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Richard Thompson „Amnesia“ (1988)
Er sieht ja eigentlich ganz harmlos aus. Mit dem schütteren Haar, dem gut in Zaum gehaltenen Vollbart und den großen blauen Augen wirkt Richard Thompson eher wie ein Oberstudienrat als wie das, was er wirklich ist: Einer der bissigsten und bösesten Songschreiber, die England hervorgebracht hat – dass er auf dem Inner Sleeve von „Amnesia“ die Gitarre mit einer Kettensäge ausgewechselt hat, scheint da nur angemessen.Thompson gehört bereits seit den 60er Jahren zu den wichtigsten Vertretern des englischen Folks, erst mit Fairport Convention, dann im Duo mit seiner damaligen Frau Linda. Seine Solowerke dürften zwar nicht mehr durchgehend unter dem Folk-Etikett laufen, der musikalischen Qualität tut dies hingegen keinen Abbruch.
So auch „Amnesia“, das nun schon 22 Jahre alt ist und immer noch frisch klingt. Wie so oft legt Thompson beim Opener krachend und scheppernd los. “Turning of the Tide“ zeigt auch gleich auf, wie er das Thema Liebe gerne anpackt:
„Poor little sailor boy, never set eyes on a woman before.
Did he tell you that he’d love you, darling, for ever more?““Gypsy Love Songs“ geht inhaltlich in die gleiche Richtung, enttäuschte Gefühle zuhauf, diesmal wird es jedoch mystischer: Eine Hand lesende Zigeunerin, natürlich aus Transsylvanien stammend trifft den siebten Sohn eines siebten Sohnes. Auf so viele Klischees muss man auch erstmal kommen.
„Stillborn love, passionate dreams, pitiful greed and the silver tongues of the tinker girls.
Who throw the book of life at you but don’t know how to read.“Das dritte Stück, “Reckless Kind“ wirkt nach den beiden Vorgängern wie ein bisschen viel des Guten, zum dritten Mal Bitterkeit und Frust über die zerstörte Liebe: „Parting Ways, loved in vain, never knew you’d be the reckless kind“. Er scheint wirklich ein Talent mit Frauen zu haben…
Anschließend wird es wieder lebhafter. “Jerusalem on the Jukebox“ hat alles, was ein guter Rocksong braucht, könnte allerdings etwas druckvoller gespielt werden. 20 Jahre später hätte Thompson das wohl auch getan.
Die A-Seite wird abgeschlossen mit “I still dream“. Ein wunderbares Stück, das als Erklärung angesehen werden kann, warum Thompsons Alter Ego in seinen Songs trotz diverser Enttäuschungen einfach immer weiter macht. Ganz klar einer der Höhepunkte des Albums.
Der Formel des kraftvollen Beginns treu bleibend läutet “Don’t tempt me“ die B-Seite ein. Unterstützt von wuchtigen Drums und Dudelsack kommt hier statt Verzweiflung und Wehmut der reine Zorn zum Ausdruck:
„That gorilla that you’re dancing with may not have too long to live.
He’s putting his hands in the wrong places, time to rearrange his face.“Gut möglich, dass dieses lyrische Ich 13 Jahre zuvor in „I’ll regret it all in the morning“ schon einmal aus seinem Leben erzählen durfte.
Noch mehr wird die Zeitlosigkeit von Thompsons Musik beim nächsten Stück deutlich. “Yankee go home“ hätte auch wunderbar auf sein 2007er Werk „Sweet Warrior“ gepasst. Man kann Vermutungen anstellen, ob es in 20 Jahren ebenfalls noch aktuell sein wird. Durchaus möglich.
Weiter geht es und wir kommen zum absoluten Höhepunkt des Albums: “Can’t win“. Ein Song, dessen Intensität einen beim ersten Hören gefangen nimmt, dessen tatsächliche Ausdruckskraft sich aber mit jedem Hören noch ein bisschen mehr erschließt. Für mich eins der besten Stücke, die Richard Thompson je geschrieben hat:
„They told me to think and forget what I’d heard.
They told me to lie and then questioned my word.
