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kingberzerkVor zwei Jahren gab es einen Kritiker-Streit zwischen Gnostikern und Emphatikern. Das war ein ähnlicher Fall. Die Gnostiker (ästhetisches Urteil) wurden von den Emphatikern (Geschmacksurteil, die mit der heiligen Empfindung als Kriteriumskompass) bezichtigt, nichts zu empfinden.
Geht jetzt nicht um Musik, sondern um Literatur. Dennoch ein lesenswerter Beitrag aus der SZ vom März 2006.
Süddeutsche Zeitung, 31.03.2006
Heute schon geweint?
Die Sehnsucht nach dem Leben in der Literaturkritik
Es gibt für einen Dichter schlimmere Vorwürfe als den, ein Maulheld zu sein. Ein bisschen ist das ja einfach seine Profession. Zu vollem Maulheldenformat muss vor kurzem der Schriftsteller Maxim Biller im Literarischen Colloquium Berlin aufgelaufen sein. In der Sendung Studio LCB des Deutschlandfunk diskutierten die Literaturkritiker Hubert Winkels, Ulrich Greiner und Christoph Bartmann mit Volker Weidermann von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung über dessen neues Buch „Lichtjahre. Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute“ (Süddeutsche Zeitung vom 28. März). Da gab es, wie das so ist bei Diskussionsrunden, Einwände und Kritik. Maxim Biller saß derweil als Zuhörer im Publikum. Nach der Sendung, während der Verlag eine kleine Buchpremierenparty gab, schoss Biller, so wird erzählt, aus dem Pulk seiner Freunde hervor und auf Hubert Winkels zu mit den Worten: „Du bist doch ein richtiges Arschloch! Einen Autor mit seinem neuen Buch fertig zu machen! Drei gegen einen. Hinterhältig und feige. Ich will darüber nicht diskutieren! Mit dir nicht!“ Das sind, für eine literarische Veranstaltung, sehr viele Ausrufezeichen. Und vielleicht geht es genau darum: Um die Ausrufezeichen. Ihre Bedeutung, ihr Gewicht und ihren inflationären Gebrauch.
Hubert Winkels hat in der aktuellen Ausgabe der Zeit den Vorfall noch einmal aufgegriffen. Denn dieser erscheint ihm symptomatisch für eine weiterreichende Auseinandersetzung, in der es keineswegs nur um persönliche Aversionen, sondern um zwei unterschiedliche Formen der literarischen Kritik geht. Winkels spricht geradezu von einer „Spaltung im deutschen Literaturbetrieb“ und unterscheidet zwei Lager: die „Emphatiker“ auf der einen und die „Gnostiker“ auf der anderen Seite. Latent, muss man wohl sagen, schwang diese Unterscheidung immer schon mit. Aber erst durch Volker Weidermanns sehr prononciertes Buch ist eine Diskussion entstanden, in der die Polarisierung nun vom Literaturbetrieb explizit gemacht wird. Das ist gut und spannend, weil damit etwas, was bis dahin nur verdruckst unter der Oberfläche rumorte, nun diskursiv ausgesprochen und ausgetragen wird. Welche Emotionen dadurch abgerufen werden können, das zeigte, die Spaltung musterhaft illustrierend, eben Maxim Billers Ausbruch im LCB: ein Emphatiker in voller Action.
Eine neue Temperamentenlehre
Wer sind die Gnostiker, wer sind die Emphatiker? Und was ist damit gemeint? Natürlich sind dies Idealtypen. In der Wirklichkeit geht kein Literaturkritiker ganz in der einen oder der anderen Rolle auf. Die Gnostiker unter den Literaturkritikern nehmen den literarischen Text erst einmal als sprachliches Kunstwerk wahr und unter die Lupe. Sie suchen den literaturgeschichtlichen Kontext und machen die Analyse stark. Zur Analyse gehört ein Verhältnis der Distanz zum Gegenstand. Das kontrollierte und seinerseits überprüfbare Argument steht im Mittelpunkt. Die Emphatiker dagegen lassen sich tragen von der eigenen Begeisterung. So etwas wie „Texte“ sind für sie eine staubtrockene Angelegenheit. Nur wo das Leben selbst sich in den Büchern zu Wort meldet, horchen sie auf. Das ist ihre Sache. Nicht als Anwälte der Literatur verstehen sie sich, sondern als Anwälte des Lebens. Die Emphatiker sind von der eigenen Erregung dauerergriffen. Sie dürsten nach dem Leben. Das Geschäft der Gnostiker weisen sie deshalb als blutarm und lebensfern zurück.
