Antwort auf: Lesefrüchte

#12511671  | PERMALINK

hal-croves
אור

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XL. Von der Heimreise durch den Himmel

Noch lag über Kyoto der schwimmende Tag,
in Gärten aus Licht klang das Zittern der Zweige,
die Zikade schlief, und die Kraniche zogen
ein letztes Mal ihre Bahnen im Schweigen,
als Lena entschwand – nicht gehend, nicht bleibend.

Die Tore des Tempels, im Abend geöffnet,
verneigten sich leise, als ahnten sie schon,
dass eine Gestalt, die im Irdischen wandelte,
nun heimwärts kehre auf Wegen aus Wind,
die keiner benennen, nur fühlen vermag.

Ein Wesen erschien, aus dem Glanz ferner Nächte,
nicht Vogel, nicht Schiff, doch von schimmernder Hülle,
als wär es gesponnen aus Dunst und Gedanken,
aus jenem Stoff, der im Übergang lebt
zwischen Erwachen und träumendem Blick.

Kein Ruf ward getan, keine Zeichen gegeben,
doch alles versammelte sich wie von selbst:
die Alten am Brunnen, die Kinder beim Wasser,
die Mönche im Schweigen, die Gärtner im Moos –
und sahen empor, ohne Fragen im Blick.

Da wandte sie sich – doch sie stieg nicht empor,
kein Schritt war zu sehen, kein Greifen, kein Gleiten;
es war, als ob Raum sich um ihre Gestalt
verschob und sie sanft in das Schweben entließ,
ein Übergang still wie der Hauch eines Worts.

So stieg sie hinauf durch das atmende Blau,
durch Wolken, die staunten, durch Wind wie aus Seide,
empor zu den Fernen, aus denen sie kam,
und ließ, was gewesen, im Schweigen zurück –
ein Echo aus Licht in den Zweigen der Stadt.

 

 

XLI. Vom göttlichen Ratschluss

O Muse, du dunkle, du Tochter des stummen Entzückens,
die du im Schatten der Lorbeerhaine erwachst
und den Schleier des Tags mit goldener Hand uns lüftest –
komm und enthülle, was keinem der Sterblichen klar:
warum die Himmlischen jene, die lichtesten Gaben empfangen,
dennoch dem Schmerz und der Prüfung sich neigen befahlen.

Denn Lena, die Strahlende, Ruhige, Hochaufgerichtete,
die mit dem Klang ihrer Stimme die Stille durchdrang,
kehrte erhoben zurück aus fernem Gefilde der Wunder,
um daheim zu empfangen das Mahnwort des Himmels –
nicht mit Donnern gesprochen, nicht eingraviert in Gewitter,
sondern im Flüstern des Unfalls, das Schicksal verheißt.

War’s eine Laune der Moiren, ein Winken aus ältester Tiefe?
Oder des Einen Gedanke, der alles umfasst?
Warum das Gefäß, das aus Klarem bestand und aus Stärke,
sollte zerbrechlich nun werden, gefüllt mit Gefahr?

O Muse, wenn du es weißt, so gib mir ein Wort in die Feder,
aber nicht kalt und erklärend – vielmehr als Gesang.
Denn Lena, der hellste Kristall in der Krone der Zeit,
wurde berufen, das Echo des Leids zu umarmen,
nicht als Strafe – als Zeichen, dass Licht sich dem Dunkel nicht scheut.

 

 

XLII. Vom Sturz und der Stunde der Schmerzen

War es ein Tag wie die andern? Der Himmel in heiterem Blau,
das Licht milde fallend auf Hügel und Weiden im Sommer,
die Luft leicht bewegt wie das Kleid einer Göttin beim Wandeln?
So hob sich die Stunde, in der Lena sich hob.

Sie bestieg jenes Ross, das des Menschen Gedanken erahnt,
nicht gezähmt, doch vertraut, nicht wild, nur lebendig im Innern,
ein Geschöpf voll Bewegung, von Schönheit durchzogen wie Klang,
ein Mitspieler jenes Balletts, das die Erde mit Himmel vereint.

