Startseite › Foren › Kulturgut › Das musikalische Philosophicum › "Handgemachte Musik" – Sinnvoller Begriff oder überholte Vorstellung?
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bullschuetz
Und ich habe die Stelle markiert, an der die im Lied dargestellte Position offenkundig gebrochen wird: Das lyrische „Ich“ dieses Textes kommt nichtmal mit dem Entwerter im Bus klar!…
Für mich jedenfalls fügt der Mey-Text der ganzen „handgemacht“-Debatte eine interessante Dimension hinzu: Es geht hier offenkundig auch um Altersfragen, es geht um das Gefühl jeder alternden Generation, irgendwann nicht mehr mitzukommen, den Anschluss zu verlieren, aus dem Hamsterrad ausbrechen zu wollen, nicht immer diesen ständigen Weiterentwicklungsdogmen, Selbstoptimierungsnormen, wie sie zum Beispiel am Arbeitsplatz eingefordert werden, hinterherhecheln zu müssen.
[…]
Wenn Menschen über 50 von „handgemachter Musik“ schwärmen, kann ich das emotional total verstehen – wenn Menschen mit 20 oder 30 Jahren auf „handgemachte Musik“ schwören, wittere ich da eine ungute Gegenwartsverweigerung, eine reaktionäre Unlust, sich auf die ästhetischen Möglichkeiten der Jetztzeit einzulassen.
Ich finde 50 zwar auch nicht alt genug, um schon reaktionäre Tendenzen zu zeigen, aber Mey war als er dieses Lied veröffentlicht hat gerade mal Anfang vierzig. Da hoffe ich, dass er das für sich nicht tatsächlich so sah und dann nur leicht überspitzt hat. Ob das Stück dann letztendlich allerdings Ironie (ich denke nicht) oder Anbiederung beim Publikum sein soll, finde ich eine schwierige Entscheidung.
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WerbunglathoJa, ich sehe nicht, wie Mey sich da mit Ironie rausreden kann.
Kann er nicht. Diese Unsäglichkeit entspricht ja, wenn auch mühsam im Humorigen kaschiert, seiner reaktionären Überzeugung. Und die hat er auch in Interviews publik gemacht, ungleich gehässiger. Mit seinem Feldzug gegen die E-Gitarre und andere Krachmacher schlug er freilich nur den Sack, der Esel war das, was er als „Coca-Cola-Kultur“ bezeichnete, also alles, was aus Amerika bzw. Britannien „zu uns herüberschwappt“. Das war Kulturkampf. Wer dieser fremden Kultur verfallen war, also ich zum Beispiel, fand die Anti-Rock’n’Roll-Hetze von Mey und Konsorten nicht weniger zum Kotzen als die stramm treudeutsche Abwehrhaltung schneidiger Schlager-Geeks wie Freddy oder Heino. Ist aber OT (kann gern gelöscht werden).
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motörwolfWäre die Position des Sängers nicht deckungsgleich mit der des lyrischen Ichs, würde man dies deutlicher spüren.
Wünschst Du Dir das wirklich? Ich denke, genau das Gegenteil ist richtig: Je empathischer sich ein Autor in die Rolle eines „Ichs“ hineinversetzt (egal, ob es sich um einen gebrochenen alten Mann handelt, der früher alles besser fand, oder um einen Serienmörder), desto besser. Lausig wäre ein Songwriter, der sagen würde: Ich schlüpfe jetzt zwar mal in eine bestimmte Ich-Rolle, aber keine Sorge, ich mach das natürlich nicht richtig, ich pass schon auf, dass Ihr mich nicht mit diesem blöden Rollen-Ich verwechselt, ich will ja nicht, dass Ihr mich für einen gebrochenen alten Mann oder einen Serienmörder haltet, ich will, dass Ihr nicht schlecht von mir denkt …
Genau das ist doch der Witz bei Randy Newmans besten Songs: Er sagt nicht, ich tue jetzt nur mal so, als ob ich Südstaatler-Spießer verstehen könnte, aber in Wahrheit verschwöre ich mich natürlich augenzwinkernd mit meinem hippen intellektuellen New Yorker Publikum – alles nur Südstaatler-Verarsche! Nichts da, er bringt in „Rednecks“ genau die Heucheleien und Verlogenheiten der sich intellektuell und moralisch überlegen fühlenden Nordstaatler auf den Punkt, er irritiert moralische Gewissheiten, er stößt diejenigen vor den Kopf, die von einem „guten Song“ immer nur erwarten, dass er ihre eigenen Standpunkte bestätigt und stützt. Das ist Newmans große Kunst!
Aber ich versteh natürlich das Problem bei Mey: Während Newman gewohnheitsmäßig in Rollen schlüpft, wirkt Mey als Bühnenfigur, als öffentliche Person, so, dass man geneigt ist, zu sagen – der meint das alles selber genau so, wie er es in „handgemachte Musik“ singt. Nun gut, das mag ja sein. Dann ist er ein reaktionärer Spießer – und sein Song klüger als er selbst.