They taught me to fail, better sink than sail – just play the game“Nach all dem Elend, das dem Hörer ausgebreitet wurde, ist man dankbar für ein bisschen Aufmunterung. “Waltzing’s for dreamers“ ist an und für sich schon ein beschauliches kleines Stück Musik. Seine Positionierung in der Songfolge hebt es dann aber noch mal an.
Mit “Pharaoh“ kommt es dann zum würdigen Abschluss. Das Thema des Klassenkampfs ins alte Ägypten übertragen. Neben den Schattenseiten der Liebe ist dies das zweite große Motiv in Thompsons Textkunst, die Leiden der Schwachen und gerne Vergessenen.
Herausragender Song: Can’t win
Gesamtwertung: ****1/2--
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WerbungSehr schön, Moontear. Ich hatte ja gehofft, dass es hier eines Tages weitergeht, mir schien es etwas, als hätten die Favoritenthreads für einen kurzen Zeitraum großen Zulauf bekommen und seien danach größtenteils wieder verschwunden. Sehr schade. Dein vorgestelltes Werk kenne ich überdies nicht, mir ist nicht ein einziger Titel von Richard (& Linda) Thompson bekannt, auch bei FC habe ich nur eine grobe Orientierung. Aber Du hast mich auch hier wieder neugierig gemacht, werde beizeiten gerne reinhören. Danke dafür.
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Hold on Magnolia to that great highway moonGibt’s das denn?! Diesen Thread bemerke ich jetzt zum ersten Mal richtig.
Sehr schön, Moontear! Obwohl ich alle hier vorgestellten Künstler natürlich kenne, kenne ich keins der Alben. Deine Beschreibungen machen eigentlich Lust, in alle wenigstens mal reinzuhören. Dazu fehlt mir jetzt zunächst die Zeit. Aber ich hab mir eine Notiz im Kalender gemacht.
Spontan am spannendsten für mich liest sich Deine Vorstellung des Blue Öyster Cult Albums. Das werde ich mir als erstes vornehmen.
Und wer weiß, vielleicht erschließen sich die Qualitäten des George Jones auch für mich noch irgendwann…
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Twang-Bang-Wah-Wah-Zoing! - Die nächste Guitars Galore Rundfunk Übertragung ist am Donnerstag, 19. September 2019 von 20-21 Uhr auf der Berliner UKW Frequenz 91,0 Mhz, im Berliner Kabel 92,6 Mhz oder als Livestream über www.alex-berlin.de mit neuen Schallplatten und Konzert Tipps! - Die nächste Guitars Galore Sendung auf radio stone.fm ist am Dienstag, 17. September 2019 von 20 - 21 Uhr mit US Garage & Psychedelic Sounds der Sixties!Ein Richard Thompson Album, von dem ich noch nie etwas gehört habe, selbst das Cover hab ich noch nie gesehen. Ich werde auf jeden Fall reinhören, wenn ich es im Plattenladen sehen werde. Wenn die LP von ’88 ist, würde mich die Produktion interessieren.
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and now we rise and we are everywhereVielen Dank für die Rückmeldungen.
@irrlicht:
Deine Einschätzung mit den Favoritenthreads sehe ich ähnlich. Ich selbst hätte gern schon früher wieder was geschrieben aber mir fehlte zuletzt oft die Zeit, konnte selbst gar nicht mehr so viele Platten hören wie ich gern tät. Außerdem will ich hier ja auch Alben präsentieren, die viele noch nicht kennen. Über „Highway 61 Revisited“ oder die „Astral Weeks“ kann man viel schreiben allerdings ist da auch schon sehr viel zu geschrieben worden.@mikko:
Freut mich, dass mein Anliegen mit den unbekannten Alben auch bei dir zutrifft.@nikodemus:
Was die Produktion betrifft: Sie ist schon ein bisschen „weicher“ als seine aktuellen Aufnahmen oder die Klassiker mit Linda. Dennoch wirkt sie für mich bei weitem nicht so 80ermäßig wie manche Platten anderer Veteranen.--
If I'd lived my life by what others were thinkin', the heart inside me would've died.[/FONT] [/SIZE][/FONT][/COLOR]@moontear: Schön, dass Du „Amnesia“ ausgewählt hast. Ich finde, das ist das Album, auf dem Produzent Mitchell Froom und Thompson zueinandergefunden haben. Die Produktion hat schon einen deutlichen 80er-Touch, sie ist sehr „bright and glossy“ (mir fallen irgendwie keine guten deutschen Ausdrücke ein). Thompsons Gitarre kommt auf dem gesamten Album sehr gut zur Geltung. Auf Daring Adventures funktioniert die Zusammenarbeit weit weniger gut.
