Die "IMHO"-Diskussion – Meinungsstärke contra Zurückhaltung

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  • #6791905  | PERMALINK

    ursa-minor

    Registriert seit: 29.05.2005

    Beiträge: 4,499

    Ich sehe offen gestanden keinen großen Unterschied zwischen der beliebten Sitte, Sterne zu verteilen, und dem sprachlich ausformulierten Urteil.

    Ist es so viel schlimmer, wenn jemand „In Absentia ist einfach nur Mist“ schreibt als wenn jemand „In Absentia *1/2“ schreibt?

    Außerdem finde ich Krautathaus‘ Punkt, dass positive apodiktische Urteile niemanden stören, auch bedenkenswert.

    Wenn es rein um die „Belegbarkeit“ der Aussage/den Wahrheitsgehalt der Aussage geht, ist es kein Unterschied, ob ich

    In Absentia ****
    oder
    In Absentia ist einfach ein Klassealbum

    oder

    In Absentia *1/2
    oder
    In Absentia ist der letzte Dreck

    schreibe: Es sind immer persönliche Meinungen.

    Allerdings stört die Sternevergabe hier keinen Menschen. Warum stören euch dann die ausformulierten Sätze?

    --

    C'mon Granddad!
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    #6791907  | PERMALINK

    herr-rossi
    Moderator
    -

    Registriert seit: 15.05.2005

    Beiträge: 87,241

    @Ursa: *- oder **-Wertungen haben hier auch schon für Unmutsäußerungen und Diskussionen gesorgt. Insgesamt werden die Sterne aber tatsächlich weniger emotional aufgenommen, das stimmt.

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    #6791909  | PERMALINK

    latho
    No pretty face

    Registriert seit: 04.05.2003

    Beiträge: 37,712

    ursa minorSo sehe ich das auch. Hier hat niemand die Weisheit gepachtet, jede Aussage, die hier getroffen wird, ist eine persönliche Meinung. Es sei denn, es wird irgendwie klar gemacht, dass die Aussage allgemeingültiger ist. Aber wenn jemand nur schreibt „Die Band ist ja so was von furchtbar“, dann ist das eine Meinung für mich.
    Es hat wohl mal im englischen Radiohead-Forum Diskussionen über diesen Punkt gegeben. Hinterher wurde jeder angehalten, ein „IMO“ oder „IMHO“ unter (oder vor) alles zu setzen, was er schrieb. Das ist doch nicht praktikabel! Und meiner Meinung nach überflüssig.

    Solange jemand nicht belegen kann, dass der von ihm geschriebene Satz (oder die Sätze) in irgendeiner Form mehr sind als seine Meinung, sehe ich jedes Posting hier als persönliche Meinung an.

    So sehe ich das auch. Wenn ich schreibe, „Toto (um mal ein Beispiel zu nehmen, wo mir die meisten folgen können) ist Mist“ bedeutet das, kann das nur bedeuten „Ich finde Toto Mist“. Jedes mal „Ich finde“ oder SMS-Kauderwelsch „IMHO“ dazu zu schreiben ist doch unnötig.

    --

    If you talk bad about country music, it's like saying bad things about my momma. Them's fightin' words.
    #6791911  | PERMALINK

    mueti

    Registriert seit: 09.11.2007

    Beiträge: 1,047

    Den semantischen Unterschied zwischen den beiden Aussagen gibt es natürlich. Faktisch wird allerdings nichtsdestotrotz in beiden Fällen nicht mehr als die eigene Meinung ausgedrückt, manch einer bevorzugt einfach die offensivere Formulierung. Hundertprozentig ausblenden lässt sich der Bedeutungsunterschied für mich nicht, aber fast gleich lesen sich die Sätze für mich inzwischen dann doch. Ich störe mich nicht dran und bin ziemlich sicher, dass ich aus stilistischen Gründen oder zugunsten der guten alten Provokation auch selbst schon mal eine Meinungsäußerung als Tatsache formuliert habe.

    --

    #6791913  | PERMALINK

    krautathaus

    Registriert seit: 18.09.2004

    Beiträge: 26,166

    MuetiIch störe mich nicht dran und bin ziemlich sicher, dass ich aus stilistischen Gründen oder zugunsten der guten alten Provokation auch selbst schon mal eine Meinungsäußerung als Tatsache formuliert habe.