Mit festem, doch leisem Befehl ließ sie es tanzen und fliegen,
über das Feld wie ein Pfeil, von der Freude gezündet,
doch dann – wie geweckt durch ein Flüstern aus fremder Dimension –
begann es zu stürmen, zu drängen, zu fliehen vor nichts.

Sie rief, sie zog an den Zügeln mit Stimme und Wille,
doch das Ross war entfesselt, war Flamme, war Trieb ohne Ziel.
Und der Boden entschwand, und der Wind wurde Messer und Trommel,
und Lena, die Hohe, ward Opfer der Kräfte, die sie entfesselt.

Ein Stoß durch den Leib, wie von göttlicher Faust durchdrungen,
ein Fliegen, ein Fallen, ein Bruch wie ein Riss in der Zeit.
Dann Stille – ein Laut ohne Klang – und der Körper zerstäubt in den Schmerz,
und das Denken zersplittert in Angst, in Ohnmacht, in Not.

Ein Schatten durchwob ihre Sinne, kein äußerer – innerer war es,
ein Verstummen des Selbst, ein Versinken ins bodenlose Fragen:
War dies das Ende des Tanzes? Verklang nun der Leib aus Musik?
War der Befehl ergangen, zu schweigen – auf ewig, im Fleisch?

Sie wagte nicht, ihre Glieder zu rufen, zu zwingen zum Zeugnis,
denn die Furcht vor der Antwort war schärfer als Schmerzen und Schrei.
Im Rücken das Beben der Glieder, im Schoß ein unbekannt Schweigen,
und die Zeit ward zu Glas, in dem jeder Gedanke sich schnitt.

Die Stimmen ringsum – waren fern wie Gesänge der Tiefe,
das Licht – war nur Blendung, der Himmel – ein Tuch ohne Trost.
Und in ihr erwuchs eine Stille, so kalt, dass die Hoffnung sich barg,
wie ein Tier unter Blättern beim Nahen des jähen Verhängnisses.

Doch da, in der Mitte des Schmerzes, wo selbst das Gebet nicht mehr klingt,
begann etwas zu regnen – kein Wasser, kein Wort, nur ein Warten.
Und wie das Ross einst sich losriss, so hielt nun das Dunkel sie fest.
Noch war nichts gesagt, nichts entschieden – nur Schweigen, nur Schwelle.

 

 

XLIII. Von der leisen Stimme der Hoffnung

Nicht war es das Licht, das zuerst sich zeigte im Dunkel,
nicht war’s ein Erlöserwort, das durchs Schweigen schnitt,
nicht Linderung noch der Beginn einer Wende –
nur war es ein Flüstern, ein kaum noch vernehmbarer Hauch.

Wie einer, der wandelt im Schlaf durch Hallen des Schmerzes,
so lag sie, gefaltet im Leib, doch nicht ganz zerdrückt.
Ein Schatten im Innersten regte sich, leiser als Tränen,
ein Vibrieren, so zart, dass es kaum zu denken vermochte.

Es war kein Gedanke – zu schwach war der Wille zum Denken.
Es war auch kein Bild – zu matt das Gedächtnis, zu fern.
Doch war’s wie ein Laut, aus uralter Tiefe geschöpft,
der, namenlos, dennoch ihr eigenes Lied einst gewesen.

Nicht sang sie – noch war ihr der Klang aus dem Körper vertrieben,
doch horchte sie auf das, was in ihr wie Erinnerung stand.
Ein Funke war’s nur, vom Sterben nicht ganz noch verschluckt,
ein Rest eines Lichts, das durch Schmerz sich die Richtung behielt.

Die Stimme der Ärzte erklang wie durch Schleier von Watte,
als sprächen sie fern aus dem Rand einer anderen Welt.
„Gebrochen, doch heilbar“ – so fiel ihr ein Wort in die Seele,
und sie wusste nicht: war es Trost oder weiteres Warten?

Doch anders als früher, da alles in Klarheit ihr folgte,
vermochte sie jetzt das Nichtwissen still zu ertragen.
Nicht Hoffnung – doch etwas, das Hoffnung einst hätte genannt,
ein Ahnung, dass selbst in der Ohnmacht ein Grund sich verberge.