„Turning Of The Tide“ ist, das wollte ich noch hinzufügen, ein gehässiger Abgesang auf eine alternde Frau (um es mal netural auszudrücken): „Boys all say you look so fine / Don’t come back for a second Time / You can’t hide from the Turning of the Tide“.
Außerdem war ich schon immer ein großer Fan des traurig-melancholischen „Waltzing’s For Dreams“. Ganz so beschaulich wie Du finde ich nicht, es enthält eher den typischen Thompson-Pessimissmus. „Can’t Win“ ist aber in der Tat eines der besten Lieder des Albums.
Insgesamt finde ich, dass das Album vielleicht nicht gerade vor überragenden Songs überquillt, aber viele sehr gute oder gute Lieder enthält, die insgesamt ein relativ harmonisches und abwechslungsreiches Gesamtbild ergeben.
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Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.@nail75:
Danke für deine Ergänzungen.
„Daring Adventures“ finde ich zwar schwächer als „Amnesia“, höre es aber dennoch als gute Leistung, besonders die A-Seite gefällt mir. Ein großer Sprung nach vorne im Vergleich zum Vorgänger („Across a cowded Room“), welcher für mich das schwächste Thompson-Album darstellt, das ich kenne.Die Produktion ist schon erkennbar 80s, aber wie ich schon schrieb, nicht so penetrant „stylish“ (deutsche Adjektive sind in der Tat ein bisschen schwer zu finden hierfür) wie bei vielen anderen vergleichbaren Alben.
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If I'd lived my life by what others were thinkin', the heart inside me would've died.[/FONT] [/SIZE][/FONT][/COLOR]Dan Fogelberg „The Innocent Age“(1981)
Es gibt Alben, die entfalten ihre Wirkung grade auch deswegen, weil sie genau zur rechten Zeit kommen. Die Zeit war 1998, das Album „The Innocent Age“ von Dan Fogelberg. Ich befand mich damals in dieser merkwürdigen Zeit zwischen Kindheit und Erwachsensein, in der es vor Abschieden und Neuanfängen nur so wimmelt.
„The Innocent Age“, ein Doppelalbum, kann man durchaus als eine Art Konzeptwerk bezeichnen. Wenngleich nicht in allen 17 Songs (oder 16, ein Stück ist ein kleines Instrumental) konsequent durchgehalten, so ist das Thema Vergangenheit und der Umgang mit selbiger doch bestimmend. Ein Zitat von Thomas Wolfe ziert den Anfang des Begleithefts: „Man’s youth is a wonderful thing: It is so full of anguish and of magic and he never comes to know it as it is, until it has gone from him forever.“
Große Alben zeichnet es aus, dass sie gleich zu Beginn des ersten Stückes in ihren Bann zu ziehen verstehen. Das ist hier nicht anders. “Nexus“ gehört zu den stärksten Stücken, die Fogelberg geschrieben hat. Ein Strudel von Gitarren reißt einen mit und nimmt gefangen, gesanglich unterstützt von Joni Mitchell, die an den Zeilen sicher ihre Freude hatte:
“Across the vein of night there cuts a path of searing light, burning like a beacon on the edges of our sight. At the point of total darkness and the lights divine divide. A soul can let its shadow stretch and land on either side – either side.“
Kindheit und Jugend bestimmen das nun folgende Titelstück und “The Sand and the Foam“. Manchen mag das arg sentimental und süßlich sein, meines Erachtens beherrscht Dan Fogelberg – nicht nur hier – jedoch die Gradwanderung, zu berühren ohne in den Kitsch abzurutschen. Kraftvoller wird es dann bei “In the Passage“ und “Lost in the Sun“, der Zauber der Kindheit ist hier gewichen, die Realitäten und Desillusionen des Erwachsenenseins dominieren:
“The faster we run, the further away the dreams that we chase become. And lost in the sun spinning and turning, blind in the burning light of day – we have to turn away.“
Beschwichtigender wird es dann wieder in “Run for the Roses“ – Fogelbergs Spezialdisziplin, die wehmütige Ballade. Es folgen die beiden vielleicht bekanntesten Stücke des Albums: “Leader of the Band“, das Fogelberg seinem Vater widmete, und “Same old lang syne“ über die Begegnung mit einer längst verflossenen Liebe.