    Aber nur in Sternen, Mueti. ;-)

    Welcher Philosophie folgt wieder der Denkansatz, daß es keine objektive, sondern nur eine subjektive Realität gibt? Bin da nicht so gebildet.

    --

    “It's much harder to be a liberal than a conservative. Why? Because it is easier to give someone the finger than a helping hand.” — Mike Royko
    #6791915  | PERMALINK

    herr-rossi
    Moderator
    -

    Registriert seit: 15.05.2005

    Beiträge: 87,241

    @Kraut: Konstruktivismus. http://de.wikipedia.org/wiki/Konstruktivismus_(Philosophie)

    (Bin in der Fragestellung aber auch nicht zuhause.)

    --

    #6791917  | PERMALINK

    latho
    No pretty face

    Registriert seit: 04.05.2003

    Beiträge: 37,712

    Herr Rossi@Kraut: Konstruktivismus. http://de.wikipedia.org/wiki/Konstruktivismus_(Philosophie)

    (Bin in der Fragestellung aber auch nicht zuhause.)

    Wenn ich auf den Link klicke, erscheint „Diese Seite existiert nicht“ – sehr passende Erklärung…

    So geht’s.

    --

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    #6791919  | PERMALINK

    herr-rossi
    Moderator
    -

    Registriert seit: 15.05.2005

    Beiträge: 87,241

    Ich hab den Link repariert.

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    #6791921  | PERMALINK

    grandandt

    Registriert seit: 10.10.2007

    Beiträge: 24,622

    lathoWenn ich auf den Link klicke, erscheint „Diese Seite existiert nicht“ – sehr passende Erklärung…

    So geht’s.

    Meint ihr diese philosophische Strömung, deren markantester Vertreter Watzlawick ist?

    „Der K. lehrt, daß wir die Wirklichkeit niemals als das erkennen können, was sie ist; wir können bestenfalls erkennen, was sie nicht ist.“ (auf zur Matrix…;-))

    --

    Je suis Charlie Sometimes it is better to light a flamethrower than curse the darkness. T.P.
    #6791923  | PERMALINK

    herr-rossi
    Moderator
    -

    Registriert seit: 15.05.2005

    Beiträge: 87,241

    grandandtMeint ihr diese philosophische Strömung, deren markantester Vertreter Watzlawick ist?

    Als Philosoph war er wohl weniger markant, aber er hat diese theoretischen Überlegungen für die Psychologie nutzbar gemacht.

    --

    #6791925  | PERMALINK

    cassavetes

    Registriert seit: 09.03.2006

    Beiträge: 5,771

    #6791927  | PERMALINK

    grandandt

    Registriert seit: 10.10.2007

    Beiträge: 24,622

    CassavetesHe was a friend of mine / Every time I think about him now / Lord, I just can’t keep from cryin‘ / ‚Cause he was a friend of mine…

    Schön. Ein typischer Watzlawick!

    @Rossi
    Vielleicht hätte ich „bekannt“ statt „markant“ schreiben sollen.

    --

    Je suis Charlie Sometimes it is better to light a flamethrower than curse the darkness. T.P.
    #6791929  | PERMALINK

    minos

    Registriert seit: 02.06.2008

    Beiträge: 10,745

    Zwischen „ich finde…. Mist“ oder „… ist Mist“ sehe ich schon Unterschiede. Wobei m. E. aber bei letzterem klar differenziert werden sollte, ob sich ein solcher Beitrag auf einen anderen Beitrag bezieht oder nicht.

    Wenn z. B. jemand schreibt, dass er Band XY sehr mag oder Song Z sein Lieblingssong ist und jemand entgegnet „Band XY ist der letzte Mist“ oder „Song Z ist grauenhaft“, könnte man das schon als persönlichen Angriff auffassen. Anders, wenn es allgemein um eine Band geht und jemand schreibt, ohne auf einen bestimmten Beitrag Bezug zu nehmen, „XY ist Mist oder schrecklich“. Auch wenn ich finde, dass man auch in diesem Fall „diplomatischer“ sein könnte und man auf jeden Fall seine Meinung versuchen sollte, zu begründen.

