die auf eigene Weise nun Welten bewegten.

    So wuchs, was sie gründete, still in die Breite,
    nicht laut, nicht gepresst, nicht durch Werbung entfacht.
    Ein Garten des Möglichen – fern von Systemen,
    geführt von der einen, die einst selber stand
    vor dem Nichts – und daraus ein Königreich hob.

     

     

    LXXIV. Von der Handschrift der Dinge – Und dem Maß im Verborgenen

    Nicht Worte allein, nicht Akkord und Reim
    genügten zu deuten, was Lena gegründet.
    Denn sie, die sang, erschuf mehr als Gesänge –
    ein Gewebe aus Blicken, aus Farben, aus Form,
    ein Muster, das stumm durch die Zeiten sich zieht.

    Man sah es nicht stets, doch empfand es sogleich:
    in der Stille vor Tönen, dem Licht auf der Bühne,
    dem Schnitt ihrer Kleider, dem Schritt auf dem Stein –
    in allem ein Maß, das nicht herrschte, doch ordnete,
    nicht zwang, doch dem Wesen gehorchte, das wirkt.

    Es war kein Stil, wie die Höfe ihn kannten,
    kein Etikett für das Spiel mit dem Neuen.
    Es war ein Gespür, das im Innersten wirkte –
    wie Linien im Marmor, vom Ursprung gezeichnet,
    die nur der erkennt, der mit Demut sich neigt.

    Und viele, die kamen, begannen zu lauschen:
    Wie Lena sich neigte – nicht um zu gefallen,
    sondern weil Schönheit sich findet im Hinhör’n.
    Sie lehrte durch Dasein, nicht durch Parolen,
    durch Haltung, nicht Predigt – durch Schweigen sogar.

    So ward, was sie lebte, zum Maß für die Dinge.
    Nicht Regel, nicht Schule – doch Autorität.
    Ein Streiflicht im Nebel, das Wege beleuchtet,
    nicht um zu lenken – um Raum zu eröffnen
    für jene, die wissen: Die Form trägt den Geist.

    Und dieses Gewebe, aus Eigenem gewebt,
    liegt heute auf jenen, die ihr sich verbinden –
    nicht als Last, nicht als Banner, nicht als Zwang,
    sondern als Frage: Was bleibt, wenn der Lärm sich verzieht?
    Vielleicht nur ein Ton – doch getragen von Sinn.

     

     

    LXXV. Vision – Licht, das bleibt

    Nicht ward sie gekrönt mit Diadem und Rubinen,
    nicht thronte sie je auf marmornem Stuhl,
    doch als sie entschwand in die Weiten der Stille,
    blieb mehr als ein Schatten, mehr als ein Klang –
    ein Leuchten, das schweigt, und doch alles durchdringt.

    Denn Lena, die Wandelnde, Lena, die sang,
    hinterließ keine Schule, kein leeres Gefäß.
    Sie gab keine Regeln, kein dogmatisch Gesetz,
    doch wer ihr begegnet, in Lied oder Geste,
    weiß plötzlich um Tiefe – und fragt nicht mehr laut.

    Sie war nicht die Erste, nicht einzig, doch ewig,
    sie war ein Strahl, der durchs Dunkel sich zieht.
    Nicht blendend, nicht stürzend – ein ruhender Schein,
    der wärmt, nicht verbrennt, der weist, nicht befiehlt,
    ein Licht, das auch dann noch die Richtung bestimmt.

    Und wer sich verirrte in Lärm oder Leere,
    dem reicht oft ein Ton, ein Satz, ein Gesicht.
    Nicht Lena als Bild, nicht Lena als Name –
    doch das, was sie meinte, was sie verkörperte,
    wie ein heimliches Siegel im Stoff unsrer Zeit.

    So endet das Lied nicht in Tönen und Reimen,
    nicht in Beifall, nicht Glanz – doch auch nicht im Schweigen.
    Es endet in Weite, in innerer Flamme,
    in einem: „Du kannst“, wenn das Dunkel sich naht –
    und vielleicht in dem Mut, sich selbst treu zu sein.

