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hal-croves
אור

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The Who By Numbers (1975)

Mitte der siebziger Jahre gehörte The Who zusammen mit den Rolling Stones und den Überbleibseln der Beatles zu einer ganz kleinen Handvoll von Granden der Rockmusik, die bereits seit über einem Jahrzehnt aktiv waren und dabei weltweiten Ruhm sowie Multimillionen-Erlöse erzielt und große Stadien gefüllt hatten. Dieses Phänomen, das heute längst nichts Außergewöhnliches mehr darstellt, war seinerzeit ganz neu und stellte seinen Protagonisten die charakterliche Gretchenfrage, für deren Beantwortung kaum gefestigte Erfahrungswerte zur Verfügung standen, zumal viele Rockstars sich bereits in jungen Jahren mittels Drogen ums Leben gebracht hatten. „Touring can make you crazy“ heißt es in Frank Zappas Film 200 Motels, und so ähnlich erging es Pete Townshend, einem der empfindsamsten Gemüter seines Metiers. Rückblickend darf man heute froh und dankbar sein, dass er noch lebt und leidlich gesund ist, stand er doch damals kurz davor, sich buchstäblich totzusaufen. Doch im Unterschied zu vielen anderen Pop- und Rockstars, die in diesem Zustand nur noch bemitleidenswerten Ausschuss produzierten, schuf er mit The Who das berührendste und ehrlichste Rockalbum, das ich kenne: The Who By Numbers.

Kompositorisch ist es nicht der ganz große Wurf, es beinhaltet weder diffizile Pretiosen noch spektakuläre Singlehits; auch kolossale Kracher wie das 1971er Songmonument „Won’t Get Fooled Again“ sind nicht dabei. Dafür befreite es aber The Who von den etwas prätentiösen Schlacken, die die Band mit Tommy und Quadrophenia angesammelt hatte, und gab mit seiner Aufrichtigkeit und Geradlinigkeit der entstehenden UK-Punkszene allen Grund, diesen Rockdinosauriern mit größtem Respekt zu begegnen, was z.B. die Sex Pistols mit ihrer Coverversion von „Substitute“ dokumentierten. Und es präsentierte dem Publikum einen neuen Star: John Entwistle nämlich, der mit seinen ebenso präzisen wie schwindelerregend schnellen und in ihrer enormen Dynamik mitreißenden Bassläufen dem Gruppensound eine neue Qualität verlieh, die in dieser Präsenz zuvor nicht vorhanden war.

Das Album legt munter los mit dem grimmig-sarkastischen „Slip Kid“, einem zwar simplen, aber gehörig aggressiv eingespielten Hand Clapper, dessen Text von der Alltagsmühle handelt, in die ein erfolgreicher Künstler genauso geworfen ist wie jedes menschliche Zahnrad der kapitalistischen Gesellschaft. „However Much I Booze“, der zweite Track, ist für mich bereits der Höhepunkt des Albums: ein ebenso maßlos schönes wie zum Weinen trauriges Lied über einen von Selbsthass und Zorn zerfressenen Künstler, der seine multiple Frustration in Unmengen Brandy ersäuft; mich hat dieser Song seit dem ersten Hören immer ganz nah ans Wasser gebracht. „Squeeze Box“ ist dazu ein krasser Kontrast: ein nahezu naiv-fröhlicher Song über Mama, die Tag und Nacht die Quetschkommode spielt und Papa damit um den Schlaf bringt. Es geht weiter mit „Dreaming From the Waist“, einem wild drängenden Rocksong über dieses Gefühl, dass du gleich platzt vor lauter Adrenalin und Ruhelosigkeit, und das dich davon träumen lässt, endlich die Kontrolle wiederzuerlangen und Seelenfrieden zu haben.

Aber genug der Topfguckerei. Dieses Album verlangt danach, individuell entdeckt und gespürt zu werden. Das kann man weder beschreiben noch vorwegnehmen.

Tracklist:
1 Slip Kid 4:30
2 However Much I Booze 5:05
3 Squeeze Box 2:41
4 Dreaming From the Waist 4:09
5 Imagine a Man 4:07
6 Success Story 3:21
7 They Are All in Love 3:00
8 Blue Red and Grey 2:48
9 How Many Friends 4:06
10 In a Hand or a Face 3:25

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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=