    Noch schlimmer aber finde ich, wenn jemandem „schlechter Geschmack“, „keine Ahnung von (guter) Musik“ o.ä. vorgeworfen wird oder eine Liste favorisierter Bands/Songs als „Liste der Grausamkeiten“ oder ähnlich kommentiert wird. Genau solche Beiträge haben mich einige Zeit davon abgehalten, hier überhaupt was zu schreiben und stellen für mich bis heute eine gewisse Hürde dar, in entsprechende Threads (Top X Künstler/Songs etc.) meine Favoriten zu nennen. Zumal Dylan, N. Young, REM, Led Zeppelin, Costello oder R. Adams nicht zu diesen gehören (als „Mist“ würde ich sie aber nie bezeichnen).

    --

    #6791931  | PERMALINK

    carrot-flower
    Moderator

    Registriert seit: 26.09.2007

    Beiträge: 3,122

    In erkenntnistheoretische Tiefen muss man sich für dieses Problem nun wirklich nicht abseilen. So lange man sich einig ist, dass das Album da ist…:-)

    Auch die Unterscheidung von Geschmacksurteilen und ästhetischen Urteilen wird, so griffig sie grundsätzlich sein mag, ab einem bestimmten (frühen) Punkt nicht mehr funktionieren, wenn es um „Überzeugungsarbeit“ geht. Das persönliche Geschmacksurteil fußt schließlich auch auf Kriterien, die nicht rein subjektiv sind, und noch so gemeißelte ästhetische Kriterien (versiertestes Gegniedel, Erreichen des dreigestrichenen C, anerkannte Verdienste um die Erweiterung des Fuzzfolkbegriffs) werden durch ein simples „Ich mags trotzdem nicht“ unnütz.

    Worum es hier einzig geht, ist die Bereitschaft, seine Neigungen und Abneigungen anhand bestimmter Merkmale zu begründen, mal etwas von seiner Selbstverliebtheit und Päpstlichkeit abzuweichen und sich die Mühe zu machen, anderen seine Urteile transparenter zu machen, auch, wenn man nach 50 Seiten merkt, es ändert nichts am Grundsatzurteil. Der Reiz von solchen Diskussionen kann doch nur darin liegen, mal etwas in die Details zu gehen, zu analysieren, woher die eigenen Urteile kommen. Ob man sich dazu unbedrohlicher Formulierungen bedient oder den Sakrosankten raushängen lässt, ist dabei (IMHO) nur eine Frage der Eitelkeit und der Sozialverträglichkeit.

    --

    the pulse of the snow was the pulse of diamonds and you wear it in your hair like a constellation
    #6791933  | PERMALINK

    kingberzerk

    Registriert seit: 10.03.2008

    Beiträge: 2,217

    kingberzerkVor zwei Jahren gab es einen Kritiker-Streit zwischen Gnostikern und Emphatikern. Das war ein ähnlicher Fall. Die Gnostiker (ästhetisches Urteil) wurden von den Emphatikern (Geschmacksurteil, die mit der heiligen Empfindung als Kriteriumskompass) bezichtigt, nichts zu empfinden.

    Geht jetzt nicht um Musik, sondern um Literatur. Dennoch ein lesenswerter Beitrag aus der SZ vom März 2006.

    Süddeutsche Zeitung, 31.03.2006

    Heute schon geweint?

    Die Sehnsucht nach dem Leben in der Literaturkritik

    Es gibt für einen Dichter schlimmere Vorwürfe als den, ein Maulheld zu sein. Ein bisschen ist das ja einfach seine Profession. Zu vollem Maulheldenformat muss vor kurzem der Schriftsteller Maxim Biller im Literarischen Colloquium Berlin aufgelaufen sein. In der Sendung Studio LCB des Deutschlandfunk diskutierten die Literaturkritiker Hubert Winkels, Ulrich Greiner und Christoph Bartmann mit Volker Weidermann von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung über dessen neues Buch „Lichtjahre. Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute“ (Süddeutsche Zeitung vom 28. März). Da gab es, wie das so ist bei Diskussionsrunden, Einwände und Kritik. Maxim Biller saß derweil als Zuhörer im Publikum. Nach der Sendung, während der Verlag eine kleine Buchpremierenparty gab, schoss Biller, so wird erzählt, aus dem Pulk seiner Freunde hervor und auf Hubert Winkels zu mit den Worten: „Du bist doch ein richtiges Arschloch! Einen Autor mit seinem neuen Buch fertig zu machen! Drei gegen einen. Hinterhältig und feige. Ich will darüber nicht diskutieren! Mit dir nicht!“ Das sind, für eine literarische Veranstaltung, sehr viele Ausrufezeichen. Und vielleicht geht es genau darum: Um die Ausrufezeichen. Ihre Bedeutung, ihr Gewicht und ihren inflationären Gebrauch.