    Denn Lena, die sang, ward nicht aufbewahrt,
    nicht festgehalten in Rahmen und Stein.
    Doch unter den Stimmen, die in uns verwehen,
    bleibt ihre – als Flüstern, als Trost, als Beginn:
    Ein Licht, das nicht fragt – nur bleibt, wo du gehst.

     

     

    Résonances étendues
    Nachwort von George Sand

    I. Von Buxhoevedens Gesang – Die romantische Stimme des Nordens

    Es war im Jahre 1842, als ich, von Paris kommend, in das gastliche Haus der Familie von Buxhoeveden zu Reval gelangte – ein ferner Ort im baltischen Norden, umspült von den kalten Wassern der Ostsee, von melancholischer Schönheit und eigentümlichem Ernst. Dort, im Lesesalon des alten Herrenhauses, überließ man mir ein Konvolut von Papieren, gebunden in graues Leinen, mit Sorgfalt verwahrt wie ein Schatz aus einer untergegangenen Zeit. Die Tochter des Hauses, noch nicht zwanzig Jahre alt, hatte es verfasst: ein Gesang, ein Epos, eine Heldinnenvita – von Lena, genannt die Sang.

    Ich schlug die Seiten auf und las. Und mit jeder Strophe, mit jeder Wendung der Verse, schwand das Geräusch der Welt. Ich las und vergaß, dass ich im nebligen Reval war, dass draußen Pferdehufe durch das Pflaster schlugen, dass mein Tee kalt wurde und mein Gastgeber mir Fragen stellte. Ich las – wie man nur liest, wenn man erkennt, dass hier ein Werk spricht, das nicht bloß beschreibt, sondern verwandelt.

    Diese junge Frau, kaum dem Mädchenalter entwachsen, hatte in der Einsamkeit des Nordens etwas erfasst, was in den feinen Salons der europäischen Hauptstädte oft entgleitet: Wahrheit durch Gesang. Nicht jene Wahrheit, die sich in Thesen brüstet oder in Dogmen verkleidet, sondern die Wahrheit des Wesens. Eine Wahrheit, die sich nicht erklärt, sondern erscheint – in Haltung, Geste, Musik.

    Denn Lena, die deutsche Sängerin, die einst ein Lied sang vor Europas Augen, war durch das staunende Herz eines estländischen Mädchens zur Figur geworden, zur Legende, zur Heldin. Keine Heldin aus Schlachten oder Intrigen, sondern aus jenen Regungen, die das Leben verändern, ohne dass man den Moment bemerkt: ein Entschluss zur Stille, ein Blick, der sich dem Zwang verweigert, ein Lied, das nicht gefallen will, sondern heilt.

    Ich erkannte in diesem Gesang, was auch die Romantik, meine eigene geistige Heimat, stets gesucht hatte: das Einzelne, das zugleich alles meint; das Leise, das ewig bleibt; das Weibliche, das nicht gefügig, sondern gestaltend ist. In dieser nordischen Heldinnenerzählung – getragen von der Sprache der Antike, gehoben vom Geist der Moderne – keimte eine neue Stimme auf. Und diese Stimme war weiblich. Nicht sanft, nicht hart, sondern tief. Und frei.

    Was mich am meisten bewegte: Die Dichterin forderte nichts. Sie rief nicht zum Kampf, nicht zum Widerstand, nicht zur Revolution. Und dennoch war alles in diesem Werk ein Aufbegehren – gegen das Vergessen, gegen die Vereinfachung, gegen die Entwürdigung des künstlerischen Selbst. Sie schrieb von Lena – aber sie meinte jede.

    Und so erkannte ich, dass Buxhoevedens Gesang nicht nur ein Epos war, sondern ein Brief an die Zukunft. An jene Zukunft, in der Künstlerinnen nicht mehr fragen, ob sie sprechen dürfen – sondern es einfach tun.

