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Lena – My Cassette Player (2010)
Es ist eine Binsenweisheit, dass die Hervorbringungen gecasteter Pop-Starlets in aller Regel eine minimale Halbwertszeit besitzen. Findet sich ein solches Erzeugnis zufällig einmal in der Sammlung eines Musik-Aficionados, zumal eines schreibenden, ist dies nicht selten Anlass für einen halb amüsierten, halb verschämten Bericht unter dem Motto: Wie ich einmal meinen Musikverstand verlor. Im besten Fall wird es als guilty pleasure verbucht, welches man mit selbstironisch durchwirktem Halb- bis Dreiviertelengagement gegen den Spott der Umwelt verteidigt. Dass meine Haltung zu Lena von diesem Muster abweicht, ist freilich nicht weniger bekannt als die angeführte Binsenweisheit. Inwiefern das auch für ihr Debütalbum gilt, soll Gegenstand dieses Beitrags sein.
Als ich Ende Juni 2010 das vorliegende Album erwarb, gab ich damit einem über knapp vier Wochen gewachsenen inneren Drang nach, der nach den mit zunehmender Neugier und Begeisterung zu meiner Kenntnis gelangten Fernsehauftritten Lenas nach mehr verlangte. Dieser Kaufakt kam von allem, was ich je in Zusammenhang mit Lena unternahm, am ehesten einem guilty pleasure nahe, und das kam so: Ich hatte mir nämlich aufgrund des gebotenen Mehrwerts und des günstigen Preises vorgenommen, die „Tchibo Edition“ zu kaufen, die mit einer Bonus-DVD aufwartete und 14,90 Euro kostete. Somit war ich auf ein Tchibo-Geschäft verwiesen, wo ich von der halbseiden-freundlichen Verkäuferin mit den laut herausgeflöteten Worten beschieden wurde: „Einmal Lena Unser Star für Oslo für den Herrn bitteschön!“ Unter diesem Eindruck, der die nicht mehr ganz Jungen unter uns an einen bestimmten TV-Werbespot der achtziger Jahre mit einem fahrradhelmbewehrten Ingolf Lück und einer weißbekittelten Hella von Sinnen erinnern wird (oder irre ich mich in der Besetzung?), war ich bereit, die erworbene CD ohne jegliche Erwartungshaltung anzuhören. Letztendlich fand ich, dass rund die Hälfte der Tracks wirklich gut und somit die häufig anzutreffende, kühl kalkulierte Praxis, ein Popalbum mit zwei bis drei (wenn’s hoch kommt) potentiellen Singlehits und die Restlaufzeit komplettierendem, musikalisch irrelevantem Füllmaterial zu bestücken, bei weitem übertroffen war.
Diese Wahrnehmung hatte jedoch nicht lange Bestand. Heute ist My Cassette Player für mich ein Album, mit dem ein Tag nicht fehlgehen kann, so ich es am Morgen höre, und mit dem ein Tag gerettet ist, spiele ich es am Abend. Die Tracks, die vor drei Jahren noch nicht mein Gefallen fanden, haben in der Zwischenzeit ein damals noch unentdecktes Potential entfaltet, während die schon seinerzeit mit großem Genuss gehörten Hits ihren Stand gefestigt haben. Hören wir sie im einzelnen durch.
Satellite, der Ohrwurm des Jahres 2010. Vom Playback her betrachtet äußerst simpel gestrickt, ist die Komposition bereits nicht ohne; Lenas Gesang allerdings ist fantastisch. Versprach Ian Dury mit „Hit Me With Your Rhythm Stick“ eine musikalische Impression, die er selbst mit diesem Song nicht ganz erfüllen konnte, gelingt das Lena mit „Satellite“ grandios. Wie eine Eispeitsche knallt ihr Like a satellite aus dem Refrain im Gehörgang, und auch im Ganzen bürstet sie den Text ganz gegen seinen Wortsinn, indem sie das Schmachten und Sehnen in einen eisigen Vorwurf ummodelt. Großes Kino!
My Cassette Player, der Titelsong. Vor drei Jahren für mich einer der irrelevantesten Tracks, ist er auch heute noch ziemlich unspektakulär, aber in seiner von Sweetness geprägten Entspanntheit überaus angenehm zu hören. Der Text ist freilich sehr naiv, nah an der Grenze zur Dämlichkeit, die aber nicht überschritten wird.
Not Following, die Perle. Einige Lenafans verzweifeln bis heute daran, dass diese Ellie-Goulding-Komposition nicht als Single ausgekoppelt wurde. Warum?! Ein kühler Offbeat, der stark an Tryo erinnert, ein sehr schön eingesetztes Glockenspiel, das für Lenas Musik ein wenig zu einem Markenzeichen avanciert ist, und Kastagnetten als rhythmisch verstärkendes Element prägen diesen Song, der bei großer Hitze Kühlung verschafft. Lena singt defensiv, ein wenig klagend, sie gibt die ertappte Stalkerin, die sich nichts anhängen lassen will. Cool und sophisticated.
