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Die Fackel
NR. 274 27. FEBRUAR 1909 X. JAHR
Peter Altenberg.
Zum 9. März.
Er feiert nun wirklich diesen oft versprochenen, oft verschobenen fünfzigsten Geburtstag. Aber mag das Datum schwankend sein wie das Urteil über den Mann, ja schwankend selbst wie das Urteil des Mannes, die Gelegenheit, ihn respektvoll zu grüßen, möchte sich einer nicht versagen, der dabei war, als jener seine Haare ließ, um einen Kopf zu bekommen. Und nichts steht heute fester in unserm Geistesleben als dies Schwanken, nichts ist klarer umrissen als diese knitterige Physiognomie, nichts bietet besseren Halt als diese Unverläßlichkeit. Unter den vielen, die hier etwas vorstellen, ist einer, der bedeutet, unter den manchen, die etwas können, ist einer, der ist. Unter den zahllosen, die ihre Stoffe aus der Literatur geholt haben und Migräne bekamen, als es an die Prüfung durchs Leben ging, ist einer, der im schmutzigsten Winkel des Lebens Literatur geschaffen hat, gleich unbekümmert um die Regeln der Literatur und des Lebens. Weiß der liebe Herrgott, wie die anderen ihren Tag führen, ehe sie zu ihren Büchern gelangen, die Nächte dieses einen waren allzeit der öffentlichen Besichtigung preisgegeben, und manch ein champagnertrinkender Pferdejude dürfte um die Zeugung dessen Bescheid wissen, was für alle Zeiten den Werten einer lyrischen Prosa zugerechnet bleibt. Dieses Künstlerleben hatte einen Zug, den in seiner Welt die Weiber verloren haben: Treue im Unbestand, rücksichtslose Selbstbewahrung im Wegwurf, Unverkäuflichkeit in der Prostitution. Seitdem und so oft er vom Leben zum Schreiben kam, stand das Problem dieser elementaren Absichtslosigkeit, die heute leichtmütig eine Perle und morgen feierlich eine Schale bietet, in der Rätselecke des lesenden Philisters. Die bequemste Lösung war die Annahme, einer sei ein Poseur, der zeitlebens nichts anderes getan hat als die Konvention der Verstellung zu durchbrechen. Oder es sei ein echter Narr. Denn das Staunen des gesunden Verstandes, dessen niederträchtige Erhabenheit sich hier voll entfaltet, sieht bloß die gelockerte Schraube und fühlt die bewegende Kraft nicht, die den Schaden schuf, um an ihm zu wachsen. Aber wenn die Dichter heute zu nichts anderm taugen, als daß die Advokaten an ihnen ihrer Vollsinnigkeit inne werden, so haben sie ihren Zweck erfüllt, und die Advokaten sollten darauf verzichten, in das Verständnis der Dichter weiter eindringen zu wollen, als zum Beweise ihrer eigenen Daseinsberechtigung notwendig ist. Mag sein, daß der Altenbergsche Ernst diese Art mechanischer Betrachtung auf Kosten der lebendigen Persönlichkeit verschuldet hat. Im Altenbergschen Ernst kreischt die Schraube, und verlockt die Neugierde einer wertlosen Intelligenz, die man besser ihren Weg ziehen ließe. Es ist dieser künstlerischen Natur zu eigen, das Unscheinbare aus der Höhe anzurufen, und solche Aufmerksamkeit wird ihr unversehens zur Kunst, wenn die Kontraste sich im Humor verständigen. Er ist Lyriker, wenn er sich zur unmittelbaren Anschauung seiner kleinen Welt begibt, und er ist Humorist, wenn er sich über sie erhebt, um sie zu besprechen. Er ist persönlich und reizvoll in und über den Dingen, und wir haben ihm hier und dort Kunstwerke zu danken, die ihm keiner nachmachen kann, weil er selbst ohne Vorbild ist. Aus einer Grundstimmung zwischen Überlegenheit und lyrischem Befassen, aus einer umkippenden Weisheit, die vor einem Kanarienvogel ernster bleibt als vor sich selbst, aus einer Bescheidenheit, die sich nur vorschiebt, um die