Re: Lesefrüchte

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hal-croves
אור

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Die Fackel

NR. 274 27. FEBRUAR 1909 X. JAHR

Peter Altenberg.

Zum 9. März.

Er feiert nun wirklich diesen oft versprochenen, oft verschobenen fünfzigsten Geburtstag. Aber mag das Datum schwankend sein wie das Urteil über den Mann, ja schwankend selbst wie das Urteil des Mannes, die Gelegenheit, ihn respektvoll zu grüßen, möchte sich einer nicht versagen, der dabei war, als jener seine Haare ließ, um einen Kopf zu bekommen. Und nichts steht heute fester in unserm Geistesleben als dies Schwanken, nichts ist klarer umrissen als diese knitterige Physiognomie, nichts bietet besseren Halt als diese Unverläßlichkeit. Unter den vielen, die hier etwas vorstellen, ist einer, der bedeutet, unter den manchen, die etwas können, ist einer, der ist. Unter den zahllosen, die ihre Stoffe aus der Literatur geholt haben und Migräne bekamen, als es an die Prüfung durchs Leben ging, ist einer, der im schmutzigsten Winkel des Lebens Literatur geschaffen hat, gleich unbekümmert um die Regeln der Literatur und des Lebens. Weiß der liebe Herrgott, wie die anderen ihren Tag führen, ehe sie zu ihren Büchern gelangen, die Nächte dieses einen waren allzeit der öffentlichen Besichtigung preisgegeben, und manch ein champagnertrinkender Pferdejude dürfte um die Zeugung dessen Bescheid wissen, was für alle Zeiten den Werten einer lyrischen Prosa zugerechnet bleibt. Dieses Künstlerleben hatte einen Zug, den in seiner Welt die Weiber verloren haben: Treue im Unbestand, rücksichtslose Selbstbewahrung im Wegwurf, Unverkäuflichkeit in der Prostitution. Seitdem und so oft er vom Leben zum Schreiben kam, stand das Problem dieser elementaren Absichtslosigkeit, die heute leichtmütig eine Perle und morgen feierlich eine Schale bietet, in der Rätselecke des lesenden Philisters. Die bequemste Lösung war die Annahme, einer sei ein Poseur, der zeitlebens nichts anderes getan hat als die Konvention der Verstellung zu durchbrechen. Oder es sei ein echter Narr. Denn das Staunen des gesunden Verstandes, dessen niederträchtige Erhabenheit sich hier voll entfaltet, sieht bloß die gelockerte Schraube und fühlt die bewegende Kraft nicht, die den Schaden schuf, um an ihm zu wachsen. Aber wenn die Dichter heute zu nichts anderm taugen, als daß die Advokaten an ihnen ihrer Vollsinnigkeit inne werden, so haben sie ihren Zweck erfüllt, und die Advokaten sollten darauf verzichten, in das Verständnis der Dichter weiter eindringen zu wollen, als zum Beweise ihrer eigenen Daseinsberechtigung notwendig ist. Mag sein, daß der Altenbergsche Ernst diese Art mechanischer Betrachtung auf Kosten der lebendigen Persönlichkeit verschuldet hat. Im Altenbergschen Ernst kreischt die Schraube, und verlockt die Neugierde einer wertlosen Intelligenz, die man besser ihren Weg ziehen ließe. Es ist dieser künstlerischen Natur zu eigen, das Unscheinbare aus der Höhe anzurufen, und solche Aufmerksamkeit wird ihr unversehens zur Kunst, wenn die Kontraste sich im Humor verständigen. Er ist Lyriker, wenn er sich zur unmittelbaren Anschauung seiner kleinen Welt begibt, und er ist Humorist, wenn er sich über sie erhebt, um sie zu besprechen. Er ist persönlich und reizvoll in und über den Dingen, und wir haben ihm hier und dort Kunstwerke zu danken, die ihm keiner nachmachen kann, weil er selbst ohne Vorbild ist. Aus einer Grundstimmung zwischen Überlegenheit und lyrischem Befassen, aus einer umkippenden Weisheit, die vor einem Kanarienvogel ernster bleibt als vor sich selbst, aus einer Bescheidenheit, die sich nur vorschiebt, um die Welt in einer Narrenglatze sich spiegeln zu lassen, könnte er uns eine »Empfindsame Reise« beschreiben, die er aus Ersparnisrücksichten im Kinematographentheater erlebt. Ich gebe für die paar Zeilen seiner »Maus« oder seines »Lift«, seines »Spazierstock« oder seines »Gesprächs mit dem Gutsherrn« sämtliche Romane einer Leihbibliothek her. Dazu aber auch jenen P.A., der die Distanz zu seiner Welt durch Lärm ausgleichen möchte. Ich kann es verstehen, daß einem Künstler die Geduld reißt und daß er eines Nachts dazu gelangt, das Leben im Vokativ anzusprechen. Er scheint mir in solchen Augenblicken ehrwürdig, aber nicht eben schöpferisch zu sein. Ich sehe ihn hoch, aber der