Just for a moment I was back at school and felt that old familiar pain. And I turned to make my way back home – the snow turned into rain.“
Aus den Erinnerungen an die Vergangenheit, die bekanntlich in der Rückschau gerne glorifiziert wird, ist Fogelberg wieder in der Realität angekommen und der Hörer am Ende der ersten Platte.
Die zweite Hälfte des Albums wird vom kraftvollen “Stolen Moments“ eröffnet, fortgesetzt vom schneidenden “The Lion’s Share“. Bevor der Hörer aber den Eindruck bekommen könnte, das Album wendet sich völlig dem Zorn verpasster Chancen zu, folgen auch schon die ersten Takte von “Only the Heart may know“, einem Duett mit Emmylou Harris, deren Stimme im Kontext zu Fogelbergs Gesang gleich doppelt so schön strahlt wie sonst.
Aufbruchstimmung dann bei “The Reach“, bei dem man den Herbstwind förmlich schmecken kann. Das kleine Instrumental “Aireshire Lament“ lässt einen weiter im Harmoniehimmel schwelgen. Kontrast dazu sind die nächsten beiden Stücke, “Times like These“ und “Hard to say“. Beides nicht unbedingt die Sternstunden des Albums, weder textlich noch von der Melodie – aber eine Verschnaufpause ist auch nicht verkehrt schließlich steuert Fogelberg nun auf den Höhepunkt des Albums zu.
“Empty Cages“ knüpft musikalisch an die beiden vorangegangenen Stücke an, inhaltlich orientiert es sich jedoch wieder an der Grundthematik des Albums: Der Ausbruch, die Flucht, der Freiheitsdrang – alles Assoziationsmöglichkeiten zum Thema Jugend. Die Freiheit wird auch im abschließenden “Ghosts“ beschworen.
“Every ghost that calls upon us brings another measure in the mystery. Death is there to keep us honest and constantly remind us we are free.“
Die Vergangenheit lebt weiter, in all ihren Facetten von Freude, Zorn, Neugier und Enttäuschung. Dan Fogelberg hat mit „The Innocent Age“ sein persönliches Meisterwerk abgeliefert. Bis zu seinem viel zu frühen Tod 2007 sollte er noch viele Songs schreiben, an die Vielschichtigkeit und Intensität seines 1981er-Werks kamen sie aber nicht mehr heran.
Herausragender Song: „Leader of the Band“
Gesamtwertung: *****--
If I'd lived my life by what others were thinkin', the heart inside me would've died.[/FONT] [/SIZE][/FONT][/COLOR]Sehr schön, moontear. Sowohl deine Bechreibung (trifft m.E. voll auf den Punkt )als auch das Album selber, welches ich auch auf CD besitze. Hast mich motiviert, es die Tage mal wieder zu hören.
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Gewinnen ist nicht alles, gewinnen ist das einzige.Ludwig Hirsch „Dunkelgraue Lieder“ (1978)
[IMG]http://bilder.preisvergleich.org/products/DE/30/000/007/243/E_000007243558_DE_30.jpg
Die österreichische Künstlerwelt ist voll von schwarzem Humor, man denke nur an die Karikaturen von Gerhard Haderer und mehr noch Manfred Deix und natürlich die Musik von Georg Danzer und Wolfgang Ambros. Aber keiner dieser beiden erreicht die Schwärze von Ludwig Hirsch. Vor allem auf seinem Erstling „Dunkelgraue Lieder“ offenbart sich eine beispiellose Morbidität bei der dem Hörer durchaus die dahinter stehende Humanität entgehen kann.