So sank sie zurück in die Schwärze, doch nicht mehr allein –
denn eine Gestalt, unbenannt, war ihr innerlich nah.
Nicht göttlich, nicht menschlich – nur treu wie das Atmen im Schlaf,
und sie wusste: Noch bin ich verwundet – doch bin ich bewahrt.

 

 

XLIV. Von der Geduld der Tage

Nicht springt der Genesung Licht wie ein Feuer empor,
nicht fährt es herab wie ein Blitz aus himmlischer Höhe.
Es tropft, wie das Wasser in Zisternen fällt –
und lehrt das Zählen dem, der vergessen hat Zeit.

Die Tage, sie kamen, doch kamen nicht anders als Schmerzen,
sie trugen nicht Glanz, sondern Gewicht auf den Schultern.
Die Stunden gedehnt wie auf Folterbank zäher Minuten,
und jede Bewegung ein Wagnis, ein stilles Verhör.

Ein jeder, der wacht in den Nächten der schmerzhaften Stille,
lernt Hören mit Sinnen, die keine Ohren mehr meinen.
So horchte auch sie, Lena, auf das, was nicht sprach –
auf das Knarren des Betts, das Zittern im Atem, das Fernsein.

Ein Blick durch das Fenster, das weiß war von Milchglas und Schweigen,
ein Ast, der sich regte im Wind, der nicht kam –
so lernte sie wieder das Kleine zu sehen, das bleibet,
wenn alles, was groß schien, im Fallen verrauscht.

Die Finger, zuerst wie aus fremdem Gewebe bestehend,
erlangten zurück eine Spur ihres Willens.
Das Kreuzbein, gebrochen, doch nicht zertrümmert im Grunde,
sprach schüchtern: Ich trage – noch trage ich dich.

Und niemand – nicht Ärzte, nicht Pfleger, nicht Mutter, nicht Freund –
vermochten das Maß dieser Wandlung zu fassen.
Denn außen war wenig; es schien wie zuvor, wie bei vielen.
Doch innen, da schrie es: Ich lerne zu sein – durch das Warten.

So ward jeder Tag wie ein stilles Gebet ohne Worte,
ein Fühlen des Körpers als Tempel und Last.
Und Lena, die sang, ohne Stimme, allein mit dem Innen,
erkannte im Schmerz einen Rhythmus, der nicht ihr gehörte.

Doch siehe – am Ende des vierzigsten Tages der Prüfung,
als keiner mehr fragte: Wann endet das Leid?,
stand sie auf, nicht wie früher, doch aufrecht im Innern,
und wusste: Die Muse hat nicht nur das Lied, auch das Schweigen geschenkt.

 

 

XLV. Von der Genesung im Halbdunkel

Ein Tag, dann ein zweiter – und keiner war hell.
Die Sonne stand draußen, doch drang nicht herein
in das Dämmergemach, wo Lena nun lag,
der Leib noch von Schmerzen durchdrungen, das Herz
in zögerndem Takt, wie im Traum aus Kristall.

Die Stunden verrannen wie tropfende Tinte,
kein Singen, kein Schweben, kein Tanz über Stein –
nur Atmen und Warten, ein Liegen im Kreis,
wo Gedanken sich drehten wie Mühlen im Wind
und Fragen sich schichteten, schwer wie das Licht.

War dies noch der Körper, der Lieder getragen?
War dies noch das Ich, das vor Tagen noch sang?
War sie nun gefallen – und wem ward sie nütze?
Ein Schatten, ein Seufzen, ein Rätsel aus Schmerz,
und nichts, was die Götter erklärten mit Wort.

Doch dann, in der Ecke, ein Laut wie von Fäden:
Ein Vogel, der zwitscherte, leis wie im Schlaf.
Ein Hauch fuhr durchs Fenster, als reiche ein Geist
ihr Linderung dar, nicht mit Händen, mit Schweigen –
ein erstes Erbeben, dass Leben noch war.

So hob sie den Blick nicht, doch ließ sie ihn ruhn,
nicht suchend, nicht flehend – doch offen für Wandlung.
Ein Ton in ihr regte sich, tief und verhalten,
wie Wurzeln, die tasten im dunklen Gestein,
nicht wissend, ob Morgen, doch fähig zu Sein.