Die Gnostiker sagen: „Wir brauchen mehr Wissen und Bildung.“ Die Emphatiker sagen: „Wir brauchen mehr Leidenschaft und Temperament.“ Noch einmal: Weder gibt es den Gnostiker noch den Emphatiker in Reinform (auch wenn Elke Heidenreich letzterem schon verdammt nahe kommt). Es sind polemische Begriffe und als solche erkenntnisstiftend. Gleichwohl ist es kein Zufall, dass sich diese Diskussion nun gerade an Volker Weidermanns „Lichtjahren“ entzündet hat. Denn Weidermann treibt darin das Pathos der Emphase so auf die Spitze, als wolle er diese polemische Kategorie leibhaftig verkörpern. Die zentralen Wallungsworte in seinem rasant geschriebenen Buch lauten: Wahrheit, Leben, Liebe und Notwendigkeit (nämlich die zu schreiben). Um näher am Puls dieses Lebens und seiner ungestümen Wahrheit zu sein, spricht Weidermann mehr über die Biografien der Autoren als über ihre Werke. Bis in die Syntax hinein hat er dem Emphatiker einen stilistischen Duktus auf den Leib geschneidert: Hauptsätze, Hauptsätze, Hauptsätze. So mitgerissen und atemlose ist sein Live-Mitschnitt, dass meistens keine Zeit mehr für ein Prädikat bleibt. Ellipsen müssen genügen. Ansonsten: Adjektivreihungen. Jeder Satz ruft: „Hier!“ und „Jetzt!“ Die Urteile: direkt, radikal, ungestellt und verwegen superlativisch wie ein Rennfahrer, der in der Kurve extra noch mal Gas gibt.
Der Mann, die Waffe, der Hass
Über Erich Fried heißt es: „Dieser Mann hat die Lyrik zu einem Massenereignis gemacht. Auch Jude. Auch Emigrant. BBC-Reporter, Shakespeare-Übersetzer, politischer Kämpfer, rasender Dichter. Schrieb bis zu zwölf Gedichte am Tag.“ Über Rolf Dieter Brinkmann: „Dieser Mann war eine Waffe. Dieser Mann war der Hass und die Liebe. Diesem Mann war das Leben nicht genug.“ Auch Maxim Biller kommt in Weidermanns Buch vor. Er wird gerühmt als einer, „dem wirklich am Erzählen gelegen ist, an der Welt, an der Wahrheit, am Leben“. Über Billers Geschichte von Onkel Schimschon sagt Weidermann, wer sie gelesen habe und „dabei nicht weinen musste, der hat wahrscheinlich kein Herz und jedenfalls keinen Sinn für schöne Literatur“.
Jetzt versteht man vielleicht, warum Weidermanns Buch eine solche Diskussion auslösen konnte. Indem er als Emphatiker so unbedingt nichts weniger als „das Leben“ für sich in Anspruch nimmt, bleibt für die Gnostiker gewissermaßen nichts mehr übrig. Oder anders gesagt: Die unmäßig affirmative Verwendung solcher Totalitätsbegriffe wie Wahrheit und Liebe und Leben entfaltet automatisch eine polemische Energie. Die Gnostiker müssen sich verwahren und gegen die allzu glatte Ineinssetzung von wildem Leben und großer Literatur protestieren. „Nein“, müssen sie entgegnen, „wer wie Rainald Götz sich die Stirn aufschlitzt, dessen Literatur ist deshalb nicht notwendig lebenspraller und wahrheitsunmittelbarer, als wer am Schreibtisch sitzt und sich virtuosen Sprachexperimenten hingibt.“
Das Leben ist eben jedem zu nah, um es von anderen allzu monopolistisch vereinnahmt zu sehen. Vielleicht liegt darin die nie ausgesprochene Provokationskraft ästhetischer Urteile: dass sie zuletzt Aussagen über das richtige Leben sind. Das gilt für beide Seiten, für die Gnostiker nicht weniger als für die Emphatiker. In diesem Sinne könnte man geradezu mit Nietzsche eine Genealogie des ästhetischen Urteils betreiben und fragen: Was meint der Literaturkritiker eigentlich wirklich, wenn er das eine Werk gut und das andere schlecht nennt? Ist am Grunde des Urteils nicht stets ein Wille zur Macht erkennbar, die eben darin besteht, über die Wahrheit des Lebens Aussagen treffen zu dürfen? Woher sonst die Erregungspotentiale?
Und deswegen spielen – und keiner sieht das genauer als Volker Weidermann und nutzt es mehr – auch Coolheitskriterien im Blick auf die Literatur eine nicht zu unterschätzende Rolle: Weil die Wahrheitsfrage, wie alle letzten Fragen, nachgerade unentscheidbar bleibt, kann man sich ersatzweise nur an die Frage halten: Und wer hat das intensivere Leben? Und wer hat den besseren Sex? Die Emphatiker neigen dazu, so zu schreiben, als hätten sie den besseren Sex. Die Gnostiker werden ihnen das nicht durchgehen lassen. IJOMA MANGOLD
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Tout en haut d'une forteresse, offerte aux vents les plus clairs, totalement soumise au soleil, aveuglée par la lumière et jamais dans les coins d'ombre, j'écoute.