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topsDas war Kulturkampf. Wer dieser fremden Kultur verfallen war, also ich zum Beispiel, fand die Anti-Rock’n’Roll-Hetze von Mey und Konsorten nicht weniger zum Kotzen als die stramm treudeutsche Abwehrhaltung schneidiger Schlager-Geeks wie Freddy oder Heino. Ist aber OT (kann gern gelöscht werden).
Nein, natürlich nicht löschen, ist ja interessant. Aber hier werden zur Verurteilung eines Liedes ja außermusikalische Verlautbarungen herangezogen, sprich, die Deutungen, die der Musiker seiner eigenen Musik gab. Ein Song kann aber klüger sein als sein Autor – er kann, ums postmodern zu sagen, das „ideologische Projekt“ des Autors „dekonstruieren“, unterlaufen.
Was mich ebenfalls elektrisiert an Deinem Beitrag: War damals in dem (vermutlich bereits Ende der 60er Jahre aufflackernden?) „Kulturkampf“, den Du skizzierst, „handgemacht“ bereits ein Kampfbegriff der Mey-Fraktion gegen die anglophilen Rock’n’Roller?
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Alter als akzeptable Begründung für reaktionäres Denken? Echt jetzt?
Alternativ zum unsäglichen Stecker-Spruch: Wenn man denen die Helikopter wegnimmt, können die nichts.
Und thx tops, das wird sicher nicht gelöscht!
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #159: Martial Solal (1927–2024) – 21.1., 22:00; #160: 11.2., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba@bullschuetz: Sehr guter Beitrag, die # 358 !
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Well, he puts his cigar out in your face just for kicks Contre la guerrebullschuetzWas mich ebenfalls elektrisiert an Deinem Beitrag: War damals in dem (vermutlich bereits Ende der 60er Jahre aufflackernden?) „Kulturkampf“, den Du skizzierst, „handgemacht“ bereits ein Kampfbegriff der Mey-Fraktion gegen die anglophilen Rock’n’Roller?
Wenn ich mich recht entsinne, kam der Begriff erst in den Siebzigern ins Spiel. Im Kulturkampf lobte die Reaktion „leise Musik“, „echte Musik“, auch „europäische Musik“. Immerhin war Mey als Chanson-Schnulzier Frédéric unterwegs, sang Besinnliches zur Klampfe, auf Französisch.
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Okay, danke – das spricht dann gegen die These, dass „handgemacht“ aus der DDR eingewandert sein könnte, und eher für die Vermutung, dass „handgemacht“ schon früher kursierte und offenbar von Anfang an mit Begriffen wie „echt“ und „ehrlich“ gekoppelt wurde.
„Europäisch“ ist dagegen neu, und ich verstehe natürlich von Herzen, dass Du den Ideologen Mey ablehnst. Mir war nicht bewusst, dass es in der Liedermacherszene derart … ich sag mal: -tümelnde – Strömungen gab.
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bullschuetzWas mich ebenfalls elektrisiert an Deinem Beitrag: War damals in dem (vermutlich bereits Ende der 60er Jahre aufflackernden?) „Kulturkampf“, den Du skizzierst, „handgemacht“ bereits ein Kampfbegriff der Mey-Fraktion gegen die anglophilen Rock’n’Roller?
Höchstens im Streit zwischen Folk Barden und Rockern. Die deutsche Folk und Liedermacher Szene der 60er und 70er Jahre war zwar auch durch ähnliche Bewegungen und Szenen in den USA und England inspiriert, aber natürlich suchte man vor allem auch verschüttete deutsche Traditionen wiederzubeleben bzw. an ihnen anzuknüpfen, und man sang in aller Regel in der Muttersprache, zum Teil auch in Dialekten. Ob der Begriff „handgemacht“ da eine Rolle spielte, weiß ich nicht. Zumindest ist er mir nie begegnet in den Folk Pubs Westberlins vor rund 45 Jahren.
Reinhard Meys Song, den Du zitierst, ist aber aus dem Jahr 1986.--
Twang-Bang-Wah-Wah-Zoing! - Die nächste Guitars Galore Rundfunk Übertragung ist am Donnerstag, 19. September 2019 von 20-21 Uhr auf der Berliner UKW Frequenz 91,0 Mhz, im Berliner Kabel 92,6 Mhz oder als Livestream über www.alex-berlin.de mit neuen Schallplatten und Konzert Tipps! - Die nächste Guitars Galore Sendung auf radio stone.fm ist am Dienstag, 17. September 2019 von 20 - 21 Uhr mit US Garage & Psychedelic Sounds der Sixties!gypsy tail windAlter als akzeptable Begründung für reaktionäres Denken? Echt jetzt?