I Like to Bang My Head: Plastik pur, der Text reiner Nonsense, vor drei Jahren die Nervensäge des Albums. Aber Lenas Stimme flutet das Lied mit Östrogenen, diesem Sirenengesang ist nicht zu entkommen. Erinnert mich an Tomacco: schmeckt scheiße, gib mir mehr davon.
My Same, das Lied, mit dem alles begann. Hier in einer sehr jazzigen Version, die mich 2010 durch ihre Zurückgenommenheit im Vergleich zur temperamentvolleren USFO-Fassung enttäuschte, inzwischen aber durch Lenas außerordentlich subtilen Gesangsvortrag überzeugt. Perfekte Überleitung von dem Dings davor hin zu etwas ganz und gar Süßem.
Caterpillar in the Rain. Seufz! Wundersüß! Obwohl schwerst kitschverdächtig, ist dieses Lied, das ebenfalls ziemlich jazzig daherkommt, ohne Fehl und Tadel. Warum? Man rate. Lena natürlich! Ihr damaliges Unschuldsimage findet hier seine absolute Vollendung. Engelsgleich. Und wie sie „Kaiterpillar“ singt – zum Piepen!
Love Me, der verschmähte Favorit des USFO-Finales. Belegte in seiner ersten Chartswoche Platz 3 und wurde so völlig zu Recht zu Lenas zweitem großen Hit. Lena singt ihn mit viel Biss, Bass und Drums haben erfreulich viel Druck, und die Gitarre erzeugt einen Hauch von New-Wave-Feeling. Sehr cool!
Touch a New Day, vor drei Jahren für mich der etwas unterbelichtete Eiscreme-Song, hat ganz klar an Format gewonnen. Wirklich zum Staunen, wie dieses eigentlich vollkommen harmlose Liedchen sich festsetzt. Des Rätsels Lösung: es ist in sich vollkommen stimmig, alles daran passt. Einfach schön.
Bee, der dritte Top-5-Hit des Albums, Platz 4 in den Singlecharts. „I feel like a little kid again / No worries for me to understand / Fall in love each night and then / Wakin up with a feelin that I can’t describe / I love this life it just gets better“ – Lifts your spirits!
You Can’t Stop Me, der Song zur Opel-Werbung. (In der Tiefgarage des Hauses, in dem ich wohne, steht ein Opel Corsa Satellite.) Typischer Raab-Pseudo-Funk, tut aber nicht weh. Und wie geil ist das denn: „You do appreciate my attitude / So you will never let me down“. Programmatisches Selbstbewusstsein à la Lena – das gefällt!
Mr. Curiosity. Im USFO-Halbfinale raste das Publikum nach der Liveaufführung und schwamm in Tränen. Die Albumversion vermag nicht so zu überzeugen, ist auch nicht so besonders gesungen. Relativ zu seinem Potential ist dieser Track wohl die größte Enttäuschung des Albums. Im Unterschied zu 2010 skippe ich ihn aber nicht; zum Anhören ist er gut genug.
I Just Want Your Kiss. Während der diesjährigen Tournee endlich live gespielt, ist dieser Song ein hübscher und wohlgelungener Amy-Winehouse-Abklatsch der besseren Sorte, sehr mädchenhaft gesungen, aber nicht ohne Biss. Hat was.
Wonderful Dreaming – zum Abschluss noch mal was Leichtes, Jazziges. Zum Einschlafen allerbestens geeignet, und das ist weder Ironie noch Spott; am folgenden Morgen wird man dankbar sein, dass es dieses Lied gibt.
Die Produktion dieses Debütalbums ist unzweifelhaft mittelmäßig, die Lenas Gesang begleitende Musik im wesentlichen synthetisch erzeugt. Doch ebenso wie ein perfekt geschnittener Kunstfaser-Anzug durchaus einen hervorragenden Eindruck machen kann, so kann auch ein schnell produziertes Popalbum aus dem Hause Raab über Jahre hinweg dem Hörer viel Freude bereiten. Der Hauptgrund dafür ist freilich Lenas Stimme. Um dies zu verdeutlichen, sowie um zu zeigen, warum Lena nicht unter die eingangs genannte Kategorie fällt, soll das letzte Wort dazu einem wahrhaft Berufenen gehören:
Tracklist:
1 Satellite 2:55
2 My Cassette Player 3:35
3 Not Following 3:36
4 I Like to Bang My Head 3:23
5 My Same 3:02
6 Caterpillar in the Rain 3:42
7 Love Me 2:59
8 Touch a New Day 3:08
9 Bee 3:00
10 You Can’t Stop Me 2:54
11 Mr. Curiosity 3:41
12 I Just Want Your Kiss 3:05
13 Wonderful Dreaming 3:32
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=