    Hubert Winkels hat in der aktuellen Ausgabe der Zeit den Vorfall noch einmal aufgegriffen. Denn dieser erscheint ihm symptomatisch für eine weiterreichende Auseinandersetzung, in der es keineswegs nur um persönliche Aversionen, sondern um zwei unterschiedliche Formen der literarischen Kritik geht. Winkels spricht geradezu von einer „Spaltung im deutschen Literaturbetrieb“ und unterscheidet zwei Lager: die „Emphatiker“ auf der einen und die „Gnostiker“ auf der anderen Seite. Latent, muss man wohl sagen, schwang diese Unterscheidung immer schon mit. Aber erst durch Volker Weidermanns sehr prononciertes Buch ist eine Diskussion entstanden, in der die Polarisierung nun vom Literaturbetrieb explizit gemacht wird. Das ist gut und spannend, weil damit etwas, was bis dahin nur verdruckst unter der Oberfläche rumorte, nun diskursiv ausgesprochen und ausgetragen wird. Welche Emotionen dadurch abgerufen werden können, das zeigte, die Spaltung musterhaft illustrierend, eben Maxim Billers Ausbruch im LCB: ein Emphatiker in voller Action.

    Eine neue Temperamentenlehre

    Wer sind die Gnostiker, wer sind die Emphatiker? Und was ist damit gemeint? Natürlich sind dies Idealtypen. In der Wirklichkeit geht kein Literaturkritiker ganz in der einen oder der anderen Rolle auf. Die Gnostiker unter den Literaturkritikern nehmen den literarischen Text erst einmal als sprachliches Kunstwerk wahr und unter die Lupe. Sie suchen den literaturgeschichtlichen Kontext und machen die Analyse stark. Zur Analyse gehört ein Verhältnis der Distanz zum Gegenstand. Das kontrollierte und seinerseits überprüfbare Argument steht im Mittelpunkt. Die Emphatiker dagegen lassen sich tragen von der eigenen Begeisterung. So etwas wie „Texte“ sind für sie eine staubtrockene Angelegenheit. Nur wo das Leben selbst sich in den Büchern zu Wort meldet, horchen sie auf. Das ist ihre Sache. Nicht als Anwälte der Literatur verstehen sie sich, sondern als Anwälte des Lebens. Die Emphatiker sind von der eigenen Erregung dauerergriffen. Sie dürsten nach dem Leben. Das Geschäft der Gnostiker weisen sie deshalb als blutarm und lebensfern zurück.

    Die Gnostiker sagen: „Wir brauchen mehr Wissen und Bildung.“ Die Emphatiker sagen: „Wir brauchen mehr Leidenschaft und Temperament.“ Noch einmal: Weder gibt es den Gnostiker noch den Emphatiker in Reinform (auch wenn Elke Heidenreich letzterem schon verdammt nahe kommt). Es sind polemische Begriffe und als solche erkenntnisstiftend. Gleichwohl ist es kein Zufall, dass sich diese Diskussion nun gerade an Volker Weidermanns „Lichtjahren“ entzündet hat. Denn Weidermann treibt darin das Pathos der Emphase so auf die Spitze, als wolle er diese polemische Kategorie leibhaftig verkörpern. Die zentralen Wallungsworte in seinem rasant geschriebenen Buch lauten: Wahrheit, Leben, Liebe und Notwendigkeit (nämlich die zu schreiben). Um näher am Puls dieses Lebens und seiner ungestümen Wahrheit zu sein, spricht Weidermann mehr über die Biografien der Autoren als über ihre Werke. Bis in die Syntax hinein hat er dem Emphatiker einen stilistischen Duktus auf den Leib geschneidert: Hauptsätze, Hauptsätze, Hauptsätze. So mitgerissen und atemlose ist sein Live-Mitschnitt, dass meistens keine Zeit mehr für ein Prädikat bleibt. Ellipsen müssen genügen. Ansonsten: Adjektivreihungen. Jeder Satz ruft: „Hier!“ und „Jetzt!“ Die Urteile: direkt, radikal, ungestellt und verwegen superlativisch wie ein Rennfahrer, der in der Kurve extra noch mal Gas gibt.