Und draußen, unsichtbar, zogen die Stunden.
Die Welt war dieselbe, doch Lena war’s nicht.
Noch lag sie im Halbdunkel, stumm wie ein Schrein –
doch irgendwas kehrte zurück in ihr Lied,
ein leises, geduldiges, zitterndes Bald.

 

 

XLVI. Vom langsamen Wiedererstehen

Kein Wunder geschah, kein greller Moment,
kein Engel erschien mit flammendem Flügel.
Nur Stille, die wuchs. Nur Atem, der lernte.
Nur Sehnen, das tastend zurück in den Leib
fand, was er war – verletzlich und wahr.

Sie zählte nicht Tage. Sie maß sie in Blinken:
Wenn morgens das Fenster sich heller verfärbte,
wenn abends das Mondlicht in Falten fiel.
Die Welt sprach in Zeichen, verschwiegen und sanft,
und Lena vernahm sie – wie einst, nur ernster.

Ein Finger, der hob sich. Ein Ellenbogen,
der Raum in der Decke des Schweigens erspürte.
Dann knirschte ein Knochen. Ein Schmerz war ein Lied.
Und keiner der Töne war süß, doch sie sangen –
ein Zwitschern der Nerven, ein Echo der Kraft.

Sie dachte an Flüsse, an Ströme im März,
an Wasser, das langsam das Eis überwindet.
So war auch ihr Leib: kein stürmender Held,
doch kehrend, auf Umwegen, in seine Form –
nicht die alte, doch eine, die trägt.

Einmal, da saß sie. Kein Glanz ging von ihr aus,
kein Donner des Ruhms, nur ein schlichter Moment.
Doch als sie sich aufrichtete, leicht noch gebückt,
war’s, als würde ein Stein, der gesunken, nun steigen –
aus Tiefen, die keiner so kannte wie sie.

Und niemand verstand, was dies Atmen nun hieß,
was für Preis sie entrichtet, wie leise sie fiel.
Doch Lena, die kniende, Lena, die strebte,
war mehr nun als Sängerin, Tochter, Gestalt:
Sie war, was sie war – und das reichte dem Licht.

 

 

XLVII. Vom Reifen im Schweigen

Nicht eilte der Tag. Nicht drängte das Ziel.
Die Zeit, sie zerfiel in tastende Stunden,
in Blätter von Schweigen, die lautlos sich legten
auf Stirn und Gedanken, auf Glieder und Mut.
Geduld war ihr Lehrer, und Schweigen ihr Schwur.

Die Wunden, sie schrien nicht mehr, doch sie blieben.
Ein Ziehen, ein Mahnen in nächtlicher Ruh.
Ein Körper, der zögernd sein Maß neu vermisst –
nicht Schwäche war’s, was da pochte in Sehnen,
es war nur Erinnerung, scharf und gerecht.

Die Stimme, einst Flamme, war kaum noch ein Hauch.
Ein Flüstern nur, brüchig, auf zitterndem Grund.
Doch Lena, geübt in der Sprache der Schatten,
nahm auch dieses Stammeln als Teil ihres Lieds –
nicht minder an Schönheit, nur tiefer an Klang.

So lernte sie wieder zu stehen, zu blicken,
die Welt nicht zu meistern, doch offen zu tragen.
Was einst wie ein Podest ihr zu Füßen lag,
war nun eine Schwelle – aus Demut gebaut,
die sie nicht erniedrigt, doch würdigt, wer geht.

Man sah sie mit Büchern. Man sah sie allein.
Man sah sie mit Wind, mit Gedanken, mit Licht.
Und wer sie erkannte, verstand nicht sofort –
doch ahnte: Dies Warten, dies sanfte Ertragen
ist Quelle von Liedern, die niemand je sang.

Und Lena, die Wachsame, Lena, die Stille,
war nicht mehr dieselbe, und doch ganz sie selbst.
Inmitten von Schmerzen, inmitten der Ruhe
reifte ein Etwas, das größer als Ruhm –
ein Ton, der nicht tönt, und doch alles durchdringt.

 

 

XLVIII. Wie Lena im Halbdunkel zu dichten begann

Es war keine Stunde, kein Tag, kein Beginn,
der rief: Nun, erhebe die Stimme von neuem!
Es schlich sich heran wie ein scheuer Gedanke,
ein Schimmer im Grau, ein Echo im Staub,
das sang, ehe Worte geboren sich wussten.