     

     

    II. Lenas Aufstieg – Gesang als Auflehnung gegen das Vergessen

    Wenn je ein Gesang mich ergriff wie ein Strom, der von göttlichen Quellen herniederfließt, so war es dieser, den das junge baltische Mädchen mit so zarter wie unbeirrbarer Feder von Lena, der Tochter des Nordens, niederschrieb. Ein Wesen, das ihr kaum erschienen war, wie sie selbst bekennt, in einem Traumbild voll fremder Zeichen und gleißendem Licht – und doch stark genug, um ihr ganzes Denken, ja ihre Daseinsrichtung zu wandeln.

    Wie seltsam dies scheint – und doch, ist nicht jede wahre Berufung ein solches Wunder?

    Die Gestalt Lenas, wie sie in den frühen Gesängen erscheint, ist nicht die eines gewöhnlichen Idols. Kein Kind aus Palästen, keine Lieblingin der Hofdamen, keine mit Pfründen gekrönte Muse eines Fürsten. Sondern ein Mädchen, das dem bürgerlichen Dunkel entstammt, gleichwohl vom Schimmer einer inneren Bestimmung umflossen. Schon ihre Geburt im Norden – eine Art Erwählung, nicht durch Blut, sondern durch Wesen. Ein Mädchen von eigenem Geist, ein klangvolles Kind, das nicht beirrt ward vom Getöse der Welt.

    Die Dichterin, Constanze genannt, schildert nicht die üblichen Stufen eines bürgerlichen Werdegangs. Sie erzählt von einer Sendung – einer Berufung zum Klang. Nicht durch Zufall, sondern wie durch göttliche Ironie wird Lena zur Stimme ihres Landes erwählt, ausgesandt, um Lieder zu tragen wie Gesandte einst Briefe des Friedens. Und ihr Lied, „Satellite“, wirkt in den Versen wie eine Erscheinung, die mit leichter Hand das Schicksal berührt.

    Der Sieg in Oslo – er wird nicht als Triumph gedeutet, sondern als Offenbarung. Lena steht nicht wie Cäsar, der kam, sah und siegte, sondern wie Antigone, die schlicht tat, was ihr geboten schien – und gerade darin über die Maßstäbe der Welt hinauswuchs. Ihre Stärke liegt in der Weigerung, sich zu vermessen. In ihrem Blick, der das Fremde nicht verleugnet, sondern umfasst.

    Doch was mich am tiefsten rührt, ist nicht der Jubel, nicht die Doppelkrönung, nicht die Gunst des Volkes. Es ist das Innehalten. Die Wendung nach innen. Die Dichterin beschreibt, wie Lena, nach dem zweiten Triumph, nicht in den Rausch verfällt, sondern in die Stille tritt. Wie eine Priesterin, die das Feuer hütet, nicht für den Lärm der Menge, sondern für die Wahrheit selbst.

    Denn, so heißt es: nicht der Ruhm, nicht die goldenen Zahlen geben Bestand, sondern das Innerste selbst. Was für ein Gedanke – dass ein Mädchen, gerade erst dem Kindesalter entwachsen, dies erkennt und ihm folgt!

    So wird Lenas Aufstieg zu mehr als einer Geschichte von Klang und Erfolg. Er wird zum Gleichnis. Ein Aufstieg, der nicht nach oben zielt, sondern nach innen. Kein Drang zur Herrschaft, sondern zur Wahrheit. Kein Pomp, sondern Einkehr.

    Darin liegt ihr Widerstand gegen das Vergessen. Denn vergessen wird, was schreit – nicht, was schweigt. Lena, wie sie aus dem Gesang hervortritt, ist keine Heldin des Triumphs, sondern des Maßes. Und das Maß, o Leserinnen, ist selten in diesen Tagen.

    Mag die Zeit kommen, da man ihren Namen nicht mehr weiß – doch der Gesang, der aus ihrer Wahrheit geboren ward, wird bleiben.

     

     

    III. Ästhetik des Schweigens

    Was mich, beim fortgesetzten Lesen dieser außergewöhnlichen Gesänge, am tiefsten bewegt, ist nicht das Erzählte, sondern das Ausgelassene. Zwischen den Strophen, in den Pausen, im Zögern der Verse liegt eine Kraft, die mächtiger spricht als jedes Lob, jede Anrufung, jede Heldentat: das Schweigen.