Welt in einer Narrenglatze sich spiegeln zu lassen, könnte er uns eine »Empfindsame Reise« beschreiben, die er aus Ersparnisrücksichten im Kinematographentheater erlebt. Ich gebe für die paar Zeilen seiner »Maus« oder seines »Lift«, seines »Spazierstock« oder seines »Gesprächs mit dem Gutsherrn« sämtliche Romane einer Leihbibliothek her. Dazu aber auch jenen P.A., der die Distanz zu seiner Welt durch Lärm ausgleichen möchte. Ich kann es verstehen, daß einem Künstler die Geduld reißt und daß er eines Nachts dazu gelangt, das Leben im Vokativ anzusprechen. Er scheint mir in solchen Augenblicken ehrwürdig, aber nicht eben schöpferisch zu sein. Ich sehe ihn hoch, aber der Abstand, der Humor verlangt, schafft sich ihn von selbst, wenn der Betrachter pathetisch wird. In dieses Kapitel scheint mir die Altenbergsche Gastrologie zu gehören mit jenem Materialismus der Frauenseelen und jenem Spiritualismus der Materialwaren, mit der Unerbittlichkeit jenes »erstklassigen« akrobatischen Evolutionsgedankens, daß der Affe vom Menschen abstammt. P.A., der vor einer Almwiese zum Dichter wird, wird vor einer Preisjodlerin zum Propheten. Er ist ein Seher, wenn er sieht, aber er ist ein Rufer, wenn er ein Seher ist. Seine Schrullen sind schöpferische Hilfen, wenn sie sich selbst entlarven; sie sind Hindernisse, wenn sie auf sich bestehen. Die zarteste Künstlerhand beschwichtigt sie, und zu einer widrigen Unsprache lassen sie sich alarmieren. Und das ist der Humor davon. An ihn hält sich der Philistersinn, wenn diese Fülle sich selbst zu einer Sonderbarkeit verkleinert, die mit visionärer Verzückung Küchenrezepte verfertigt, tant de bruit pour une omelette macht und die Anweisung von sich gibt: O nähme man doch endlich drei Eier!!? Gewiß bildet diese ausfahrende Sucht, die eine alltägliche Sache bloß verstärkt, ein Teil von jener Kraft, die eine alltägliche Sache zu erhöhen vermag, und ich möchte den Mißton in der Zigeunermusik dieses Geistes nicht entbehren. In der restlosen Ehrlicheit, die das Unsagbare sagt, ist er wohl liebenswerter als ein Preziösentum, das vom Sagbaren nur die Form enthüllt, und beschleunigte Herztätigkeit ist es, was den Menschenwert des Predigers über die Zweifel der Lehre erhebt. Aber ihr Lärm scheint mir von der Schwerhörigkeit des Philisters gefördert und er bedeutet jenen Trotz, welcher die Konzession des Künstlers ist, der keine Konzessionen macht. Und wie sollte die stärkste Stimme nicht heiser werden in einem Vaterlande, in dem der Prophet der Niemand ist, aber der Poet ein Journalist? Peter Altenbergs Ruhm ist aus dem sicheren Auslande noch nicht nach Wien gedrungen und das intellektuelle Gesindel dieser Stadt hat noch nicht geruht, ihn so ernst zu nehmen wie ihre Jourdichter und Journalisten. Dennoch sollte man diesen Reichtum der Mittel sich nicht auf Kosten des Inhalts entfalten lassen. Man müßte eine Zeitung, die diesem Temperament die Interpunktionen ihrer Druckerei zu schrankenloser Verfügung überläßt, boykottieren, man müßte vor Preisrichtern der Literatur, die eine Persönlichkeit von solchem Wuchs in der Varieté-Kritik exzedieren lassen und jahraus jahrein harmonische Plattköpfe dekorieren, auf der Straße ausspucken. Kurzum, man müßte alles das tun, wodurch man den Zorn P.A.’s auf sich laden könnte, den einzigen stadtbekannten Zorn, der um seiner selbst willen wertvoll ist und auch dort noch berechtigt, wo der Eigentümer fälschlich annimmt, man habe es auf seine Freiheit abgesehen. Denn man hat es in Wahrheit darauf abgesehen, ihn auf einen Stand zu bringen, auf dem er die