Die Fenster beschlagen, die Welt noch im Schlaf –
doch Lena saß still mit der Stirn in der Hand.
Kein Plan war gefasst, kein Werk vorgezeichnet,
doch innen ein Drängen, ein Tasten, ein Lauschen,
als wolle das Leben sich selber vernehmen.

Ein Satz, nur geflüstert. Ein Bild, kaum geformt.
Ein Reim, der sich legte wie Tau auf das Blatt.
Sie schrieb nicht, um Geltung. Sie schrieb nicht, um Klang.
Sie schrieb wie im Traum, den der Schlaf ihr entzog,
und fand sich am Ende als Zeugin des Lichts.

Die Verse, sie kamen in zögerndem Schritt,
nicht stolz wie der Chor, nicht fest wie das Maß –
doch treuer vielleicht, denn sie bargen das Schwanken,
das Ringen mit Wahrheit, das Zögern vorm Ton,
der zitternd sich dennoch dem Schweigen entrang.

Was niemand sah, war das Feuer im Stillen,
das glomm unter Asche, doch glühte im Grund.
Sie mied noch die Bühne, doch nicht mehr das Lied,
und wagte ein Fragen, das Antwort gebar,
im Dunkel, das heilig war, nicht mehr nur leer.

Die Dämmerung wurde ihr Werkstatt und Ort,
der Morgen ein ferner, doch fühlbarer Freund.
Und Lena, die lange dem Licht misstraut,
ließ Worte sich fügen wie heilende Hände
zu Zeilen, die zaghaft am Künftigen bauten.

So wuchs aus dem Schweigen ein leiser Gesang,
noch fern von den Platten, noch fern von der Welt,
doch nah dem, was Wahrheit im Innersten meint –
ein Lied, das sich selbst erst im Werden verstand,
und Lena, die Dichterin, stand ihm zur Seite.

 

 

XLIX. Wie das Schweigen die Lieder gebar

Nicht Eile, nicht Takt, nicht der Stunde Gebot
gab Maß diesem Werden. Es wuchs aus dem Nichts,
aus Schmerzen, aus Pausen, aus Nächten mit Fragen,
aus Augen, die starrten, doch innen noch sahn,
was jenseits der Grenze sich formte als Klang.

Der Leib noch gebrochen von innigem Schweigen,
die Stimme noch zögernd, das Atmen beschwert –
doch innerlich reifte ein neues Vertrauen,
ein leises Empfinden, dass niemand sie trug,
nur sie selbst, durch ein Lied, das noch nicht erklang.

Sie sang nicht laut – nein, sie flüsterte Töne,
so leise, dass selbst ihre Seele sie scheu
und staunend vernahm, als wär’s nicht ihr eigen,
sondern ein Hauch aus der kommenden Zeit,
verweht ihr vom Schweigen der fernen Gefilde.

Und dennoch: Die Strophen, sie wuchsen empor,
wie Halme im Halbschatten, zart, doch bestimmt.
Sie sprach nicht von Glanz, sie klagte nicht Schmerz –
sie fragte nach Sinn, nach Wahrheit, nach Halt,
und nannte das Lied nicht, doch wusste: es lebt.

Die Zimmer in Dämmerung, kühl und verschwiegen,
der Blick in den Himmel, der langsam verglomm –
dort saß sie und schrieb, nicht nach außen, nach innen,
als wär in dem Schweigen ein göttlicher Takt,
der fern aller Bühne den Herzschlag empfing.

Ein Notizbuch, zerlesen. Ein Stift, der oft stockte.
Ein Ton, der versagte – und dennoch bestand.
Denn Lena, die lange sich selbst überhörte,
lauschte nun selbst, und das Lied, das sie fand,
war nicht für die Welt – es war für das Sein.

So kehrte sie heim, nicht in Häuser und Hallen,
nicht auf die Leinwand der glänzenden Welt –
sie kehrte zurück in ihr innerstes Singen,
und schrieb sich mit jeder gedämmerten Zeile
ein wenig mehr frei – und ein wenig mehr wahr.