Der Weinberger Ludwig Hirsch war bislang eher als Schauspieler in Erscheinung getreten, bevor er 1978 mit der hier besprochenen Platte erstmals sein Gesangstalent unter Beweis stellte. Wobei Gesang nicht ganz das richtige Wort ist, bezeichnender ist melodisches Sprechen für das, was der damals 32jährige hier präsentiert.
Los geht es mit “Die Omama“, was gleich dazu führen kann, den unvoreingenommenen Hörer mehr als einmal schlucken zu lassen. Es geht um Abschiednehmen eines nahen Menschen. Aber bei Hirsch ist dies mehr Erleichterung als Trauer denn die Omama war eine Tyrannin der alten Schule:
„Wie ich klein war, hat’s mir eingestopft die Knödln, hat’s glauert mit dem Pracker in der Hand; hat’s mir umgedraht schon den Magen, es war ihr wurscht, sie hat mi gschlagen, so lang, dass i schon angefangt hab zum Beten: Lieb Jesuskind, lass d’Oma doch verrecken.“
Es ist da nur passend, dass Hirsch die Omama an ihren falschen Zähnen ersticken lässt. Mit dem Tod geht es in “I lieg am Ruckn“ weiter. Ein eher meditatives Stück bei dem es um nichts anderes geht als das Schicksal, lebendig begraben worden zu sein. Erzählt natürlich aus der Ich-Perspektive. Sonst wäre es nur halb so schön.
Das dritte Stück widmet sich dann erstmals den noch offiziell Lebenden. “Der Herr Hasslinger“ ist ein netter, etwas eigener alter Herr, der von allen Nachbarn geschätzt wird. Der Pflanzen und Tiere pflegt, den Kindern gern beim Spielen zuschaut:
„…da sind die Mäderln mit den süßen blonden Lockerln, mit weißen Schuhen, mit kurzen schwarzen Rockerln…und auch die Kinder irgendwie gern, diesen netten, etwas schrulligen, alten Herrn.“
Nachdem er seine Charakterbeschreibung abgeschlossen hat, weist Hirsch noch auf zwei kleine, weiße Schuhe hin, die unten im Fluss treiben. Die Interpretation eines etwaigen Zusammenhangs bleibt dem Hörer überlassen.
Kinder, genauer “Der blade Bua“ sind auch Inhalt des vierten Stückes. Eine kaputte Arbeiterfamilie wird hier innerhalb von wenigen Zeilen mit einer chirurgischen Präzision seziert, wie es sonst nur Randy Newman beherrscht. Der große Leidende hierbei ist der Sohn, über den Hirsch weiß,
„Es gibt Kinder, die kommen ohne Schutzengel auf d’Welt und der Sandmann haut ihnen Reißnägel in d’Augen. Unterm Christbaum liegt jedes Jahr ein Packerl Tränen als Geschenk und ein Märchenbuch, wo der Teufel immer gewinnt.“
“Die Spur im Schnee“ als fünftes Stück ist dann nicht mehr Psychogramm einzelner Personen sondern beschreibt, wie über Mundpropaganda ein wütender Mob mobilisiert wird, der eben jener mysteriösen Spur im Schnee nachgeht um am Ende eine große Überraschung zu erleben,
Die A-Seite endet mit dem schwächsten der ersten sechs Stücke. “Liebeslied“ handelt von einer wohl psychisch kranken Frau und ihren Eskapaden, bleibt im Vergleich zu den fünf Vorgängern aber unauffällig blass.
Dieses kleine Manko wird aber gleich mit dem ersten Stück der B-Seite ausgemerzt. Wie Aberglaube und Sündenbockmentalität ein Dorf beherrschen kann, darum geht es in “Der Dorftrottel“, dieser muss dafür herhalten, dass eine Bauersfrau eine Totgeburt hatte. Sein Mentor, der Pfarrer, hat sich schon wohlweißlich aus dem Staub gemacht als der wütende Mob kommt und
„Sie schleppen ihn auße in Schnee, er weint wia a kleines Kind. Sie haun ihn so lang, bis ihm’s Hirn aus der Nasen rinnt!