wohlverdiente literarische Anerkennung endlich für die Ehre eintauscht, die Zielscheibe der Betrunkenheit zu sein. Oder gar das Merkziel jener vollsinnigen Betrachtung, welche die Kunst des Mannes als eine Privatangelegenheit belächelt, aber vor seinem Nachtleben wie vor einer Praterbude steht, und die überglücklich ist, wenn sie eine Probe Altenbergscher Urteilswütigkeit kolportieren kann. Daß hier ein ewig junges Temperament bei der Sache ist, ob es nun für oder gegen die Sache ist oder beides zugleich, schätzt keiner. Aber auch die Ansichten der Natur sind geteilt, auf Schön folgt Regen und es ist derselbe Ackerboden, der den Vorteil von solchem Widerspruch hat. Dieser Dichter hatte Anhänger, die ihm abtrünnig wurden, weil sie den Zufällen seiner klimatischen Verhältnisse nicht gewachsen waren. Nun, wen es trifft, zwischen dem Einerseits einer höchsten Begeisterung und dem Anderseits einer tiefsten Verachtung zu leben, der bleibe zuhause, aber er preise die Allmacht des Schöpfers und rümpfe nicht die Nase über die Natur. Denn die Natur ist weise, sie nimmt ihre Donner nicht ernst und ihre Sonne lacht über die eigene Inkonsequenz. Ach, wir haben genug Dichter, die mit fünfzig Jahren dasselbe sichere Urteil bewähren werden wie mit zwanzig. Gott erhalte sie als ganze. Von Peter Altenberg genügen uns ein paar Zeilen.
Karl Kraus.
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=Highlights von Rolling-Stone.deDies ist (laut Fans und Kritikern) die beste Folge von „Friends“
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Simply wonderful.
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=Hal Croveshttp://www.bildblog.de/61309/guenther-jauch-und-der-kampf-gegen-die-klatsch-windmuehlen/
Klasse!
Bitte mehr davon…!--
l'enfer c'est les autres...Die Persönlichkeit hat ein Recht zu irren. Der Philister kann irrtümlich recht haben.
(Die Fackel: Nr. 275-276, 22.03.1909, S. 26)
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=--
"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=Karl Kraus hatte niemals die Absicht, die Presse zu bessern. Er stellte sichs nur zur Aufgabe, ihre Suggestion zu durchbrechen. Das ist natürlich nur eine Interimsarbeit. Die Zeit wird kommen, wo die Gesellschaft die Macht der Presse ebenso konstitutionell regulieren wird, wie die Macht des Staatsoberhauptes. Derzeit läßt sie jene à discretion schalten. Wie, wenn eines Tages die Gesellschaft auf den Gedanken verfiele, die Vertretungsbefugnis der Presse zu prüfen? Man hat noch lange nicht alle Konsequenzen aus der Konstitution gezogen! Das allgemeine Wahlrecht führt, genau besehen, zu der Forderung, daß, nachdem nun alle im Lande vertreten sind, niemand mehr das Recht hat, sich für einen befugten Vertreter einer Mehrheit auszugeben, der nicht in der Lage ist, sein Mandat nachzuweisen. Die gegenwärtige Macht der Presse beruht zum Teil auf diesem Zwitterzustand. Sie genießt alle Vorteile der Subjektivität, insbesondere die Unverantwortlichkeit, derzufolge es das Recht jedes Blattes wäre, zu verschweigen, was ihm beliebt, – gleichzeitig wird aber die Fiktion festgehalten, daß man im Namen irgend einer Gesamtheit das Wort führt. Diese aber, das »Volk«, die »Intelligenz«, oder wie das vorgeschobene Ding heißt, haben weder das Recht noch ein Mittel, dieses fingierte Mandat zu bestreiten! Wie, wenn die Gesellschaft, in deren Namen die Presse richtet, einmal darauf dränge, daß ihr Einfluß geregelt und systemisiert wird? Wenn sie, gerade in Anerkennung des hohen »Amtes«, auch einen Mißbrauch der Amtsgewalt konstituierte?
