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hal-croves
אור

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The Don Ellis Orchestra – Electric Bath (1967)

Dies ist der Rolls-Royce Phantom IV unter den Pop/Jazz-Platten: purer Luxus, pure Eleganz, reine Herrlichkeit. Wie bei exklusiven Autos fängt das schon bei der Ausstattung an: Eine 21-köpfige Big Band hat dieses wahrhaft majestätische Album eingespielt, aber im Unterschied zu den Big Bands der Swing-Ära wirbelt die Musik mit einer unerhörten Dynamik und Leichtigkeit daher und wird gleichzeitig von einem ebenso präzisen wie wütenden Trommelfeuer einer ganzen Batterie von gleich vier Schlagwerkern vorangetrieben. Der Leiter, Don Ellis, wirkt selbst als einer von fünf Trompetern mit, dazu kommen drei Posaunisten, fünf Flötisten/Saxophonisten, ein Pianist/Keyboarder und drei Bassisten. Henry Mancini schrieb als Geleitwort in die Liner Notes: „My rock-oriented, teen-age son, Chris, and I have both flipped out over Don Ellis‘ new band. Anyone that can reach these two opposite poles at once must be reckoned with and listened to.“

Hinzu tritt die ungeheure Komplexität von Ellis‘ Musik, die aber auf geradezu wundersame Weise mit bezwingender Eingängigkeit zusammentrifft. Drei Jahre zuvor hatte er ein Studium der Musikethnologie an der University of California, Los Angeles (UCLA) begonnen, wo er den indischen Musiker Harihar Rao kennen lernte. Dessen Einflüssen folgend, experimentierte Ellis mit ungeraden Metren in der westlichen Musik, was erstmals 1966 auf seinem Livealbum Live In 3 2/3 /4 Time zutage trat (das ist hier kaum korrekt darstellbar, also noch mal in Worten ins Deutsche übersetzt: Live im Dreizweidrittel/Viertel-Takt – was aufgelöst einem 11/12-Takt entsprechen würde). Doch so ehrfurchtgebietend die revolutionäre musikalische Substanz dieses Werkes auch ist – es lässt sich ganz ohne musiktheoretisches Wissen vollumfänglich genießen, sofern ein gewisses Maß an Hörbereitschaft und Musikalität vorhanden ist.

Und wie leicht Ellis es den Hörern macht! Electric Bath beginnt mit „Indian Lady“, einem prachtvollen Uptempo-Stück, das Cineasten zwangsläufig sofort an das Werk Henry Mancinis erinnert. „Alone“ lässt es ruhiger angehen, lässt den Hörer sanft über eine sonnenbeschienene Landschaft schweben, auf einem golddurchwirkten orientalischen Teppich, der auch der schlankesten Shisha sicheren Halt gibt. „Turkish Bath“ beginnt mit einem betörenden Sitar-Einsatz und legt dann mit der wunderbarsten und herrlichsten Kakophonie der Musikgeschichte los: Man beiße in die saftigste Zitrone der Welt – man wird doch nicht die köstliche Verwirrung der Sinne erleben, die diese jubilierende Katzenmusik aus zwei Sopransaxophonen und einer Klarinette hervorruft. Daraufhin allerdings swingt das Stück dermaßen befreit los, dass man tanzen muss, tanzen, tanzen, immerfort tanzen. „Open Beauty“ verschafft einem nach so viel Bewegung wieder Ruhe, Stille und Kontemplation, bevor „New Horizons“ noch einmal ganz aus dem Vollen schöpft, weit ausschweift über Pop, Jazz und Klassik hinweg, ein ganzes Filmfestival im Denkgehäuse des Hörers entwirft und schließlich in einem donnernden, vollständig erschöpfenden Finale endet. Zigarette, Schatz?

Tracklist:
1 Indian Lady 8:07
2 Alone 5:32
3 Turkish Bath 10:29
4 Open Beauty 8:27
5 New Horizons 12:21

*****

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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=