Und weich fallt der Schnee…Dem Bauern sei Kind kann endlich den Himmel betreten.“
Besonders bei diesem Stück fällt die Instrumentierung der Lieder auf, immer passend zur jeweiligen Stimmung, die Hirsch in seinen Texten vermittelt: Teilweise kommt sie samtweich oder zuckersüß daher und stellt so den doppelten Boden für Hirschs hintergründigen Erzählerblick dar.
In “Der Wolf“ zeigt Hirsch, dass nicht nur Menschen leiden müssen in seinen Liedern. Ein Zoobesuch beim „armen, alten Wolf“, dem die Zähne herausgerissen wurden, als er einmal seinen Wärter gebissen hat, der ihn vor feixenden Zuschauern Männchen machen ließ.
Dürfte es beim Wolf noch weitgehende Empathie geben, so können die Meinungen über “Geh, spuck den Schnuller aus“ wohl sehr geteilt sein, wie in einem anderen Forum mal zu lesen war. Die Kritik an der steten Sexualisierung weiter Gesellschaftsbereiche erschließt sich wohl nicht denen, die nur durch Wortkonstruktionen wie „Windelstriptease“ und „Disneyland-Puff“ hoch geschreckt wurden oder neue Erkenntnisse über klassische Volksmärchen vermittelt bekommen:
„Wer hat das Höschen vom Dornröschen? Und Schneewittchen hätt’s gern triebn mit allen siebn! Aber hintern siebtn Berg wohnen nur schwule Zwerg.“
In “Der Zwerg“ geht es erneut um einen Zukurzgekommenen (no pun intended) in der Gesellschaft. Musikalisch versucht sich Hirsch hier am Blues, was auf einer Single wohl besser funktioniert hätte. Im Kontext der bisher gehörten Lieder wirkt es – nur musikalisch betrachtet – ein wenig wie ein Fremdkörper.
Aber das Leben, das hat Hirsch uns ja in der vergangenen Dreiviertelstunde vermittelt, ist halt kein Ponyhof sondern oft mehr der Anhänger des Abdeckers. Da muss man sich begnügen mit dem was man hat, so wie er im letzten Stück feststellt:
„Madl, wann wirst ma’s endlich glauben, du kannst doch jeden anderen haben, mein Gott, wie oft hab ich dich gewarnt vor mir, und trotztdem liegst jetzt da neben mir.“
Ende gut, alles gut also im dunkelgrauen Kosmos des Ludwig Hirsch. Passend heißt das elfte und letzte Lied dann auch “Happy End“.
Herausragendes Lied: „Der Dorftrottel“
Gesamtwertung: *****--
If I'd lived my life by what others were thinkin', the heart inside me would've died.[/FONT] [/SIZE][/FONT][/COLOR]Sehr schön, Moontear. „Dunkelgraue Lieder“ interessiert mich nun schon viele Jahre, eben darum: Hirsch ist nicht nur ein tiefsinniger Analytiker der menschlichen Psyche, sondern auch ein faszinierender Dramatiker und Arrangeur; muss vor einigen Jahren gewesen sein, als ich erstmals „Papa, geliebter Papa“ hörte – man sollte sich wohl hüten, zu schnell Rückschlüsse zu ziehen, hinter einem schönen und wenig symbolhaften Titel verbirgt sich hier oftmals ganz direkt der dunkle Abgrund. Ja, schwarz, morbide, blutverschmiert, auf der Treppe zum Galgen – „Der Dorftrottel„ ist übrigens auch mein Favorit. Langsam und anmutig, schleppend, sich steigernd, ausladend, auslöschend, dann der Schnee. Hirsch hat hiermit einen der verbittertsten und tiefgehendsten Texte überhaupt verfasst – und unbedingt, jede Regung davon – Beunruhigung, Skepsis, Panik, Aufruhr, Angst, Schmerz, Tod – spürbar stimmig in Streicher, in Bläser, Schlagzeug und Gitarre eingefasst – das ist wahrlich scheinende Kunst, unersetzlich, entrückend, großen Musikern wie Walker, Brel oder van Zandt in Nichts nachstehend.
Kümmere mich baldmöglichst darum.