 

 

L. Der Ruf der Stunde

Einmal – nicht laut – sprach die Stunde zu ihr,
mit einem Licht, das kein Fenster mehr brauchte.
Es kam aus der Tiefe, aus Tagen, die schwiegen,
aus Nächten, da niemand zu ihr noch sprach –
nur das Lied, das nun endlich geboren sein wollte.

Nicht drängend, nicht rasch, wie sonst sie gewohnt,
wenn Welt an ihr zerrte mit lärmender Hand.
Dies war ein Rufen aus innerem Maß:
ein Takt, der nicht zählt, ein Rhythmus, der trägt,
und Lena vernahm ihn mit aufrechtem Blick.

Sie stand. Noch nicht fest, doch schon ohne Wanken.
Sie trat aus dem Raum, der Genesung geheißen,
und ließ ihn zurück wie ein heiliges Zelt,
das ihr diente zur Wandlung, zum Sehen, zum Sein –
doch nun war die Stunde gekommen zum Gehen.

Sie trug in der Hand nicht Lorbeer noch Leier,
nicht Glanz, nicht Geräusch – nur das eine, das galt:
ein Lied, das aus Dunkel ins Dasein sich bog,
wie eine Knospe aus taufrischem Grau,
erschüttert vom Sturm, doch bereit für das Licht.

Und draußen, da horchte ein Wind auf die Stille,
ein Ast senkte sich, als begrüßte er sie.
Ein Vogel verstummte, dann sang er erneut –
nicht wie zuvor, doch in anderem Ton,
als wüsst’ er: Das Lied ist nun da. Und sie auch.

 

 

LI. Vom Bild aus innerem Klang

Da sie nun stand – nicht mehr gebrochen,
doch geprüft wie das Eisen im Glutbett der Zeit –,
sah sie die Stunde nicht als Beginn,
sondern als Prüfung des ersten Entwurfs:
Was sie sang, das war sie – nichts weniger.

Nicht mehr genügte das Liebliche, Lockende,
nicht mehr das Spiel mit dem zitternden Licht.
Sie wollte das Wort, das dem Wesen entspringt,
den Ton, der nicht schmeichelt, doch trägt,
wie ein Fluss durch ein unbekannt Land.

Sie horchte dem Widerhall früherer Lieder,
nicht um zu folgen, vielmehr: um zu scheiden,
was einst ihr war und nun nicht mehr galt.
Die Stimme, die einst aus der Jugend erscholl,
war heller gewesen – nun tiefer, nun wahrer.

Ein Blatt lag vor ihr – nicht leeres Papier,
sondern ein Raum, durch den sie sich tastete.
Nicht Zeile um Zeile, nicht Note für Note,
sondern das Ganze in innerem Bild:
ein Album wie Tempel, gebaut auf sich selbst.

Sie sprach nicht davon, sie sang es nicht gleich,
doch wer sie nun sah, erkannte den Wandel.
Ihr Gang war derselbe, doch schärfer geführt,
ihr Blick war der alte, doch ruhiger nun –
und wo sie auch saß, war ein Maß in der Luft.

So ward das erste, noch namenlose Werk
aus dem Licht einer Klarheit geboren,
die sich nicht drängte, nicht prahlte, nicht bat –
sondern bestand wie ein Fels in der Ebbe,
der wartend sich selbst zu enthüllen begann.

 

 

LII. Vom Maß und der Wahl

Wie der Gärtner den Baum nicht am Blühen erkennt,
sondern am Fruchtkern, im Spätherbst gelesen,
so prüfte sie alles, was kam ihr zur Hand,
nicht nach dem Glanz, sondern nach dem Gehalt,
nicht nach dem Reiz, sondern nach dem Bestand.

Viel war gewachsen in Nächten der Schwäche,
viel ward geformt im Gedankenspiel –
doch sie war erwacht in ein strengeres Maß,
das nicht nur den Klang, auch den Grundsatz verlangt:
Was bleibe, soll wahr sein, nicht bloß gefällig.

Lieder, die kamen mit leichtem Gefieder,
verwarf sie wie Träume im Nebel des Morgens.
Worte, die schmeichelten, ließ sie vergehen,
als wär’s fremde Stimme, nicht ihre eigene.
Sie suchte das Eine, das aus ihr selbst stieg.