(Robert Scheu, in: Die Fackel: Nr. 277-278, 31.03.1909, S. 7-8)
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. Diese ist das Leben der Talente, der Athem der Rede, die Seele des Thuns, die Zierde der Zierden. Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. Sogar im Denken wird sie sichtbar. Sie am allermeisten ist Geschenk der Natur und dankt am wenigsten der Bildung: denn selbst über die Erziehung ist sie erhaben. Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät. Sie ist ein feiner Richtweg die Geschäfte abzukürzen, oder auf eine edle Art aus jeder Verwickelung zu kommen.
(Baltasar Gracián, Handorakel und Kunst der Weltklugheit)
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=Geselligkeit.
Was mich zum Fluch der Gesellschaft macht, an deren Rain ich lebe, ist die Plötzlichkeit, mit der sich Renommeen, Charaktere, Gehirne vor mir enthüllen, ohne daß ich sie entlarven muß. Jahrelang trägt einer an seiner Bedeutung, bis ich ihn in einem unvorhergesehenen Augenblick entlaste. Ich lasse mich täuschen, solange ich will. Menschen zu ‚durchschauen‘ ist nicht meine Sache, und ich stelle mich gar nicht darauf ein. Aber eines Tages greift sich ein Schwachkopf an die Stirn, weiß, wer er ist, und haßt mich. Die Schwäche flieht vor mir und sagt, ich sei unbeständig. Ich lasse die Gemütlichkeit gewähren, weil sie mir nicht schaden kann; einmal, wenns um ein ja oder nein geht, wird sie von selbst kaput. Ich brauche nur irgendwann Recht zu haben, etwas zu tun, was nach Charakter riecht, oder mich sonstwie verdächtig zu machen, und automatisch offenbart sich die Gesinnung. Wenn es wahr ist, daß schlechte Beispiele gute Sitten verderben, so gilt das in noch viel höherem Maße von den guten Beispielen. Jeder, der die Kraft hat, Beispiel zu sein, bringt seine Umgebung aus der Form, und die guten Sitten, die den Lebensinhalt der schlechten Gesellschaft bilden, sind immer in Gefahr, verdorben zu werden. Die Ledernheit läßt sich mein Temperament gefallen, solange es in akademischen Grenzen bleibt; bewähre ich es aber an einer Tat, so wird sie scheu und geht mir durch. Ich halte es viel länger mit der Langweile aus, als sie mit mir. Man sagt, ich sei unduldsam. Das Gegenteil ist der Fall. Ich kann mit den ödesten Leuten verkehren, ohne daß ich es spüre. Ich bin so sehr in jedem Augenblick mit mir selbst beschäftigt, daß mir kein Gespräch etwas anhaben kann. Die Geselligkeit ist für die meisten ein Vollbad, in dem sie mit dem Kopf untertauchen; mir benetzt sie kaum den Fuß. Keine Anekdote, keine Reiseerinnerung, keine Gabe aus dem Schatzkästlein des Wissens, kurz, was die Leute so als den Inbegriff der Unterhaltung verstehen, vermöchte mich in meiner inneren Tätigkeit aufzuhalten. Schöpferische Kraft hat der Impotenz noch allezeit mehr Unbehagen bereitet, als diese ihr. Daraus erklärt sich, daß meine Gesellschaft so vielen Leuten unerträglich wird, und daß sie nur aus einer übel angebrachten Höflichkeit an meiner Seite ausharren. Es wäre mir ein leichtes, solchen, die immerfort angeregt werden müssen, um sich zu unterhalten, entgegenzukommen. So ungebildet ich bin und so wahr ich von Astronomie, Kontrapunkt und Buddhismus weniger verstehe als ein neugeborenes Kind, so wäre ich doch wohl imstande, durch geschickt eingeworfene Fragen ein Interesse zu heucheln und eine oberflächliche Kennerschaft zu bewähren, die den Polyhistor mehr freut als ein Fachwissen, das ihn beschämen könnte. Aber ich, der in seinem ganzen Leben Bedürfnissen, die er nicht als geistfördernd erkennt, noch keinen Schritt entgegengetan hat, erweise mich in solchen Situationen als vollendeten Flegel. Und nicht etwa als Flegel, der gähnt – das wäre menschlich –, nein, als Flegel, der denkt! Dabei verschmähe ich es, von meinen eigenen Gaben dem Darbenden mitzuteilen, der vor seinen Lesefrüchten Tantalusqualen leidet und in den egyptischen Kornkammern des Wissens verhungern muß. Hartherzig bis zur Versteinerung, mache ich sogar schlechtere Witze als mir einfallen, und verrate nichts von dem, was ich mir so zwischen zwei Kaffeeschlucken in mein Notizbuch schreibe. Einmal, in einem unbewachten Moment, wenn mir gerade nichts einfallen wird und Gefahr besteht, daß die Geselligkeit in mein Gehirn dringt, werde ich mich erschießen.