Ich finde es emotional verständlich, wenn jemand sagt: Ich bin jetzt 30, 40, 50 Jahre mitgehechelt, die nächste Neuerung mag ich einfach nicht mehr mitmachen, ich kann nicht mehr. Ich möchte da auch nicht von „reaktionär“ sprechen, sondern lieber von „überfordert“. Das Phänomen tritt typischerweise am Arbeitsplatz auf – ich schätze mal, so ziemlich jeder kennt das von älteren Kollegen, die einfach schon zu viele Innovationsschübe im Laufe ihres Lebens stemmen mussten im Wissen, wenn sie’s nicht packen, ist ihr Job in Gefahr.
Und da vielen Musik eine emotionale Wärmestube ist und Musikhören ein Aufruf von schönen Erinnerungen, liegt es doch nahe, sich wenigstens in diesem Bereich eine Insel der Sicherheit zu schaffen.
Ich selber habe beim Musikhören zwar eher das Interesse, Neues zu entdecken, Unbekanntes, und ich lasse mich auch gerne in meinen bisherigen Hörerfahrungen irritieren – aber ja, wenn jemand das anders handhabt, das akzeptiere ich!
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Stormy Monday@bullschuetz: Sehr guter Beitrag, die # 358 !
Wobei die Kehrseite eben die ist, dass man sich als Autor/Urheber auch den einen oder anderen Gedanken machen sollte, wenn das „falsche“ Publikum am Werk Freude hat. Hatten wir neulich ja gerade anderswo auch schon. Das Thema ist natürlich kompliziert und es gibt da allerlei lustige und tragische Verirrungen und Verwirrungen, aber dennoch, den Autor sich einfach aus Verantwortung stehlen lassen ist mir in jedem Fall zu billig.
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #159: Martial Solal (1927–2024) – 21.1., 22:00; #160: 11.2., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tbagypsy tail windWobei die Kehrseite eben die ist, dass man sich als Autor/Urheber auch den einen oder anderen Gedanken machen sollte, wenn das „falsche“ Publikum am Werk Freude hat. Hatten wir neulich ja gerade anderswo auch schon. Das Thema ist natürlich kompliziert und es gibt da allerlei lustige und tragische Verirrungen und Verwirrungen, aber dennoch, den Autor sich einfach aus Verantwortung stehlen lassen ist mir in jedem Fall zu billig.
Ich räume ein, das schillert. Und tops hat ja die ideologischen Fragwürdigkeiten (womöglich auch teilweise Ekligkeiten) Meys beschrieben und in einen Kulturkampf-Zusammenhang eingeordnet, der mir so klar nicht bewusst war. Insofern kann ich es natürlich nachvollziehen, wenn jemand vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen mit Mey den Text wörtlich nimmt als 1:1-Ausfluss eines spießigen Autorenstandpunktes, und es kann auch gut sein, dass im Konzert haufenweise Leute sitzen, die nach diesem Song applaudieren und sagen: Genau so isses, endlich sagt’s mal einer!
Auf einem aber beharre ich – dieser Song sagt ja objektiv, nämlich explizit: Diese Kritik an der technologischen Moderne in Musik und Gesellschaft äußert ein lyrisches Ich, das technisch bereits mit dem Bus-Entwerter und dem Bedienen der eigenen Stereoanlage überfordert ist. Der Song thematisiert so gesehen die Rückbesinnungssehnsüchte eines technologisch radikal Abgehängten, im Catweazle-Stadium Gestrandeten … Und jetzt kannst du natürlich sagen: So hat’s Mey aber bestimmt nicht gemeint! Mag sein – aber so steht’s im Text. Das meine ich, wenn ich sage, der Text kann klüger sein als sein Autor und dessen ideologisches Projekt unterlaufen.--
Oder aber (und das halte ich für sehr wahrscheinlich) Mey ist leider keinen Deut schlauer als sein „lyrisches Ich“, sondern tatsächlich der reaktionäre, mit jedwedem Fortschritt überforderte Depp, hinter dem er sich mit ein paar mauen Witzchen ein bisschen zu verstecken versucht.
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Das nun wiederum glaube ich eher nicht.
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Twang-Bang-Wah-Wah-Zoing! - Die nächste Guitars Galore Rundfunk Übertragung ist am Donnerstag, 19. September 2019 von 20-21 Uhr auf der Berliner UKW Frequenz 91,0 Mhz, im Berliner Kabel 92,6 Mhz oder als Livestream über www.alex-berlin.de mit neuen Schallplatten und Konzert Tipps! - Die nächste Guitars Galore Sendung auf radio stone.fm ist am Dienstag, 17. September 2019 von 20 - 21 Uhr mit US Garage & Psychedelic Sounds der Sixties!Oh mein Gott, jetzt wird hier Mey zum deutschen Randy Newman stilisiert. Natürlich ist der Text 1 zu 1 zu verstehen, die Indizien liegen doch auf der Hand…
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Man hatte uns als Kindern das Ende der Welt versprochen, und dann bekamen wir es nicht. -
Schlagwörter: Deutsche Kulturarbeit, Ehrlich währt am längsten, entweder - oder, Handwerk, led zeppelin
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