    Der Mann, die Waffe, der Hass

    Über Erich Fried heißt es: „Dieser Mann hat die Lyrik zu einem Massenereignis gemacht. Auch Jude. Auch Emigrant. BBC-Reporter, Shakespeare-Übersetzer, politischer Kämpfer, rasender Dichter. Schrieb bis zu zwölf Gedichte am Tag.“ Über Rolf Dieter Brinkmann: „Dieser Mann war eine Waffe. Dieser Mann war der Hass und die Liebe. Diesem Mann war das Leben nicht genug.“ Auch Maxim Biller kommt in Weidermanns Buch vor. Er wird gerühmt als einer, „dem wirklich am Erzählen gelegen ist, an der Welt, an der Wahrheit, am Leben“. Über Billers Geschichte von Onkel Schimschon sagt Weidermann, wer sie gelesen habe und „dabei nicht weinen musste, der hat wahrscheinlich kein Herz und jedenfalls keinen Sinn für schöne Literatur“.

    Jetzt versteht man vielleicht, warum Weidermanns Buch eine solche Diskussion auslösen konnte. Indem er als Emphatiker so unbedingt nichts weniger als „das Leben“ für sich in Anspruch nimmt, bleibt für die Gnostiker gewissermaßen nichts mehr übrig. Oder anders gesagt: Die unmäßig affirmative Verwendung solcher Totalitätsbegriffe wie Wahrheit und Liebe und Leben entfaltet automatisch eine polemische Energie. Die Gnostiker müssen sich verwahren und gegen die allzu glatte Ineinssetzung von wildem Leben und großer Literatur protestieren. „Nein“, müssen sie entgegnen, „wer wie Rainald Götz sich die Stirn aufschlitzt, dessen Literatur ist deshalb nicht notwendig lebenspraller und wahrheitsunmittelbarer, als wer am Schreibtisch sitzt und sich virtuosen Sprachexperimenten hingibt.“

    Das Leben ist eben jedem zu nah, um es von anderen allzu monopolistisch vereinnahmt zu sehen. Vielleicht liegt darin die nie ausgesprochene Provokationskraft ästhetischer Urteile: dass sie zuletzt Aussagen über das richtige Leben sind. Das gilt für beide Seiten, für die Gnostiker nicht weniger als für die Emphatiker. In diesem Sinne könnte man geradezu mit Nietzsche eine Genealogie des ästhetischen Urteils betreiben und fragen: Was meint der Literaturkritiker eigentlich wirklich, wenn er das eine Werk gut und das andere schlecht nennt? Ist am Grunde des Urteils nicht stets ein Wille zur Macht erkennbar, die eben darin besteht, über die Wahrheit des Lebens Aussagen treffen zu dürfen? Woher sonst die Erregungspotentiale?

    Und deswegen spielen – und keiner sieht das genauer als Volker Weidermann und nutzt es mehr – auch Coolheitskriterien im Blick auf die Literatur eine nicht zu unterschätzende Rolle: Weil die Wahrheitsfrage, wie alle letzten Fragen, nachgerade unentscheidbar bleibt, kann man sich ersatzweise nur an die Frage halten: Und wer hat das intensivere Leben? Und wer hat den besseren Sex? Die Emphatiker neigen dazu, so zu schreiben, als hätten sie den besseren Sex. Die Gnostiker werden ihnen das nicht durchgehen lassen. IJOMA MANGOLD

    --

    Tout en haut d'une forteresse, offerte aux vents les plus clairs, totalement soumise au soleil, aveuglée par la lumière et jamais dans les coins d'ombre, j'écoute.
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