(Die Fackel: Nr. 279-280, 13.05.1909, S. 2-4)
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=Klasse wieder.
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Contre la guerre ...and everybody’s shouting “Which Side Are You On?”Aus: Süddeutsche Zeitung, 14.11.2014, S. 11
Männer meiden Mozart
Der Autobauer Lexus wirbt jetzt mit Klassik-Hass
Zunächst lässt sich der sportliche Bartträger am Steuer durchaus einlullen von Mozarts Musik. Beinahe schwebend gleitet das etwas bullig designte Auto durch herbstlichen Wald, die dezente Melancholie der Musik geht stufenlos über in die Bildsprache. Das Auto hält. Die Kamera schwenkt auf die Rückbank; dort spielen drei Musiker Musik von Mozart. Der Fahrer schickt sie mit einem Kopfschlenker hinaus, wie ein Türsteher einen Gast wegschickt, der keines Wortes würdig ist. Dann braust er davon, und ein krachendes Schlagzeug kündet vom neuen Image der Automarke.
Ursprünglich war das, was von Mozart in diesem Spot zu hören ist, eine der berührendsten Melodien, die er je erfunden hat. Der langsame Satz aus seinem C-Dur-Klavierkonzert lässt eigentlich auch Klassik-Verächter nicht kalt, dieses schlichte F-Dur-Dreiklangthema und der fein gesponnene Klangkosmos drumherum sind gleichsam seelisch-emotionales Weltkulturerbe. Solchermaßen zertifiziertes Kunstwerk – das gilt für die Dresdner Oper ebenso wie für den Kölner Dom – übt einen ganz besonderen Reiz aus auf Werbeleute, üblicherweise allerdings in dem Sinn, dass man damit Kunden ködert.
Aber was für sächsische Biere gerade noch so erträglich ist an gewinnbringendem Trittbrettfahren bei der Hochkultur, das nutzt die Automarke Lexus, die luxuriöse Tochter von Toyota, nun ganz neu. Wo Reklamefachwirte üblicherweise unschuldige Kunden in ihre Shopping-Hallen zerren, da unternimmt Lexus mit seinem neuen Werbespot genau das Gegenteil. Die bisherige, eher gediegene Kundschaft soll offenbar gezielt verprellt werden, um Platz zu machen für eine Art domestizierten Hooligan, der über beinahe gute Manieren verfügt und dennoch über einen überdurchschnittlichen Testosteronspiegel.