Abstand, der Humor verlangt, schafft sich ihn von selbst, wenn der Betrachter pathetisch wird. In dieses Kapitel scheint mir die Altenbergsche Gastrologie zu gehören mit jenem Materialismus der Frauenseelen und jenem Spiritualismus der Materialwaren, mit der Unerbittlichkeit jenes »erstklassigen« akrobatischen Evolutionsgedankens, daß der Affe vom Menschen abstammt. P.A., der vor einer Almwiese zum Dichter wird, wird vor einer Preisjodlerin zum Propheten. Er ist ein Seher, wenn er sieht, aber er ist ein Rufer, wenn er ein Seher ist. Seine Schrullen sind schöpferische Hilfen, wenn sie sich selbst entlarven; sie sind Hindernisse, wenn sie auf sich bestehen. Die zarteste Künstlerhand beschwichtigt sie, und zu einer widrigen Unsprache lassen sie sich alarmieren. Und das ist der Humor davon. An ihn hält sich der Philistersinn, wenn diese Fülle sich selbst zu einer Sonderbarkeit verkleinert, die mit visionärer Verzückung Küchenrezepte verfertigt, tant de bruit pour une omelette macht und die Anweisung von sich gibt: O nähme man doch endlich drei Eier!!? Gewiß bildet diese ausfahrende Sucht, die eine alltägliche Sache bloß verstärkt, ein Teil von jener Kraft, die eine alltägliche Sache zu erhöhen vermag, und ich möchte den Mißton in der Zigeunermusik dieses Geistes nicht entbehren. In der restlosen Ehrlicheit, die das Unsagbare sagt, ist er wohl liebenswerter als ein Preziösentum, das vom Sagbaren nur die Form enthüllt, und beschleunigte Herztätigkeit ist es, was den Menschenwert des Predigers über die Zweifel der Lehre erhebt. Aber ihr Lärm scheint mir von der Schwerhörigkeit des Philisters gefördert und er bedeutet jenen Trotz, welcher die Konzession des Künstlers ist, der keine Konzessionen macht. Und wie sollte die stärkste Stimme nicht heiser werden in einem Vaterlande, in dem der Prophet der Niemand ist, aber der Poet ein Journalist? Peter Altenbergs Ruhm ist aus dem sicheren Auslande noch nicht nach Wien gedrungen und das intellektuelle Gesindel dieser Stadt hat noch nicht geruht, ihn so ernst zu nehmen wie ihre Jourdichter und Journalisten. Dennoch sollte man diesen Reichtum der Mittel sich nicht auf Kosten des Inhalts entfalten lassen. Man müßte eine Zeitung, die diesem Temperament die Interpunktionen ihrer Druckerei zu schrankenloser Verfügung überläßt, boykottieren, man müßte vor Preisrichtern der Literatur, die eine Persönlichkeit von solchem Wuchs in der Varieté-Kritik exzedieren lassen und jahraus jahrein harmonische Plattköpfe dekorieren, auf der Straße ausspucken. Kurzum, man müßte alles das tun, wodurch man den Zorn P.A.’s auf sich laden könnte, den einzigen stadtbekannten Zorn, der um seiner selbst willen wertvoll ist und auch dort noch berechtigt, wo der Eigentümer fälschlich annimmt, man habe es auf seine Freiheit abgesehen. Denn man hat es in Wahrheit darauf abgesehen, ihn auf einen Stand zu bringen, auf dem er die wohlverdiente literarische Anerkennung endlich für die Ehre eintauscht, die Zielscheibe der Betrunkenheit zu sein. Oder gar das Merkziel jener vollsinnigen Betrachtung, welche die Kunst des Mannes als eine Privatangelegenheit belächelt, aber vor seinem Nachtleben wie vor einer Praterbude steht, und die überglücklich ist, wenn sie eine Probe Altenbergscher Urteilswütigkeit kolportieren kann. Daß hier ein ewig junges Temperament bei der Sache ist, ob es nun für oder gegen die Sache ist oder beides zugleich, schätzt keiner. Aber auch die Ansichten der Natur sind geteilt, auf Schön folgt Regen und es ist derselbe Ackerboden, der den Vorteil von solchem Widerspruch hat. Dieser Dichter hatte Anhänger, die ihm abtrünnig wurden, weil sie den Zufällen seiner klimatischen Verhältnisse nicht gewachsen waren. Nun, wen es trifft, zwischen dem Einerseits einer höchsten Begeisterung und dem Anderseits einer tiefsten Verachtung zu leben, der bleibe zuhause, aber er preise die Allmacht des Schöpfers und rümpfe nicht die Nase über die Natur. Denn die Natur ist weise, sie nimmt ihre Donner nicht ernst und ihre Sonne lacht über die eigene Inkonsequenz. Ach, wir haben genug Dichter, die mit fünfzig Jahren dasselbe sichere Urteil bewähren werden wie mit zwanzig. Gott erhalte sie als ganze. Von Peter Altenberg genügen uns ein paar Zeilen.

Karl Kraus.

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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=