    Schon in den frühen Gesängen, die von Lena im Glanz zweifacher Wahl zur Gesandten Europas künden, wird deutlich, dass ihre Größe sich nicht in den Fanfaren des Sieges erschöpft. Lena singt, ja – aber sie singt nicht, um zu glänzen. Sie spricht, aber nicht, um zu herrschen. Vielmehr ist ihr Ausdruck eine Entäußerung, ein Preisgeben des Innersten – und zugleich eine Weigerung, sich ganz preiszugeben.

    Die Poetin Constanze hat dies mit bewundernswerter Behutsamkeit gefasst. Sie beschreibt eine junge Frau, die sich zurückzieht, kaum dass der Jubel verklungen ist. Nicht aus Furcht. Nicht aus Hochmut. Sondern aus einem tiefen Bewusstsein für das rechte Maß. Für das Maß zwischen Gabe und Grenze, zwischen Sichtbarkeit und Wahrung.

    Und wie meisterhaft wird im späteren Verlauf, nach Jahren stiller Wandlung, eine Reise geschildert – nicht in Länder, sondern in Zustände. Von Deutschland nach Japan führt der Weg der Lena, doch der Raum, den sie dabei durchschreitet, ist ein innerer. Die fernen Hallen, das Papierhaus der Weisen, die fremden Meister, die sie erkennen, ohne dass ein Wort gewechselt wird – dies alles ist nicht bloß Szenarium. Es ist Gleichnis.

    In Japan, so deutet die Erzählung es an, begegnet Lena nicht nur dem Anderen, sondern auch sich selbst – in einer Form, die jenseits des Ausdrucks liegt. Der Gesang „Von der Audienz im Haus aus Papier“ ist für mich der kristalline Mittelpunkt des ganzen Epos. Denn hier wird nichts behauptet. Hier ereignet sich nur – mit der Zartheit eines Herbstblattes auf ruhendem Wasser.

    Kein Ton wird gesungen. Kein Tanz getanzt. Und doch ereignet sich etwas Höheres als Musik: Gegenwart. Wesen. Wahrheit.

    In jenem poetischen Moment, da Lena einfach steht, und alles gesagt ist, was Klang, Bild und Schrift vergeblich suchten, offenbart sich, was ich die Ästhetik des Schweigens nennen möchte. Eine Ästhetik, die nicht verneint, sondern übersteigt. Die das Lied nicht abschafft, sondern ihm seine höchste Würde gibt – die Würde des Verstummens im rechten Moment.

    Es ist dies nicht die Schweigsamkeit der Schwäche, sondern jene der Vollendung.

    Und so erscheint Lena – nicht als Sängerin allein, sondern als Seherin. Eine, die durch das Medium des Gesangs hindurchgegangen ist, um schließlich im Schweigen selbst zur Botschaft zu werden.

     

     

    IV. Das Album der Klarheit – Loyal To Myself als Selbstporträt

    In jenen Gesängen, die vom Rosssturz der Heldin berichten – dem jähen Stillstand, dem Riss im Lauf des Daseins –, gewinnt eine neue Bewegung an Tiefe: jene der Einkehr. Sie erzählen nicht nur vom körperlichen Schmerz, sondern von einer Erschütterung der Welt, wie sie nur jenen widerfährt, deren Leben zuvor ganz dem äußeren Licht verpflichtet war. Die Wunden, von denen die Verse künden, liegen tiefer als der sichtbare Fall.

    Und doch ist es nicht das Verstummen, das herrscht, sondern das langsame Erwachen eines neuen Ausdrucks. In der Dämmerung – ein wiederkehrendes Bild – beginnt die Heldin zu schreiben. Dies Schreiben geschieht nicht im Überfluss, sondern aus einem Zustand der Reduktion, ja der Askese. Kein Publikum ruft, keine Bühne wartet; und gerade darum gebiert sich aus der Stille ein Werk, das ganz der Innerlichkeit gehört.

