Antwort auf: Kulturelle Aneignung, Identitätspolitik, Wokeism, PC & Cancel Culture

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nicht_vom_forum

plattensammlerDas ist ein ganz vernünftiger Debattenbeitrag, der auf Denkfehler von Thierse (u.v.a.m.) hinweißt, der ja denkt, er spricht sich gegen Identitätspolitik aus, gegen „Cancel Culture“, aber selbst genau das macht: Identitätspolitik und „Cancel Culture“. Seine Idendität ist nämlich „der Normale“ und er und die anderen Normalen wollen zum Beispiel keine Gendersternchen. Das wollen die anderen – dass müssen dann ja im Thierse’schen Denken die Nicht-Normalen sein – die sollen damit aber mal aufhören, weil keiner von den Normalen das haben will. Er will also die Gendersternchen canceln.

Thierse schreibt doch mit keinem Wort, dass irgendjemand beispielsweise mit den „Gendersternchen“ aufhören soll. Er weist darauf hin, dass es Leute gibt, die sie nicht benutzen (wollen) und dass es ein Fehler ist, diese Leute (voreilig) aus der Debatte auszuschließen.

Der Beitrag zeigt, das es gar keine Nicht-Identitätspolitik gibt. Das ist nur eine neue Vokabel für altbekanntes,

Wenn Du dieses Fass aufmachen möchtest, dann ist Identitätspolitik höchstens eine neue Vokabel für Rassismus und Sexismus.

früher hieß das Interessenpolitik. Es gab schon immer die unterschiedlichsten gesellschaften Gruppen mit ihren jeweils unterschiedlichen Interessen, die sie gegen die anderen Gruppen durchsetzen müssen.

Der Unterschied von Interessenpolitik zu Identity Politics ist, dass jemand seine Interessen ändern kann – und das gemeinhin auch tut. Niemand hat mit 20, 40 oder 60 dieselben Interessen. Im Gegensatz dazu führt Identity Politics im Grunde wieder biologistische Kategorien ein, aus denen niemand raus bzw. in die niemand reinkommt. Ich kann tun und lassen, was ich will, mich anstrengen, weiterbilden, mein gesamtes Geld verschenken: Die Möglichkeit, Frau oder PoC zu werden, bleibt mir verschlossen. Damit ist das Fass, dass sich die Herkunkft und Lebensverhältnisse von Frau von der Leyen und einer Leverkusener Putzfrau nur schlecht mit der gemeinsamen Identität „deutsche Frau“ fassen lassen oder dass nicht alle Frauen mit gleicher Position die gleichen Haltungen und Interessen haben, noch gar nicht geöffnet.

Und dabei geht es immer um Macht und Previlegien, wie das heute heißt, früher hieß das Ressourcen. Die einen haben weniger davon und wollen mehr haben, was bedeutet, dass die anderen etwas von ihren abgeben müssen, das machen die aber nicht freiwillig, die wollen ihre behalten (Hier im Beispiel Thierse, der will als Normaler den Nicht-Normalen nix abgeben).

Das Thema „haben und abgeben“ stand doch weder in dem FAZ-Artikel noch in dem Deutschlandfunk-Interview überhaupt zur Debatte. Das hat doch mit der aktuellen Thierse-Diskussion überhaupt nichts zu tun. Und inhaltlich: Wieso überhaupt sollte man jemand nur aufgrund seiner „Identität“ irgendwas abgeben? Entweder jemand ist bedürftig, dann hat er Anspruch auf Förderung, oder nicht. Mag ja sein, dass Cem Özdemir es bei gleichem politischen Talent als „Biodeutscher“ zum Ministerpräsident oder Kanzler geschafft hätte, und er wegen seiner Herkunft „nur“ Bundesvorsitzender der Grünen wurde, aber identitätsbasierte „Förderung“ ist ab einem gewissen erreichten Niveau für Einzelne wirklich nicht mehr realisierbar.

Daher gibt es immer gesellschaftliche Konflikte. Der klassische Konflikt (für die Linken) war immer der zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Die Gesellschaft differenziert sich aber immer weiter aus, deswegen entstehen immer mehr unterschiedliche Gruppen. Entsprechend gibt es mehr Konflikte. Und diese Interessenkonflikte heißen heute halt Identitätspolitik.

Man könnte natürlich auch ganz anders argumentieren: Die gesellschaftliche Differenzierung wird nach dem Grundsatz „Teile und herrsche“ von gewissen Gruppen immer weiter vorangetrieben, damit die vereinzelten und getrennten Gruppen sich nicht zusammenschließen und so erreichen, dass sich die Lebensverhältnisse für (fast) alle auf Kosten dieser kleinen Gruppen verbessern. Und gerade bei aus den USA übernommenen Konzepten, darf man auch nicht vergessen, dass es dort überhaupt keine wirtschaftlich linke Strömung gibt, sondern nur unterschiedliche Spielarten von Liberalismus.

In Deiner „Argumentation“ liegen verschiedene Denkfehler und Verquerungen vor.
 

Nun ist Interessenpolitik in einer parlamentarischen Demokratie ja nicht nur nichts Schlimmes, sondern ihr geradezu wesentlich. Nicht nur die Autolobby betreibt sie, auch Klimaschutzengagierte, Migrantinnen und Migranten, Religionsgemeinschaften, Gewerkschaften, Berufsverbände – fast alles politische Einzelinteressen.

Aber nur die als „identitätspolitisch“ geschmähte Interessenvertretung wird laut beklagt und sogar unter Verdacht gestellt, angeblich Wichtigeres zu verdunkeln: die Lohn- und Rentenlücke zwischen Männern und Frauen, die miesen Chancen von Blinden oder Rollstuhlfahrerinnen auf Arbeits- und von Afrodeutschen auf Wohnungssuche.

Es sind nicht die Minderheiten, die sich hinter Identitäten verschanzen. Es ist der Blick von außen, der sie dort einsortiert. Und der sie geradezu zwingt, sich gegen eine Diskriminierung gemeinsam zu wehren, die sie gemeinsam trifft.

Es kann einer noch so egal sein, ob sie sich als türkeistämmig fühlt, ob sie ihrer Hautfarbe, der Struktur ihres Haars irgendeine mehr als persönliche Bedeutung beimisst oder nicht, ob so etwas wie “schwarz” überhaupt wirklich existiert, ob einer religiös ist oder nur dafür gehalten wird: Entscheidend ist, wegen des einen oder andern keine Wohnung zu bekommen, am Flughafen aus der Schlange gewinkt und besonders gründlich kontrolliert zu werden oder deswegen keine Einladung zum Vorstellungsgespräch zu bekommen, trotz bester Qualifikation. „Wer als Jude angegriffen wird, muss sich als Jude verteidigen“, schrieb Hannah Arendt.

Nähmen die, die „Identitätspolitik“ rufen wie „Haltet den Dieb!“, sich selbst ernst, müssten sie auch die Frauenbewegung ihrem Verdikt unterwerfen. Wie kamen die Frauen bloß auf die Idee, sich über so etwas wie das Geschlecht zu definieren?

Gespalten ist ein Gemeinwesen, das hinnimmt, dass alle gleich, aber ganze Gruppen weniger gleich sind als andere, womöglich sobald sie die Wohnung verlassen. „Identitätspolitik“ ist nicht nur normale Interessenpolitik – für das Gemeingut Bürgerrechte wohlgemerkt. Sie ist Arbeit am sozialen Frieden.

 

https://www.tagesspiegel.de/meinung/neues-unwort-ein-hoch-auf-die-identitaetspolitik/26985732.html

 

 

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