Re: Erkundungen – Moontears Favoriten

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moontear

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Richard Thompson „Amnesia“ (1988)


Er sieht ja eigentlich ganz harmlos aus. Mit dem schütteren Haar, dem gut in Zaum gehaltenen Vollbart und den großen blauen Augen wirkt Richard Thompson eher wie ein Oberstudienrat als wie das, was er wirklich ist: Einer der bissigsten und bösesten Songschreiber, die England hervorgebracht hat – dass er auf dem Inner Sleeve von „Amnesia“ die Gitarre mit einer Kettensäge ausgewechselt hat, scheint da nur angemessen.

Thompson gehört bereits seit den 60er Jahren zu den wichtigsten Vertretern des englischen Folks, erst mit Fairport Convention, dann im Duo mit seiner damaligen Frau Linda. Seine Solowerke dürften zwar nicht mehr durchgehend unter dem Folk-Etikett laufen, der musikalischen Qualität tut dies hingegen keinen Abbruch.

So auch „Amnesia“, das nun schon 22 Jahre alt ist und immer noch frisch klingt. Wie so oft legt Thompson beim Opener krachend und scheppernd los. “Turning of the Tide“ zeigt auch gleich auf, wie er das Thema Liebe gerne anpackt:

„Poor little sailor boy, never set eyes on a woman before.
Did he tell you that he’d love you, darling, for ever more?“

“Gypsy Love Songs“ geht inhaltlich in die gleiche Richtung, enttäuschte Gefühle zuhauf, diesmal wird es jedoch mystischer: Eine Hand lesende Zigeunerin, natürlich aus Transsylvanien stammend trifft den siebten Sohn eines siebten Sohnes. Auf so viele Klischees muss man auch erstmal kommen.

„Stillborn love, passionate dreams, pitiful greed and the silver tongues of the tinker girls.
Who throw the book of life at you but don’t know how to read.“

Das dritte Stück, “Reckless Kind“ wirkt nach den beiden Vorgängern wie ein bisschen viel des Guten, zum dritten Mal Bitterkeit und Frust über die zerstörte Liebe: „Parting Ways, loved in vain, never knew you’d be the reckless kind“. Er scheint wirklich ein Talent mit Frauen zu haben…

Anschließend wird es wieder lebhafter. “Jerusalem on the Jukebox“ hat alles, was ein guter Rocksong braucht, könnte allerdings etwas druckvoller gespielt werden. 20 Jahre später hätte Thompson das wohl auch getan.

Die A-Seite wird abgeschlossen mit “I still dream“. Ein wunderbares Stück, das als Erklärung angesehen werden kann, warum Thompsons Alter Ego in seinen Songs trotz diverser Enttäuschungen einfach immer weiter macht. Ganz klar einer der Höhepunkte des Albums.

Der Formel des kraftvollen Beginns treu bleibend läutet “Don’t tempt me“ die B-Seite ein. Unterstützt von wuchtigen Drums und Dudelsack kommt hier statt Verzweiflung und Wehmut der reine Zorn zum Ausdruck:

„That gorilla that you’re dancing with may not have too long to live.
He’s putting his hands in the wrong places, time to rearrange his face.“

Gut möglich, dass dieses lyrische Ich 13 Jahre zuvor in „I’ll regret it all in the morning“ schon einmal aus seinem Leben erzählen durfte.

Noch mehr wird die Zeitlosigkeit von Thompsons Musik beim nächsten Stück deutlich. “Yankee go home“ hätte auch wunderbar auf sein 2007er Werk „Sweet Warrior“ gepasst. Man kann Vermutungen anstellen, ob es in 20 Jahren ebenfalls noch aktuell sein wird. Durchaus möglich.

Weiter geht es und wir kommen zum absoluten Höhepunkt des Albums: “Can’t win“. Ein Song, dessen Intensität einen beim ersten Hören gefangen nimmt, dessen tatsächliche Ausdruckskraft sich aber mit jedem Hören noch ein bisschen mehr erschließt. Für mich eins der besten Stücke, die Richard Thompson je geschrieben hat:

„They told me to think and forget what I’d heard.
They told me to lie and then questioned my word.
They taught me to fail, better sink than sail – just play the game“

Nach all dem Elend, das dem Hörer ausgebreitet wurde, ist man dankbar für ein bisschen Aufmunterung. “Waltzing’s for dreamers“ ist an und für sich schon ein beschauliches kleines Stück Musik. Seine Positionierung in der Songfolge hebt es dann aber noch mal an.

Mit “Pharaoh“ kommt es dann zum würdigen Abschluss. Das Thema des Klassenkampfs ins alte Ägypten übertragen. Neben den Schattenseiten der Liebe ist dies das zweite große Motiv in Thompsons Textkunst, die Leiden der Schwachen und gerne Vergessenen.

Herausragender Song: Can’t win
Gesamtwertung: ****1/2

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If I'd lived my life by what others were thinkin', the heart inside me would've died.[/FONT] [/SIZE][/FONT][/COLOR]