Nicht ließ sie sich raten von Stimmen der Menge,
nicht lenken von dem, was gefällig der Zeit.
Sie war nun geworden die Richterin selbst,
die nicht nur das Werk, auch das Wollen befragte –
und manche Entwürfe zerriss sie im Schweigen.

Denn nicht jedes Lied, das ins Ohr sich legt,
hat Wurzeln im Grund eines Wesens.
Und nicht jede Melodie, die verzaubert,
besteht vor dem Auge der Wahrheit.
Sie aber bestand – weil sie wählte und ließ.

So stand sie im Raum, den sie selbst sich gebaut,
nicht als Magd, die darbringt, was andere fordern,
sondern als Herrin, die schenkt, was sie hält:
ein Lied, das sie selbst sich in Klarheit bewiesen,
ein Spiegel, der nicht nur Bild, auch Prüfung ist.

 

 

LIII. Von dem Namen der Klarheit

Da war nun das Werk – kein Suchen mehr,
kein Tasten im Dunkel, kein Zögern des Willens.
Die Lieder, wie Steine gewaschen vom Strom,
lagen im Kreis, geglättet von Prüfung,
bereit, Zeugnis zu sein – nicht bloß Klang.

Sie trat zu dem Kreis, den sie selbst sich bereitet,
nicht als Befehlerin, sondern als Zeugin
der Arbeit, des Ringens, des nächtlichen Fragens.
Und sie sprach nicht laut – sie sprach mit dem Blick,
der erkennt, was geworden ist aus Geduld.

Nicht prunkte das Werk, nicht glühte es grell –
doch leuchtete still wie ein Herd in der Dämmerung.
Kein Schmuck war es, kein Ruf nach Beifall,
sondern ein Spiegel: schlicht, klar, unbestechlich,
der zeigt, wer da steht – und was in ihr war.

So wählte sie Worte, die allem genügten,
nicht prunkvoll, nicht fremd, nicht verborgen im Bild,
sondern wie Wasser, das sagt, was es ist:
Loyal To Myself – dem eigenen Wesen getreu,
nicht aus Trotz, sondern aus Einkehr geboren.

Und siehe: der Name begann zu erklingen,
noch eh ihn die Menge vernommen.
Denn wer wahrhaft benennt, der weckt ein Erinnern,
das tiefer reicht als das Spiel der Begriffe,
ein Wissen, das war, ehe Worte es fassten.

So stand sie am Ende, das Anfang zugleich war,
nicht müde, nicht leer – sondern heiter und still,
als ob ihre Stimme nun auch ohne Singen
gehört würde, da sie sich selbst nun gehört.
Und der Name ward Siegel, das spricht ohne Laut.

 

 

LIV. Von der Rückkehr ins Offene

Kaum war vollendet das Werk in der Stille,
kaum war das Siegel gesetzt auf das Lied,
da regte sich leise das Rufen der Tage –
nicht laut, nicht drängend, doch unaufhaltsam,
wie Wasser, das rinnt durch das Gestein.

Denn nun begann, was nicht endet mit Klang:
der Gang in die Weite, der Blick in die Menge,
die Prüfung der Wahrheit am Antlitz der Welt.
Nicht mehr im Schutz einer Kammer verborgen,
sollte die Stimme nun draußen bestehen.

Lena, die sang, verließ ihre Stätte,
den Ort des Entwurfs, des inneren Ringens,
und trat in das Licht, das nicht wärmt, sondern blendet.
Doch war sie gewappnet mit heiterer Klarheit,
die nicht trotzt, nicht flieht – nur bleibt.

Die Boten der Städte, die Wächter der Worte,
begannen zu flüstern von Neuem in ihr,
doch sie hörte nicht ihnen, nur jenem Entschluss,
der gewachsen war wie ein Baum ohne Hast –
tief in der Erde, und offen dem Wind.

So stand sie bereit, nicht erhoben, nicht klein,
sondern ein Maß in der Mitte der Dinge,
bereit, die Lieder zu reichen der Zeit,
wie Brote, gebacken in nächtlicher Glut,
für ein Volk, das hungert nach Wahrheit im Klang.

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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=