    Die Verse verraten nur das Äußerliche: dass eine Liedersammlung entstehe, dass sie aus dem Geist dieser Prüfung hervorgeht und Loyal To Myself heißen werde – ein Titel, der wie ein Schwur aus dem Schatten tritt. Dieses Album, dessen Inhalt den Lesenden der Gesänge verborgen bleibt, erscheint doch als etwas zutiefst Eigenes, als eine Gestaltwerdung des durchlebten Schmerzes, der Geduld, der Rückkehr zum eigenen Ursprung.

    Die Gesänge lassen erahnen, dass Lenas Lieder nicht leicht geboren werden. Es ist keine Muse, die sie der Heldin in den Schoß legt. Vielmehr ringt sie mit ihnen, wie Jakob mit dem Engel rang. Und so lesen sich diese Gesänge nicht als Vorbereitung auf eine neue Liedersammlung, sondern als Zeugnis einer geistigen Wandlung. Aus der Abwesenheit des gewohnten Lärms entsteht ein Raum, in dem das Wahre gesprochen werden kann – wenn nicht laut, so doch unverrückbar.

    So ist Loyal To Myself im Rahmen dieser Dichtung kein Artefakt des Ruhms, sondern ein Selbstbildnis im Zustand der Prüfung. Es spiegelt nicht das Bild, das andere von der Heldin haben mögen, sondern das Bild, das sie in der Dunkelheit von sich selbst zu zeichnen beginnt. Ein Album nicht für den Markt, sondern für die Wahrheit.

     

     

    V. Epilog – Weibliche Geschichtsschreibung in einer Welt aus Lärm

    Was bleibt, wenn das Geschehen vorüber ist, wenn der Klang, der einst die Menge bewegte, verstummt – oder sich doch zurückgezogen hat in jene Sphäre, wo nur noch das Erinnern Zugang findet? Die Antwort, die der Heldinnengesang auf diese Frage gibt, ist keine Antwort im herkömmlichen Sinn. Sie ist keine These, kein moralischer Schluss. Sie ist: eine Gestalt.

    Diese Gestalt ist Lena. Nicht als Frau, die sang – sondern als Sängerin, die Frau war. Als Subjekt einer Erzählung, die sich nicht an äußeren Heldentaten misst, sondern an der inneren Unversehrtheit, die durch Schmerz hindurch bewahrt bleibt. Was hier erzählt wird, ist nicht die Chronik einer Karriere, sondern die Chiffre einer Haltung: zu sich selbst, zur Welt, zur Wahrheit.

    In einer Zeit – auch meiner – in der die Stimme der Frau sich immer wieder gegen das Raunen der Geschichte behaupten musste, ist das allein schon ein Akt von revolutionärer Bedeutung. Diese Heldin wird nicht durch Männer beschrieben, nicht durch das Urteil von Dichtern oder das Begehren der Masse. Sie schreibt sich selbst – durch ihren Gesang, durch ihre Entscheidung zum Rückzug, durch die Klarheit ihres Tuns.

    Der Heldinnengesang, der ihre Geschichte überliefert, ist daher mehr als eine poetische Aufzeichnung. Er ist ein Versuch, weibliche Geschichte mit einer Würde zu versehen, die nicht laut sein muss, um zu bestehen. Seine Verse wählen nicht das Spektakel, sondern die Stille; nicht das Monument, sondern das atmende Wort.

    Mögen dereinst jene, die diesen Gesang lesen, darin nicht nur eine Frau erkennen, die ihrer Zeit voranschritt, sondern auch eine Sprache, die geeignet ist, weibliches Dasein in seiner ganzen Tiefe zu fassen – jenseits von Mode, Glanz und Urteil. Eine Sprache, die nicht lügt, weil sie nicht gefallen will. Eine Sprache, die bleibt, weil sie das Herz berührt.

    So endet dieser Versuch, Zeugnis zu geben. Nicht als Nachruf, sondern als Bestätigung: dass das Wahre, einmal ausgesprochen, nie mehr zurückgerufen werden kann.

    George Sand
    Nohant, im Winter 1853

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    "Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=
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    mozza
    Captain Fantastic

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    Das ist des Wahnsinns fette Beute.

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