Für dieses Werbeklischee greift Lexus nach der billigsten Geschlechterpropaganda: Männer hören Rockmusik, und Mozart ist irgendwie schwul. Plötzlich durchzuckt es den Fahrer: Diese Musik passt ja gar nicht zu mir, ich muss mich mit Hardrock zudröhnen, ich brauch Fingerfood für Fäuste, ich bin ja die neue Käuferschicht – huch.HELMUT MAURÓ
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=„Weil philosophisches Reden naturgemäß ein handlungsentlastendes
Ergründen ohne Deadline ist, muss es für Politiker eine ungeheure
Verlockung darstellen, philosophisch zu werden. Wie könnte man sich
eleganter vom Zwang der Einsdreißig-Statements befreien? Wie ließe
sich souveräner dem Fristenkorsett entkommen? Wie könnte man sich
von teuren Wahlversprechen aufgeklärter verabschieden, als wenn es
gelingt, sie noch einmal in die diskursive Schleife zu schicken?“(Christian Geyer, FAZ vom 02.12.2014)
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Vorhin habe ich nach langer Pause mal wieder auf der Seite der Phase 2 vorbeigeschaut und einen funkelnden Essay von Frank Apunkt Schneider gefunden:
„Heute sind die deutschen Albumcharts ein Marktplatz stimmiger Identitätsangebote. Die biederrockistischen Toten Hosen stehen dort in einträchtigem Konkurrenzkampf neben dem sanft modernisierten Schlager von Helene Fischer und Andrea Berg, deutschem Gangsterrap, den Bombastpopblähungen von Unheilig und dem gefühligen Indiepop von Thees Uhlmann oder Jupiter Jones. Natürlich hört sich das alles immer auch ein bisschen gleich an; die Toten Hosen klingen wie Andrea Berg mit Gitarren und Jupiter Jones wie Unheilig mit Abitur. Aber vielleicht muss das auch so sein, weil sie sich alle um das gleiche bewerben: die deutsche Seele und ihre Kaufkraft.
Sie alle haben jedenfalls verstanden, wie zielgruppengerecht aufbereitete Popwaren funktionieren. Nichts, was sie tun, wirkt mehr unfreiwillig eigenständig – also so falsch, ungelenk und beknackt, wie es Kunze oder Grönemeyer nie abstreifen konnten. Auf ihr langweilig-perfektes Einerlei darf Popdeutschland zu Recht stolz sein (statt sich weiterhin für Grönemeyer schämen zu müssen): Endlich haben auch wir internationales Radioformat!“
(Frank Apunkt Schneider, „Ärger im Identitätsparadies“)
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To Hell with PovertyGo1Heute sind die deutschen Albumcharts ein Marktplatz stimmiger Identitätsangebote.
Das trifft sogar noch auf das Bedürfnis zu, sich davon abzugrenzen.
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=manchmal liest man wikipedia Artikel und will den Verfasser hinterher kräftig in den Arm nehmen, z.B. („She died on October 31, 1918. The same day, Lyapunov shot himself in the head, and three days later he died.“ also, letztlich deutlich mehr details als nötig, aber vorgetragen, als wär jede andere Lösung undenkbar gewesen)
http://en.wikipedia.org/wiki/Aleksandr_Lyapunov
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.Faule Früchte aus der FAZ:
„Europas Kultur ist in Gefahr. Die unerbittliche Demokratie, die keinen Spott über
Frauen, Schwule und Lesben duldet, der aber dafür der Spott über Gott heilig ist,
glaubt, der Mensch müsse sich vor allem gut fühlen, nicht gedrillt, nicht überfordert
werden. Sie stellt E- und U-Musik umstandslos auf eine Stufe, fördert Kunst um der
Kunstförderung willen, der jeweilige Rang ist sekundär. Da Kunst und Kultur aber
hierarchisch sind, gefährdet die Betäubung des Sinns für die Vertikale unseren
historischen Hauptauftrag, der darin liegt, diese Kultur lebendig zu erhalten und
weiterzugeben, nicht zuletzt an Menschen nichtchristlicher Herkunft, die in
Auseinandersetzung mit ihr erst das Beste aus sich selbst herausholen können.“„Die deutsche Seele hat schon einen Bleihintern. Im Weltmusikland, wo vor einer
Generation die Hochsprache der klassischen bis Avantgarde-Musik Standardaus-
rüstung von Intellektuellen war, scheinen sich viele Heutige deren schwindelnder
Ikarusflüge und nackter Schönheit fast zu schämen. Trost und Erquickung, Ver-
gnügen und Sinnstiftung finden sie in Sozialkitschhymnen in simplifizierter
Klangsprache.“(Kerstin Holm, „Sitzenbleiber mit Pokerface und großem Latinum“, FAZ vom 23.01.2015)
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Schlagwörter: Lesefrucht, Sentenzen, Textstellen, Zitate
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