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Hold on Magnolia to that great highway moonPrefab Sprout “The Gunman and other Stories” (2001)
Willkommen in der Welt des wilden Westens. Paddy McAloon ist 2001 von den Höhen Andromedas zurückgekehrt und hat dies gleich mit einem Abstecher in die Vergangenheit verbunden. Das Western-Konzept ist in der Rockmusik ja nichts Neues; Dylan hat es gemacht, Elton John, die Eagles etc pp. Bei Prefab Sprout ist es wie immer eine gewisse Harmoniewonne, die sich durch das ganze Album zieht und ihm eine unverwechselbare Note gibt. Steigen wir also in die Kutsche und hören von „The Gunman and other Stories“.
Der Opener „Cowboy Dreams“ gibt gleich die Route vor. Der wilde Mann mit Colt als schmachtender Romantiker, der in vielen Rollen reüssieren will und im Grunde doch nur das Herz seiner Liebsten haben möchte:
“Love’s a silver bullet that blows your world apart
I wanna be remembered as an outlaw, the boy who stole your heart”„Wild Card in the Pack“ entwirft das nächste klassische Westernszenario, die Pokerrunde im Saloon. Doch das Klischee wird gebrochen, die Schießerei bleibt aus, die Liebe siegt. Alles gut – die Welt von Prefab Sprout ist eine Welt der großen Gefühle und selbst wenn es nicht zum Happy End reichen sollte, ist die Erkenntnis so bittersüß, dass es schon wieder schmeckt.
So auch in „I’m a troubled Man“. Ein klassisches Countrythema: Der Herumtreiber zeigt sich seiner Tochter gegenüber reuig für die Sünden der Vergangenheit und sucht schließlich Beistand beim Allmächtigen. Hätten Marty Robbins oder George Jones sich dessen angenommen, wäre wohl ein tieftrauriger Tearjerker entstanden. Bei Prefab Sprout hat aber auch ein solches Lied eine Leichtigkeit, verträumte Verspieltheit, die alles halb so wild erscheinen lassen.
Es folgt der Standard „The Streets of Laredo“, von McAloon verschmolzen mit seinem eigenen „Not long for this World“. Ein interessantes und durchaus geglücktes Experiment. „Love will find Someone for You“ im Anschluss lässt es dann etwas klassischer angehen. Ein kleines Liebeslied, 16 Verse, das reicht.
Die zweite Hälfte des Albums ist erreicht und hier laufen Prefab Sprout wieder zu Hochform auf. Paddy McAloons Talent, gleich mit den ersten Worten einen Song, hier „Cornfield ablaze“, Gewicht zu verleihen, kommt voll zur Geltung:
„I saw you from the tractor the harvest had begun
You were the love child of two gods – I was the farmers akward son“„When You get to know me better“ ist dann wieder so ein Moment, wo es bittersüß wird. Der Herumtreiber aus dem dritten Stück ist wieder zurück und warnt die Auserwählte, wenn sie ihn erst besser kennen würde, würde sie lernen, ihn weniger zu lieben. Eine Beziehung von vornherein zum scheitern verurteilt. Wirklich tragisch wirkt das trotzdem nicht.
Irgendwie passend, dass die Liebe im nun folgenden „The Gunman“ gleich zum Waffenschwinger gemacht wird. Das hatte sich ja schon im Opener des Albums angekündigt, auch wenn die Liebe da noch „nur“ die Silberkugel war.
„Love is a Gunman and no mercy has he
This time his sights are fixed on me“Das kann man als Fatalismus deuten. In der Welt von Prefab Sprout werden solche Feststellungen jedoch rasch relativiert und die Hoffnung trägt eins der schönsten Lieder des Albums, „Blue Roses“, die im Schnee erblühen werden. Wenn das nicht hoffen lässt.
Die Versöhnung ist somit getätigt worden und zum Abschluss des Albums wird dem Hörer akustisch noch einmal zugezwinkert mit dem humorvollen „Farmyard Cat“. Die Reise ist beendet, alle Mann aussteigen. Das 21. Jahrhundert hat uns wieder.
Herausragender Song: Blue Roses
Gesamtwertung: ****--
If I'd lived my life by what others were thinkin', the heart inside me would've died.[/FONT] [/SIZE][/FONT][/COLOR] -
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